# taz.de -- Atelier im Fokus einer Ausstellung: Wer steht da eigentlich im Atel… | |
> Hierarchiefreies Nebeneinander ohne Vorwarnung: Die Whitechapel Gallery | |
> in London stellt das Atelier als Ort der Kunstproduktion vor. | |
Bild: Das Atelier als großes Spielfeld, London | |
Da steht er, der Künstler, und kann nicht anders. Steht da barfuß im | |
gestreiften Seidenpyjama, Kippe im Mundwinkel, inmitten seiner | |
geschmackvollen Mid- Century-Behausung (Tropenholz und Kaminwand, | |
Kunstbuchstapel, skandinavische Stuhlklassiker, japanisch inspiriertes | |
Mini-Gärtchen), und schüttet buchstäblich ein Bild aus dem Ärmel. Der Boden | |
ist mit Zeitungen ausgekleidet, darauf platziert allerlei Becher und | |
Schalen mit leuchtenden Farben, die jetzt auf ihren Einsatz warten. | |
Gerade hat sich unser Protagonist für ein Gelb entschieden, das er den | |
lässigen Schüttungen aus Blau, Orange, Grün, Rot an die Seite stellen | |
möchte. Spätestens an diesem Detail kippt die vorgebliche Dynamik: Die | |
Farbe, die da aus ihrem Becher zielsicher gen Leinwand steuert, ist zu | |
Gelee erstarrt; das Bild des schaffenden Kreativen für immer eingefroren in | |
einem lebensgroßen Leuchtkasten. | |
„The gifted amateur“ hat der kanadische Künstler Rodney Graham seine Arbeit | |
genannt, die so einiges über landläufige Vorstellungen und auch | |
tatsächliche Umstände vom Künstlerdasein verrät – und zwar dergestalt, wie | |
der hier auftretende „begabte Amateur“ jene in seiner wohlkuratierten | |
Freizeit reproduziert (weshalb das generische Maskulinum an dieser Stelle | |
auch genau treffend ist). | |
Bewundern kann man Grahams gut betuchten Amateur aktuell in der Londoner | |
Whitechapel Gallery, die mit „A Century of The Artist’s Studio: 1920–2020… | |
einen umfangreichen wie spaßigen Rundgang durch die Geschichte des | |
Künstler:innen-Ateliers präsentiert. Ein Jahrhundert umspannend, in dem der | |
Künstlertypus fester Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft wurde – und | |
seinem hierin zugewiesenen Platz auch immer wieder zu entkommen suchte. | |
Fakten und Fiktion vermengen sich dabei unweigerlich, doch gerade die | |
erfundenen Geschichten und Inszenierungen können aufschlussreich sein. | |
## Universelles Ausstellungsthema | |
Das im Titel anklingende Studio respektive Atelier erweist sich als wahre | |
Schatzgrube: Weil die Arbeitsumgebung ultimativ alle Künstlerinnen und | |
Künstler betrifft, also eines jener raren universellen Ausstellungsthemen | |
unserer Zeit noch sein kann, dessen individuelle Ausgestaltung aber | |
wiederum enorm verschieden ausfällt. So läuft man durch 100 Jahre | |
Ateliergeschichte, begegnet dem Studio als Bühne und Labor, Fabrikloft oder | |
heimischer Küchentisch, Bild, Mythos und realem Arbeitsumfeld. | |
Natürlich gibt es die großen Klassiker der jüngeren Kunstgeschichte zu | |
sehen – das Grau in Grau, aus dem sich Alberto Giacomettis Atelier auf der | |
Leinwand herausschält, Archivfotografien aus den Studios von [1][Pablo | |
Picasso] und [2][Frida Kahlo], Warhols Factory fehlt ebenfalls nicht. Aber | |
auch: [3][Martha Rosler, die mit ihren „Semiotics of the | |
Kitchen“-Videoarbeiten Mitte der 1970er Jahre ironisch die hausfraulichen | |
Alltagsbegleiter auf ihre künstlerischen Qualitäten untersuchte.] | |
Die ägyptische Malerin und Aktivistin Inji Efflatoun, die sich 1958 in dem | |
seinerzeit noch immer männlich konnotierten | |
Künstlerin-mit-Pinsel-und-Palette-Selbstporträt verewigte. Oder Vanessa | |
Bell und Duncan Grant, die als Teil der britischen Bloomsbury Group in den | |
1920er Jahren die künstlerische Kooperation versuchten und dabei auch das | |
gemeinsame Landhaus bespielten. Erstaunlich zeitgemäß erscheinen Bells | |
Paravent und Duncans Kaminarbeit, die hier in den großzügigen | |
Ausstellungsräumen aufgebaut stehen. | |
Spielt es denn nun eigentlich heute noch eine Rolle, wer da im Atelier | |
steht? Es fällt in dieser Ausstellung zumindest gleich auf, welcher Typus | |
bisher wo vorrangig in Erscheinung getreten ist und wer nicht. Die | |
Hundertschaft pakistanischer Künstlerinnen und Künstler, die Manisha Gera | |
Baswani in ihrer eindrucksvollen Fotoserie „Artists Through the Lens“ seit | |
2000 in deren jeweiliger Arbeitsumgebung porträtiert, hat man an diesem Ort | |
vermutlich noch nicht zuvor kennengelernt. | |
## Selbstbewusst und weiblich | |
Und dann blickt man auf Kerry James Marshalls unbetitelte Malerin, die im | |
Englischen so schön vieldeutig ja schlicht „Painter“ heißt. Dieses große | |
Bild auf einer vergleichsweise kleinen Leinwand ziert auch den | |
Ausstellungskatalog. Ganz egal, ob man Schwarz nun klein oder groß | |
schreiben möchte, diese Künstlerin ist es. Selbstbewusst positioniert sie | |
sich vor einer Wand, die von malerischen Aktivitäten zeugt, die linke Hand | |
in die Hüfte gestemmt, die rechte hält eine grotesk überdimensionierte | |
Farbpalette, in der aus viel Weiß in diversen Abstufungen ein wenig | |
Hellblau, Lindgrün, Gelb und Rosé ragt. | |
Existenzielle Zusammenhänge und Querschläge können sich in diesem nahezu | |
hierarchiefreien Nebeneinander ohne Vorwarnung entfalten. Gleich um die | |
Ecke von Grahams Leuchtkasten zum Beispiel finden sich Werke, die von einem | |
diametral entgegengesetzten Ende der Kunstproduktion zeugen: Textilarbeiten | |
der Arpilleras-Workshops, hergestellt in den 1970er Jahren in Chile. | |
Dass die bunten, naiv daherkommenden Patchwork-Bilder mit den grauenhaften | |
Szenerien von Entführung, Zwangsarbeit und roher Gewalt keine genaueren | |
Hinweise auf ihre Künstlerinnen verraten, ist Absicht. | |
In den Arpilleras trafen sich Frauen, die persönlich erlebte Schrecken der | |
chilenischen Militärdiktatur, verlorene Söhne und den Terror der | |
alltäglichen Gewaltherrschaft gemeinsam verarbeiteten – in Bildern, deren | |
Autorinnen geheim bleiben mussten und die dabei im kollektiven Verbund | |
trotzdem eine gemeinsame Stimme gegen das bleierne Schweigen im Land | |
fanden. | |
## Spielfeld für Blödsinn | |
Rund 100 Arbeiten umfasst dieser Überblick. Sie handeln nicht zuletzt auch | |
vom Müßiggang, der rasch seinen eigenen Sog entwickelt. Vom Atelier als | |
Spielfeld für Blödsinn und Schabernack, aber auch klug-schaurige | |
Zeitreflexionen wie bei Darren Almond, der seinerzeit einen Livestream aus | |
dem eigenen Studio zeigte. | |
Eine gute Pointe liefert fast zum Schluss auch Tehching Hsieh: Seine „One | |
Year Performance“ musste der Aushilfsjobber seinerzeit noch im häuslichen | |
Einzimmerapartment ausführen, das als Atelier-Ersatz diente. Sie hat ihn so | |
berühmt gemacht, dass sich der dann hauptberufliche Künstler dann wohl auch | |
die bürgerliche Variante des obligatorischen Studios leisten konnte. | |
2 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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