| # taz.de -- Holocaust-Gedenktag: „Ich bin aus einem badischen Dorf“ | |
| > Sie hat Theresienstadt überlebt: Inge Auerbacher bringt am | |
| > Holocaust-Gedenktag den Bundestag zum Nachdenken über Verantwortung. | |
| Bild: Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher spricht im Bundestag | |
| Berlin taz | Es kommt nicht so häufig vor, dass Reden im Bundestag so | |
| persönlich ausfallen wie an diesem Vormittag. Aber jetzt wird um 10 Uhr in | |
| einer Feierstunde [1][der Holocaust-Opfer] gedacht. Heute vor 77 Jahren | |
| wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. | |
| Der Bundestag hat die [2][87-Jährige Inge Auerbacher] eingeladen. Sie ist | |
| aus New York angereist, sie ist seit Jahrzehnten US-Amerikanerin, aber sie | |
| spricht in perfektem Deutsch: „Wer bin ich? Ich bin ein jüdisches Mädchen | |
| aus dem badischen Dorf Kippenheim“, so beginnt Auerbacher ihre Rede. Sie | |
| sei das letzte jüdische Kind gewesen, das dort geboren wurde. 1934 war das. | |
| Und dann erzählt Inge Auerbacher ihre Geschichte. | |
| ## Im Plenum ist es still | |
| Neben den Abgeordneten haben sich im Plenum die Spitzen des Staates | |
| versammelt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zusammen mit | |
| Kanzler Olaf Scholz Inge Auerbacher zum Rednerpult gebracht. Der | |
| Bundesratspräsident ist gekommen, ebenso wie der Präsident des | |
| Bundesverfassungsgerichts, die Minister sowieso. Und natürlich auch die | |
| Fraktion der AfD, von der aber nichts zu hören sein wird. | |
| Inge Auerbachers Geschichte beginnt lange vor der Machtübernahme der Nazis, | |
| im Jahr 1914. Sie erinnert daran, dass ihr Vater im Ersten Weltkrieg für | |
| Deutschland gekämpft hat, verwundet und mit dem Eisernen Kreuz | |
| ausgezeichnet wurde. Ebenso vier Brüder der Mutter, von denen zwei nicht | |
| aus dem Krieg zurückgekehrt seien. Sie weiß um das gute Zusammenleben mit | |
| den Christen in Kippenheim, damals, in den ersten Jahren der NS-Herrschaft, | |
| als sie selbst noch ein Baby war. Sie zeigt mit ihren Worten auf, wie | |
| integriert und vaterlandsverliebt die deutschen Juden doch in ihrem Land | |
| gewesen sind. | |
| Es ist im Plenum sehr still. Der Holocaust-Gedenktag ist im bundesdeutschen | |
| Parlament seit seiner Einführung 1996 zu einem Ritual geworden, in dem in | |
| jedem Jahr eine Person eingeladen wird, die mehr vom Hass auf die Juden, | |
| Sinti und Roma versteht als die Abgeordneten. Die Feierstunde ist auch eine | |
| Selbstvergewisserung, die Zeit der Judenverfolgung niemals zu vergessen. | |
| Und Inge Auerbacher spricht vom Hass und seinen Folgen: Wie die Scheiben | |
| ihres Elternhauses eingeworfen wurden am 10. November 1938 und ein Stein | |
| sie nur knapp verfehlte. Wie der Vater das Haus verkaufen musste und sie | |
| umziehen mussten, zuerst zu den Großeltern, dann in ein „Judenhaus“ in | |
| Göppingen. | |
| Wie ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten war. Sie hat die | |
| kleinen Zeichen der Solidarität mit den Verfolgten nicht vergessen: die | |
| Bauern, die der Familie Essen zusteckten, die Frau im Zug nach Stuttgart, | |
| die eine Tüte mit Brötchen absichtsvoll neben ihr liegen ließ. Bis die | |
| Familie am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde – das | |
| jüdische Getto in der besetzten Tschechoslowakei, das einem | |
| Konzentrationslager glich. | |
| ## Die Puppe fest im Arm | |
| Inge Auerbacher hat diese Geschichte in den letzten Jahren sehr häufig | |
| erzählt, vor Schulklassen und bei anderen Gelegenheiten, in Deutschland und | |
| in den USA. Sie hat Bücher geschrieben. Sie ist zu einer Reisenden in | |
| Sachen ihrer eigenen Erinnerung geworden. Sie ist 87 Jahre alt, geht ein | |
| wenig krumm und macht immer weiter. | |
| „Ich hielt meine Puppe fest im Arm“, erinnert sie sich an die Ankunft als | |
| [3][Siebenjährige in Theresienstadt.] Wachleute mit Peitschen hätten | |
| gebrüllt, ringsherum seien hohe Mauern, Holzzäune und Stacheldraht gewesen. | |
| Fast drei Jahre hat Inge Auerbacher in dem Getto verbracht, bis sie zehn | |
| wurde. Dazwischen waren Mord, Deportationen, Krankheiten und Hunger, immer | |
| wieder Hunger. Als einziges Kinder der aus Stuttgart Deportierten hat sie | |
| die Zeit bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 überlebt. | |
| Sie ist danach, schon in den USA, schwer an Tuberkulose erkrankt, einer | |
| Spätfolge von Theresienstadt. Sie hat deswegen nicht heiraten und keine | |
| Kinder bekommen können, sagt sie im Deutschen Bundestag. Aber auch: „Ich | |
| bin glücklich. Und die Kinder der Welt sind meine.“ | |
| Zum Schluss hebt sie an: „Die Vergangenheit darf nie vergessen werden. | |
| Zusammen wollen wir beten für Einigkeit auf Erden.“ Der Applaus ist lang | |
| und anhaltend. Danach redet der Präsident der Knesset, Mickey Levy, der | |
| beim Sprechen des Kaddisch, des jüdischen Totengebets, zu weinen beginnt. | |
| Anschließend ertönt Musik. | |
| Um 11.30 Uhr geht es im Bundestag mit der Routine weiter: Schlussberatung | |
| und Verabschiedung des Nachtragshaushalts 2021. Es folgt eine Debatte zum | |
| Ukrainekonflikt. | |
| Inge Auerbacher hat am Mittag noch ein Gespräch mit Steinmeier und Levy. | |
| Bald danach will sie sich aufmachen. Es geht nicht zurück ins heimatliche | |
| New York, sondern ins Badische, nach Kippenheim. Zum Reden über das, was | |
| geschehen ist und nie wieder geschehen darf. | |
| 27 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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