# taz.de -- Essay zum Artensterben: Es stirbt die Kreatur | |
> Wo Insekten sterben, hungern Singvögel. Wir dürfen nicht länger | |
> zuschauen, denn wir stehen am Ende der Nahrungskette. | |
Bild: Wenn Insekten das Atmen schwerfällt | |
Das große Versprechen unserer Zeit lautet, dass die wissenschaftlichen | |
Erkenntnisse, die aus dem Zellkern und vom Mars gewonnen wurden, das Leben | |
besser machen. Seit dem Beginn der Aufklärung bestärken uns | |
WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Unternehmen in dem Glauben, dass | |
wissenschaftliche Erkenntnis uns auf die sichere Seite der Ratio, der | |
Wahrheit, der Gesetzmäßigkeit bringt. Wir wissen, also können wir | |
kontrollieren. Und Kontrolle schafft Sicherheit. Die Sache ist nur: Das | |
Wissen nützt gar nichts, wenn wir nichts daraus machen und den | |
aufklärerischen Auftrag der Wissenschaft in den Wind schießen. | |
Vom [1][Klimawandel] kennt man das schon. Temperatur: steigt, | |
[2][Klimaverhandlungen]: ja, Umsetzung: nada. Und den Tieren und Pflanzen | |
geht es nicht anders: Artensterben erforscht, Biodiversitätsverhandlungen | |
laufen, das Bundesumweltministerium twittert: „Samenkugeln gegen | |
Insektensterben“. Wie sich nun im zweiten Sommer nach der bundesweiten | |
Wahrnehmung des Insektensterbens zeigt, entgleitet uns jedoch der | |
wissenschaftlich dokumentierte Artentod in Wald, Wiese, Fluss und Ozean. | |
Die Ignoranz gegenüber dem Leben wird langsam gefährlich, auch wenn wir | |
Menschen satt sind und ausreichend Trinkwasser aus dem Hahn läuft. | |
Natürlich weiß niemand genau, was passiert, wenn Wildbienen, Schwebfliegen, | |
Laufkäfer und der Weißdolchbläuling aussterben. Wir möchten es aber auch | |
nicht herausfinden und am lebenden Objekt ausprobieren, wie es sich | |
anfühlt, wenn die Ökosysteme zusammenbrechen. Das lebende Objekt unserer | |
Betrachtung sind ja schließlich wir, nicht ein Käfer oder ein Falter, von | |
dessen Existenz nur ein paar Schrate und Naturzausel wussten und den | |
deswegen kaum jemand vermisst, wenn er für immer verschwindet. Wir, Homo | |
sapiens, sind und bleiben eingewoben in das große Geflecht des Lebens und | |
das ist nicht christlich, religiös, gar esoterisch, sondern eine | |
wissenschaftliche Tatsache. | |
Es verändert sich nicht nur das abstrakte Klima, sondern es stirbt die | |
Kreatur. Unsere Mitgeschöpfe sterben, wie Papst Franziskus in der Enzyklika | |
Laudato si! „über die Sorge für das gemeinsame Haus“ schreibt. Die großen | |
Kontrahenten der europäischen Aufklärung, die Wissenschaft und die | |
katholische Kirche, kommen nach 300 Jahren Trennung von Ratio und Geist zu | |
demselben Schluss. Und der lautet: Weiter so geht es nicht. Es ist daher an | |
der Zeit, die Aufklärung weiterzudenken und die unselige Trennung von | |
Mensch und Natur, Ratio und Gefühl, Geist und Seele zu beenden. | |
## Massensterben im Reich der Tiere | |
Das bedeutet, die entsetzlichen Nachrichten vom Massensterben im Reich der | |
Tiere endlich nicht nur kognitiv zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch mit | |
dem Herzen zu verstehen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Handeln | |
umzusetzen. Es ist an der Zeit, den Weißdolchbläuling zu sehen und zu | |
verstehen, dass dieser kleine Schmetterling nur an sehr bestimmten Gräsern | |
auf Trockenrasen leben kann. | |
[3][Das Insektensterben muss nicht weiter erforscht werden, wie neulich ein | |
Insektenforscher sagte, da er den Insekten bereits beim Sterben zusehe.] | |
Vogelfreunde und GartenbesitzerInnen beobachten in diesem Frühjahr erneut, | |
dass Amseln, Spatzen, Grünfinken, Blaumeisen, Stare seltener zu sehen sind | |
als in früheren Jahren. Mauersegler und Mehlschwalben machen in vielen | |
Gegenden nicht mal mehr einzeln einen Sommer. | |
Gerade stellte der staatlich angestellte Betreuer der Wanderfalken im | |
Nationalpark Sächsische Schweiz fest, dass von 18 Brutpaaren im | |
Elbsandsteingebirge dort nur 6 erfolgreich brüten und 17 Junge aufziehen. | |
Im vergangenen Jahr haben 30 Wanderfalkenpaare 40 Junge großgezogen. Das | |
muss man erst mal sacken lassen. Durchschnittlich ziehen Wanderfalken 2,5 | |
Junge im Frühsommer groß. Letztes Jahr hatten die Wanderfalken im | |
Elbsandsteingebirge durchschnittlich 0,9 Junge im Nest. Und dieses Jahr | |
kommen nur die Hälfte der Wanderfalken und gerade mal 6 Paare brüten noch. | |
## Die Küken der Wanderfalken verhungern | |
Wanderfalken stürzen sich mit angelegten Flügeln aus der Höhe auf Drosseln, | |
Tauben, Stare, erschlagen sie mit geschlossen Füßen, rasen mit bis zu 300 | |
Stundenkilometern weiter, wenden abrupt und fangen dann ihre fallende Beute | |
mit scharfen Krallen auf. Selbst unter Greifvögeln ist ihre Jagdmethode | |
spektakulär. Neben dem Sturzflug haben Wanderfalken noch andere Tricks | |
drauf, um Vögel zwischen Meisen- und Entengröße zu fangen. Sie überraschen | |
ihre Beute mit der Sonne im Rücken, sie jagen zu zweit, scheuchen Vögel aus | |
dem Gebüsch auf und holen sie im Flug ein. Wanderfalken haben sich in der | |
Evolution zu Meistern der Flugjagd entwickelt. Ihr Körper und alle ihre | |
Fähigkeiten sind hoch spezialisiert auf die Vogeljagd. | |
Wo keine Schmetterlinge und Hummeln fliegen, da hungern Singvögel und | |
verschwinden. Und ohne die Singvögel hungern dann auch Falken und andere | |
Greifvögel. Die wahrscheinlichste Ursache für die fehlenden Nachkommen bei | |
den Wanderfalken lautet daher Nahrungsmangel. Die Küken verhungern. Oder | |
die Weibchen legen gar keine Eier. Das Insektensterben hat die Spitze der | |
Nahrungskette erreicht. Und das nicht nur bei den Wanderfalken: Auch die | |
Nester vom Raufußkauz sind leer im Nationalpark, Habichte und Mäusebussarde | |
haben in vielen Gegenden Deutschlands nur noch ein Junges im Nest statt | |
zwei oder drei. | |
An der Weltspitze der Nahrungskette stehen: Wir. Und wir sind satt, ob | |
Amsel, Fink, Star, Libellen oder Bienen nun gerade dabei sind, auszusterben | |
oder nicht. Doch wenn die Schwebfliegen verschwinden, dann könnten bald | |
auch die Maishähnchenbrust und der Avocado-Smoothie vom Tisch verschwinden. | |
Einige Supermarktketten und Discounter wollten kürzlich ihren KundInnen das | |
Artensterben sinnlich vermitteln. Sie räumten Regale leer, um jedem klar zu | |
machen, welche Lebensmittel wegfallen, wenn keine Bienen mehr die Blüten | |
bestäuben. | |
Ironischerweise sind es genau diese als Mahner auftretenden Discounter und | |
Lebensmittelketten, die Landwirte seit Jahrzehnten gängeln, um noch | |
billigere Tomaten, Erdbeeren, Weizenbrötchen und Schweinekoteletts zu | |
bekommen. Billiger geht nur mit noch mehr Dünger und Gift auf dem Acker, | |
mit noch mehr Antibiotika und Gift in den Industrieställen für Schweine, | |
Hühner, Puten, Kühe. Zu den Pestiziden kommen unvorstellbare Mengen Mist, | |
den Landwirte auf die Wiesen und Äcker kippen und damit die biologische | |
Vielfalt im Nitrat ersticken. [4][Der agrarindustrielle Komplex | |
verantwortet das Artensterben] in der Pflanzen- und Tierwelt, und da kann | |
der Bauernverband noch so lange behaupten, dass das alles nicht | |
wissenschaftlich bewiesen ist und sie nur benutzen, was auch zugelassen | |
ist. | |
Eigentlich sollte man meinen, dass Bauern selber denken können. Und sehen, | |
was am Feldrand und Ackergrünstreifen passiert – biologisch nichts Gutes. | |
Neonicotinoide schädigen nachgewiesenermaßen das Gehirn von Insekten, die | |
Neonics samt ihrer Derivate sind 1.000- bis 10.000-mal giftiger als das | |
Insektenvernichtungsmittel DDT. Sie wirken noch jahrelang, nachdem sie auf | |
den Acker gesprüht wurden, und töten auch Wasserflöhe in entfernten Seen. | |
Die Eisbären sind für den Klimawandel, was die Bienen für das | |
Insektensterben sind. Die Bilder von Honigbienen verniedlichen jedoch das | |
große Massensterben, fast so als würde sich Biene Maja mal mit Willy | |
streiten. Dieser Bambi-Effekt in der Insektenwelt, der eine Art idealisiert | |
und andere ignoriert, fördert nur die Naturentfremdung. Die Vereinfachung | |
ist nicht nur ärgerlich, sondern geradezu tödlich für die Natur. Denn sie | |
verhindert, dass sich nach der Ignoranz gegenüber Tieren, Pflanzen und | |
ihren natürlichen Lebensräumen nun ein Verständnis für den Zusammenhang der | |
natürlichen Kreisläufe entwickelt. Sie ist außerdem falsch. Die Honigbiene | |
zu einem Symbol gegen das Insektensterben zu machen kommt dem Versuch | |
gleich, eine Milchkuh als Image im Kampf gegen die Ausrottung von Elefanten | |
zu nutzen, nur weil beide Arten zu den Säugetieren gehören und Gras | |
fressen. | |
Psychologisch gesehen stimmt etwas nicht mit einer Gesellschaft, die das | |
Leben missachtet und die Zerstörung schönredet. Hierzulande erklären sogar | |
Umweltpolitiker das Abnormale zur Normalität. Eine solche Leugnung der | |
Realität ist gefährlich. Wir müssen daher ein neues Verständnis für Natur | |
entwickeln, eine neue Story der Naturverbundenheit erzählen, wenn wir gut | |
und gesund weiterleben wollen. | |
Die Gründe für die Natur liegen in der Natur. Die biologische Vielfalt | |
schafft erst die Vielfalt, die auch die Stadt als Teil der Natur stützt. Je | |
mehr Pflanzenarten wachsen, desto mehr Viecher krabbeln, hüpfen, fliegen, | |
desto stärker sind die Ökosysteme, in denen Luft zum Atmen und Wasser zum | |
Leben entstehen. Die Sehnsucht der Menschen nach Natur ist zudem riesig, | |
sie übersteigt an Seen, im Gebirge und in Stadtparks zu oft das | |
naturverträgliche Maß. | |
Das Phänomen der Massennutzung von Natur und der Natur in der Stadt zeigt: | |
Alle sind und alles ist Natur. Zum neuen Naturverständnis, in dem der | |
Mensch wieder in einer Reihe mit anderen Arten steht, gehört auch die | |
Erkenntnis, dass Smartphone und Schnitzel Auswüchse der Natur sind, die auf | |
Kosten der Erdressouren produziert und konsumiert werden. Der | |
Weißdolchbläuling wiederum, der uns weit ferner ist, als Smartphone und | |
Schnitzel es sind, trägt zum Gemeinwohl bei. Aber nur, wenn wir uns als | |
aufgeklärte Menschen mit Ethik und Verstand ernst nehmen und seinen | |
Lebensraum respektieren. | |
4 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
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