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# taz.de -- Insektensterben betrifft auch Ameisen: Auge in Auge mit der Waldame…
> Für das Ökosystem sind Ameisen extrem wichtig. Doch wie die Bienen sind
> viele Arten gefährdet – zu Besuch bei einem Ameisenforscher.
Bild: Zusammenarbeit läuft im Ameisenreich
Görlitz taz | Wer einmal in ein Ameisennest hineinschaut, sieht die Wildnis
im Mikrokosmos. Chaotisch scheinen die Ameisen hin und her zu laufen, die
eine schleppt einen Kiesel heraus, die andere ein Samenkorn hinein, zwei
rasen aufeinander zu, beschnuppern sich, drehen ab. Unsichtbar folgen die
Ameisen einem Plan. Mit Duftstoffen weisen sie auf Futter hin – mit
Giftstoffen verwirren sie Gegnerinnen im Krieg.
Ameisen jagen Mücken, Falter und Fliegen, sammeln Samen und schleppen tote
Ameisen zu ihrer letzten Ruhestätte. Ameisen machen Raubzüge, besetzen die
Territorien der konkurrierenden Arten und schneiden mit
gartenscherenartigen Gebissen die Arme und Antennen der anderen ab.
Und Ameisen können noch viel mehr: Holzameisen züchten Pilze und halten
sich Blatt- und Wurzelläuse, weil die Honigtau liefern – für die Holzameise
nicht nur Leibspeise, sondern wichtiger Baustoff für ihre Nester.
Waldameisen schichten im Winter Myriaden von Kiefernnadeln,
Fichtenzweiglein, Holzstückchen zu einem Hügel, der in extremen
Kälteregionen die Größe einer Einzimmerwohnung haben kann.
Was alle Ameisen-Arten eint: Sie sind supersozial und bilden erst zu
Tausenden, Millionen den atmenden, fressenden, sterbenden, gebärenden
Organismus, der ihre Art sichert.
Die nächsten Verwandten der Ameisen sind die Bienen, doch anders als die
niedlichen Honigbienen haben es Ameisen noch nicht bis in den Bundestag
geschafft. Sie haben keine politische Lobby und deswegen werden ihre
Leistungen für Gemeinwohl und die große Vielfalt ignoriert.
## Systemrelevantes Tier
Dabei sind sie wie die Honigbienen systemrelevant. Wälder, Wiesen und sogar
Parks und Gärten würden ohne Ameisen anders aussehen. Sie verbreiten Samen
von Kräutern und Gräsern und tragen die blühende Vielfalt in die hintersten
Winkel. Sie ackern den ganzen Tag rum, säbeln Holz, zerkleinern trockene
Blätter und schichten tonnenweise Erdreich im Jahr um.
Sie lockern ebenso wie Regenwürmer die Böden und schaffen damit die Basis
für das Leben in Grün. In Wäldern halten sie Baumschädlinge im Zaum.
Imkerinnen schätzen die Ameisen und ihre Blattlausherden, aus deren
Honigtau die Bienen Honig machen.
„Der oft zitierte stumme Frühling ist längst dabei, Realität zu werden“,
warnt Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz (BfN). Sie
spielt damit auf das Buch „Stummer Frühling“ der amerikanischen Biologin
Rachel Carson an, das vor über 30 Jahren zum Verbot des Insektengifts DDT
führte. Carson erklärte ihren Landsleuten, dass die Vögel sterben, wenn es
keine Insekten gibt.
Ameisen sind hierzulande allein Grundnahrungsmittel für Grünspecht,
Grauspecht und Wendehals. Bunt- und Schwarzspechte kommen ohne Ameisen
nicht durch den Winter und auch Dachse schätzen die eiweißreichen Larven
der Waldameisen. „Vor einem Rückgang der Artenvielfalt warnen wir seit
Langem“, sagt Jessel, die im März gerade die neuen Roten Listen für
Insekten und Wirbellose herausgegeben hat.
## Ameisen auf Roter Liste
Was in den 1960er und 1970er Jahren das DDT war, schaffen heute Glyphosat
und die Neonicotinoide. Das große [1][Insektensterben] erfasst daher auch
Ameisen (siehe Kasten unten). Allein in Deutschland stehen die meisten
Arten auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht, stark gefährdet oder
extrem selten. Die wärmeliebende Crematogaster sordidula ist bereits
verschollen.
Mal betonieren Bauarbeiter den Lebensraum der Ameisen, mal kippen Bauern
Gülle auf den Trockenrasen oder sprühen [2][Pestizide bis an den Waldrand].
„Ameisen verschwinden leiser [3][und unbemerkter] unter unseren Füßen als
Bienen“, sagt Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbunds Deutschland
NABU. „Wir müssen dringend ihre Lebensräume sichern und die EU-Agrarpolitik
naturverträglich gestalten.“
Tschimpke erinnert daran, dass der wissenschaftliche Beirat von
Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner diese Woche dringend empfohlen
hat, Landwirte und Waldbesitzer zu belohnen, wenn sie sich für die Natur
einsetzen.
Und das ist dringend nötig: Mehr als 1.000 Nester von Waldameisen mussten
2017 weichen, damit Brandenburg die Autobahn 10 durch die Wälder nahe
Berlin treiben konnte. Waldameisen entscheiden über die gesunde Ökologie
eines Waldes und stehen seit 200 Jahren unter Naturschutz. Sie dürfen nicht
gestört oder ihre Nester ausgehoben werden, doch gegen Autobahnen sind in
Deutschland auch die seit 13 Millionen Jahren an ökologische Nischen
angepassten Ameisen machtlos.
## Königinnen in Marmeladengläsern
Also wurden die Waldameisen ausgebuddelt, die eierlegenden Königinnen in
Marmeladengläsern gesammelt und die Hügel samt Hunderttausenden
Arbeiterinnen woanders wieder angesiedelt. „Das klappt meistens nicht“,
sagt Bernhard Seifert, der Auge in Auge mit der Roten Waldameise in der
Lausitz und in finnischen Wäldern gelebt hat. Gerade mal 15 Prozent der
Kolonien, schätzt der Wissenschaftler, werden nach der Umsiedlung am neuen
Platz heimisch und überleben.
Seifert, der im Senckenberg Museum für Naturkunde die Abteilung Pterygota –
Fluginsekten – leitet, gehört zu den weltweit anerkannten Taxonomen. So
werden jene Biologen genannt, die sich auf eine Ordnung von Insekten oder
anderen, nur im Detail zu bestimmenden Tieren spezialisiert haben, in
Seiferts Fall: Ameisen.
Kaum ein Wissenschaftler kennt sich mit ihnen so aus wie er. „Jede einzelne
Art hat ihre ganz unterschiedliche ökologische Nische“, sagt Seifert. „Zwei
Arten können nicht in der gleichen ökologischen Nische leben.“ Das gilt für
alle Tierarten. Ameisen leben jedoch nicht nur in ökologischen Nischen –
sie bilden selbst eine ökologische Nische.
Ameisen haben sich je nach Art in den vergangenen 13 Millionen Jahren
perfekt an ihren jeweiligen Lebensraum angepasst, sei der nun im Moor oder
im Geröll. Soweit bekannt, leben 114 Ameisenarten in Deutschland, in
Mitteleuropa sollen es 175 sein. Bernhard Seifert hat allein 10 neue
europäische Arten in den vergangenen 40 Jahren entdeckt, darunter die
Schweizer Gebirgsameise und mehrere enge Verwandte der Schwarzen Wegameise.
## Ameisen auch Babysitter
Die kennen auch Städter, denn sie brütet unter Pflastersteinen und fällt
manchmal auf, weil sie ihre Miniaturstraßen überdacht. Weltweit rechnen
BiologInnen mit 17.000 Ameisenarten.
Und viele Arten sind von ihnen regelrecht abhängig: Die Tagfalter der
Bläulinge beispielsweise haben sich an das Leben der Ameisen angepasst, ja
sind teilweise vollkommen auf eine bestimmte Ameisenart angewiesen. Die
Raupen der Bläulinge geben ein nektarähnliches Sekret ab, auf das die
Ameisen ganz wild sind.
Um daran zu kommen, passen sie auf die Raupen auf, halten feindliche Wespen
ab und kümmern sich um die Raupen wie um ihre eigenen Larven. Die Bläulinge
wachsen also unter Ameisen auf und können teilweise nicht ohne sie
überleben. Nun sind die Bläulinge nicht irgendein Schmetterling, sondern
bilden etwa ein Drittel aller bekannten Tagfalterarten. Weltweit.
Rund um Ameisenkolonien wuseln, wimmeln, wachsen und gedeihen besonders
viele Viecher und Pflanzen. Der US-amerikanischen Ameisenforscher Edward O.
Wilson kam in den 1980er Jahren darauf, das harmonische Durcheinander als
Biodiversität zu bezeichnen. Er erkannte, dass nicht eine Art entscheidet,
sondern erst alle Tiere, Pilze, Pflanzen zusammen die biologische Vielfalt
ergeben, die das Leben sichert.
## Forschung voller Körpereinsatz
Ameisen haben den Wissenschaftler gelehrt, das Ganze zu betrachten, wenn
auch nicht gleich zu verstehen. Wilsons Entdeckung der biologischen
Vielfalt war damals revolutionär. 200 Jahre lang waren Biologen damit
beschäftigt gewesen, die Natur zu spalten, die Einzelteile als Art zu
benennen und zu erforschen.
Ameisenexperte Bernhard Seifert untersucht die biologische Vielfalt unter
dem Mikroskop. Er misst die Neigung von Stirnleisten, die Länge der
Schenkel, beschreibt die Lage der Kopfseiten vor den Augen und die
Pigmentierung der Fühlerkeulen. Anhand dieser Daten unterscheidet er noch
so ähnliche Arten.
Seifert öffnet eine Holzkiste, in der Ameisen auf Pappkärtchen kleben. Er
nimmt eine heraus, steckt sie unters Mikroskop und fixiert das Objekt. Bei
einem Blick hindurch wird deutlich, dass nichts einfach mal so entstanden
sein kann. Jedes Haar rund um das Ameisenmaul hat seinen Sinn, jede Kerbe
im Oberkiefer nützt dem millimetergroßen Tier in seinem Lebensraum. Die
einen besitzen Klauen wie ein Säbelzahntiger, die andere Ameise zwackt sich
mit Zangen durchs Gebüsch.
Auf beiden Seiten des Mikroskops hat Seifert tellergroße Holzplatten
angeschraubt und gepolstert. Rechts mit einem Hirsekissen, links mit einem
weißen Stoffsonnenhut. Hier legt er seine Arme ab, um die Wirbelsäule beim
stundenlangen Starren durch das oberkörperlange Mikroskop zu stützen. „Die
Bandscheiben sind ruiniert“, sagt Seifert, auch sich selbst nüchtern
beschreibend.
## Vögel beobachten zur Entspannung
Trotz offensichtlicher Nackenstarre schreitet er flink zwischen Regalen,
Laborschränken, Teeküche und Computertisch, weist im Vorbeigehen auf ein
Päckchen, das ihm Insektenkundler von der Universität Tokio geschickt
haben.
Schon als sechsjähriger Junge ließ Seifert Ameisen in seiner Sandkiste
gegeneinander kämpfen. Mit elf Jahren kannte er das Kinderbuch über Ameisen
in der DDR auswendig, an ein anderes kam er nicht heran. Da sein Mikroskop
nicht gut genug war, um Ameisen genau zu untersuchen, beobachtete er Vögel.
Das geht mit dem bloßen Auge. Erst während seines Studium hatte er Zugang
zu Mikroskopen und Fachbüchern.
„Zur Entspannung“ beobachtet Seifert noch heute Mauersegler und Rotmilan
und steht morgens um 3.30 Uhr auf, um den neu zugeflogenen Wanderfalken in
Görlitz zu sehen. „Da kann ich mal was im Stehen machen, muss nicht immer
am Boden rumkriechen“, sagt Seifert, wedelt mit der Hand gen Boden und
taxiert dort was.
„Man muss das wollen“, sagt Seifert, der seine KollegInnen in den 1990er
Jahren mit seinen Beobachtungen zu Hybridformen und Artvermischungen von
Waldameisen nervte. „Damals war das Frevel, von Hybriden zu sprechen“, sagt
Seifert und starrt mit blauen Augen auf den Computermonitor, auf dem sich
die Daten verteilen wie Ameisen auf einem Nest. Anhäufungen, verwirrende
Wege, Kurven in Graphen und Tabellen, Einzelbeschreibungen, die seine
Beobachtungen im Wald und unter dem Mikroskop belegen. Heute sind sie
wissenschaftlich anerkannt.
## Nur noch wenige Taxonome
Im Naturkundemuseum Görlitz hat Seifert in mehr als drei Jahrzehnten eine
Sammlung von Ameisen-Präparaten aufgebaut. Schublade um Schublade stecken
in einem mannshohen Schrank, halb so lang wie Seiferts Labor. In jeder Lade
reihen sich Ameisen auf Nadeln und Pappkärtchen, manche Tiere nicht größer
als ein Stecknadelkopf.
Die Ameisen in Seiferts Sammlung sind sogenannte Typus-Exemplare, was
bedeutet, dass sie maßgeblich für die Bestimmung ihrer Art sind. Wenn es
die erstarrten Ameisen auf den Pappkarten nicht mehr gibt, herrscht
wissenschaftlich gesehen da draußen wieder das große Chaos.
Denn heutzutage forschen InsektenkundlerInnen eher zu Genen und
Hirnströmen, als monatelang durchs Unterholz zu krauchen. Sie können Tiere
nicht unter dem Mikroskop bestimmen, da sie im Studium keine Zeit dazu
haben. Wenn die jungen ForscherInnen wissen wollen, welche Ameise, Spinne
oder welchen Käfer sie gefunden haben, schicken sie ein Exemplar an Leute
wie Seifert.
Ein paar Taxonomen arbeiten noch, jeder spezialisiert auf einzelne
Gattungen, die im Detail helfen, das große Ganze zu verstehen. „Man muss
visuell was draufhaben, um die Arten zu bestimmen“, sagt Seifert. „Und man
braucht missionarischen Eifer.“
8 Jun 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Ulrike Fokken
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