# taz.de -- Wissen um bedrohte Arten: Expeditionen ins eigene Archiv | |
> In Berlin wurde das erste „Zentrum für Integrative | |
> Biodiversitätsentdeckung“ gegründet. Gesucht werden neue Tier- und | |
> Pflanzenarten. | |
Bild: Schaukasten mit europäischen Schmetterlingen im Berliner Naturkundemuseum | |
Berlin taz | Der biologische Artenschwund schreitet weltweit im Galopptempo | |
voran. Die Forschung will jetzt im Gegenzug draufsatteln und ihr Wissen um | |
die bedrohten Tier- und Pflanzenarten schnell erweitern, bevor sie von der | |
Landkarte der Evolution verschwunden sind. Zu diesem Zweck wurde jetzt in | |
Berlin das weltweit erste „Zentrum für Integrative | |
Biodiversitätsentdeckung“ gegründet, das speziell der taxonomischen | |
Forschung, der Artenbestimmung, gewidmet ist. | |
„Viele unbekannte Arten auf der Welt warten noch auf ihre Entdeckung“, sagt | |
Michael Ohl, der Gründungsdirektor des neuen Instituts, das am Berliner | |
Naturkundemuseum (MfN), einem Forschungsmuseum der | |
Leibniz-Forschungsgemeinschaft, dauerhaft auf 20 Mitarbeiter anwachsen | |
soll. Dafür wurde der Etat des Museums um 2,4 Millionen Euro aufgestockt. | |
Den jährlichen Betrag teilen sich das Bundesforschungsministerium (BMBF) | |
und die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft zu gleichen Teilen. | |
„Diese unentdeckten Arten haben auch das Potenzial, Lösungen für große | |
Gesellschaftsprobleme zu liefern, etwa im Bereich der Ernährung oder der | |
medizinischen Versorgung“, schiebt Ohl einen Nutzen-Gesichtspunkt nach. | |
Obgleich der nicht im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr die | |
Grundlagenforschung in Form der Wiederbelebung einer nahezu verloren | |
gegangenen Wissenschaftsdisziplin: der Taxonomie, der „Wissenschaft von der | |
Vielgestaltigkeit der Organismen“, so eine Definition des deutschen | |
Biologen Ernst Mayr. | |
Von der Wissenschaft sind rund 1,75 Millionen Tier- und Pflanzenarten | |
beschrieben und mit Namen belegt. Über die Gesamtzahl der Arten herrscht | |
große Uneinigkeit. Schätzungen reichen von 5 bis 15 Millionen Spezies. | |
Sicher ist nur: Ihre Entdeckung ist ein Wettlauf gegen die Zeit, da im | |
Zeitalter des Anthropozäns immer mehr ihrer Lebensräume verschwinden. | |
Von den staatenbildenden Insekten – Wespen, Bienen, Ameisen – sind rund | |
153.000 Arten bekannt. Ihnen hat Ohl gerade ein eigenes Buch gewidmet: | |
„Stachel und Staat“ (Verlag Droemer Knaur). „Die Sozialstrukturen dieser | |
Insekten sind eines der beeindruckendsten Phänomene der Tierwelt | |
überhaupt“, sagt der Biologe Ohl, der die Sektion Entomologie | |
(Insektenkunde) am MfN leitet. „Nicht zuletzt, weil darin Ähnlichkeiten zu | |
unserer eigenen Gesellschaft aufscheinen.“ | |
## 30 Millionen Objekte liegen im Archiv | |
Für ihre Artensuche müssen die Berliner Forscher nicht unbedingt ins freie | |
Feld ausschwärmen. Die erste Orientierung lautet „Innenrevision“. Das | |
bedeutet: Die am leichtesten zu hebenden Artenschätze liegen schon in den | |
Archiven der Museen und ihren naturwissenschaftlichen Sammlungen, die von | |
Forschergenerationen über die letzten Jahrhunderte zusammengetragen wurden. | |
Der Berliner Alexander von Humboldt ist ihr Ahnherr. Allein die Berliner | |
Humboldt-Universität, zu der das Naturkundemuseum vor seiner Eingliederung | |
in die Leibniz-Gemeinschaft für lange Zeit gehörte, bewahrt in ihrem Archiv | |
rund 30 Millionen unterschiedliche Objekte auf, davon sind die Hälfte | |
Insekten. Nach Ohls Überschlagsrechnung ist in seinem wie anderen Museen | |
ein Viertel bis ein Drittel der Bestände noch nicht richtig erschlossen. | |
Begibt man sich auf diesen Weg, sind Treffer unausweichlich, so wie die | |
(Neu-)Entdeckung der „Monsterwespe“, die Ohl 2012 gelang. Das ursprünglich | |
im Jahr 1930 auf der indonesischen Insel Sulawesi gefangene Rieseninsekt | |
schlummerte seitdem als „Unbekannte Grabwespe“ im Depot des Museums. Erst | |
ein Kontakt mit einer amerikanischen Kollegin brachte Ohl wieder auf die | |
Fährte der vergessenen Entdeckung, die nun den wissenschaftlichen Namen | |
Megalara garuda trägt. | |
Neue Methoden – wie Digitalisierung und DNA-Analyse – geben den Taxonomen | |
zeitgemäße Untersuchungsinstrumente an die Hand. „Der Namensteil | |
,Integrativ' soll zum Ausdruck bringen, dass wir die unterschiedlichen | |
verfügbaren Methoden integrieren werden“, erklärt Gründungschef Ohl. | |
Ihm ist bewusst, dass die Entdeckungsreise seines neuen Zentrums nur | |
deshalb starten kann, weil die gesellschaftliche Debatte über das | |
„Insektensterben“ dafür den Weg geebnet hat. Dass jüngst sogar die | |
Bundeskanzlerin in ihrer Etatrede den Bienenschutz als zentrale Aufgabe der | |
Regierungspolitik erwähnte, ist für Ohl ein Beleg, dass das | |
„Problembewusstsein auch in der Politik angekommen“ ist. Mehr noch, meint | |
Ohl: „Ohne diese Sensibilität wäre es auch nicht zur Förderung für unser | |
Zentrum gekommen.“ | |
13 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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