# taz.de -- EU-Migrationsdeal mit Tunesien: Europas Türsteher in Afrika | |
> Die EU will in der Migrationspolitik enger mit Tunesien kooperieren. | |
> Heißt: Brüssel schickt Geld, damit Tunis die Migranten aufhält. Ein | |
> Überblick. | |
Bild: Dieses Bild will die EU mehr sehen: Migranten, die von der tunesischen K�… | |
BERLIN taz | Das Schlimmste kommt zum Schluss – nach diesem Motto haben die | |
Unterhändler der EU und Tunesiens ihre Absichtserklärung in Sachen | |
Migration offenkundig verfasst, das am Sonntag unterzeichnet wurde. | |
Seitenlang ist darin von Versprechen die Rede: Investitionen, bessere | |
Flugverbindungen, neue Ausbildungshilfen, grüne Transformation und | |
schnelles Internet per Glasfaserkabel. Erst dann geht es ums eigentliche | |
Thema Migration – und was Tunesien tun soll, um diese nach Europa zu | |
verhindern. | |
„Wir haben ein gutes Paket. Jetzt ist es Zeit, es umzusetzen“, sagte | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Treffen in der | |
tunesischen Hauptstadt. Mit dabei hatte sie die Regierungschefs von Italien | |
und der Niederlande, Giorgia Meloni und Mark Rutte. Tunesiens Präsident | |
Kais Saied sprach mit Blick auf die toten Flüchtlinge im Mittelmeer und in | |
der Wüste von einer „unmenschlichen Situation“, die im Kollektiv gelöst | |
werden müsse. | |
Räumt man die wohlklingenden diplomatischen Formeln beiseite, sieht [1][der | |
Migrationsdeal zwischen EU und Tunesien] Folgendes vor: Das | |
nordafrikanische Land soll erstens Flüchtlinge daran hindern, überhaupt ans | |
Mittelmeer zu gelangen. Zweitens soll es unterbinden, dass von seinen | |
Küsten Boote Richtung Italien ablegen. Drittens soll Tunis Boote auf See | |
aufhalten und die Insassen nach Tunesien zurückbringen – auch | |
Schiffbrüchige, genau wie die libysche Küstenwache. Viertens soll es dabei | |
helfen, die Aufgehaltenen in ihr Herkunftsland zurückzubringen – wohl | |
gemeinsam mit der UN-Migrationsagentur IOM. Und schließlich, fünftens, soll | |
es [2][eigene Bürger:innen], denen die Abschiebung aus der EU droht, | |
schneller und unkomplizierter zurücknehmen. | |
Bereits vor ihrem letzten Besuch im Juni hatte von der Leyen aus dem | |
„Außenpolitischen Instrument“ (NDICI) der EU dafür Geld als Gegenleistung | |
bereitgestellt: 105 Millionen Euro für „Migration“ sowie 150 Millionen Euro | |
für „Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung“. Zudem könnte Tunesien üb… | |
mehrere Jahre Kredite über insgesamt 900 Millionen Euro bekommen. | |
## Das Problem liegt in der Umsetzung | |
Es kommt nicht von ungefähr, dass die europäische Seite am Sonntag die | |
„Umsetzung“ so sehr betonte. Denn das nun umrissene Maßnahmenpaket enthält | |
kaum Neues. Fast alles darin findet sich so oder ähnlich in Vereinbarungen, | |
die Italien, die EU und andere EU-Staaten in der Vergangenheit mit Tunesien | |
getroffen hatten. Schon im 1998 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen | |
waren der Kampf gegen irreguläre Migration und mehr Abschiebungen von | |
Tunesier*innen vorgesehen. Aktionspläne, eine „privilegierte | |
Partnerschaft“, eine „Mobilitätspartnerschaft“, ein von Deutschland | |
aufgebautes „Beratungszentrum“ für arbeitsuchende Abgeschobene und viele | |
Millionen Euro aus dem 2016 aufgelegten „EU-Nothilfefonds für Afrika“ | |
folgten. Immer ging es dabei auch um Tunesiens Dienste als Türsteher. | |
Nur fielen diese zuletzt nicht mehr so aus, wie die Europäer sich das | |
vorstellten. Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen waren von Januar bis Mai | |
2023 rund 51 Prozent aller in Italien ankommenden Flüchtlinge in Tunesien | |
gestartet. Etwa jeder siebte der Ankommenden war selbst tunesischer | |
Staatsbürger. Vor allem Italiens rechtsextreme Regierungschefin Meloni | |
steht deshalb unter Druck: Sie hatte mit dem Versprechen, die | |
Flüchtlingszahlen zu senken, im Herbst 2022 die Wahl gewonnen. Stattdessen | |
sind seit ihrem Amtsantritt so viele Flüchtlinge nach Italien gelangt wie | |
seit mehreren Jahren nicht. | |
Tunesien ist durch seine geografische Lage und seine vergleichsweise | |
stabile und prowestliche Führung seit Langem einer der Wunschpartner der EU | |
in Sachen Migrationskontrolle. Bis zum Sturz des Diktators Ben Ali während | |
des Arabischen Frühlings 2011 hatte das Land einschlägig und zuverlässig | |
kooperiert: Ben Ali hatte es den eigenen Staatsbürger:innen per Gesetz | |
verboten, ohne EU-Visum auf dem Seeweg nach Italien zu reisen. Seine | |
Polizei setzte das Verbot durch – und stellte auch sicher, dass keine | |
Menschen aus anderen Teilen Afrikas Tunesiens Küsten nutzten, um Richtung | |
Europa abzulegen. | |
## Tunesiens Regierung steht wirtschaftlich unter Druck | |
Nach der Revolution aber wurde der Druck aus der Zivilgesellschaft groß, | |
sich nicht länger als Türsteher der Europäer herzugeben. Seither ist die | |
Linie der wechselnden Regierungen in dieser Frage ambivalent. Auf der einen | |
Seite ließ sie sich – etwa ab 2016 aus Deutschland – mit | |
Hightech-Grenzzäunen und Trainings für Grenzschützer beim BKA in Wiesbaden, | |
deutschen Experten vor Ort, einem „grenzpolizeilichen Verbindungsbeamten“, | |
Bodenaufklärungssystemen, Wärmebildkameras und Radarsystem aufrüsten. All | |
dies sollte nicht nur gegen Migrant:innen, sondern auch beim Kampf gegen | |
islamistische Gruppen helfen. | |
Doch gleichzeitig schwankte der Grad, in dem Tunesien sich Europa | |
verpflichtet fühlte und Flüchtlinge stoppte – und erodierte zuletzt so | |
sehr, dass es Nachbarland Libyen als Haupt-Transitstaat ablöste. Das soll, | |
wenn es nach der EU geht, mit dem neuen Abkommen anders werden – auch, weil | |
Tunesien durch seine desolate Wirtschaftslage zu Zugeständnissen gezwungen | |
ist. | |
Die Regierung in Tunis weigert sich derweil kategorisch, die von der EU | |
schon ab 2018 so dringend geforderten Zentren für europäische | |
Asyl(vor)verfahren auf seinem Territorium zuzulassen. Oder – wie Marokko | |
oder die Türkei – aus anderen Ländern stammende abgelehnte Asylbewerber aus | |
der EU zurückzunehmen. Sie fürchtet, dass diese Menschen am Ende im Land | |
bleiben würden. | |
„Tunesien bekräftigt seine Position, kein Land zu sein, das der Ansiedlung | |
von Migranten mit irregulärem Status ist“, heißt es deshalb auch in der | |
Vereinbarung vom Sonntag etwas sperrig. In Tunis ahnt man, dass hier bald | |
weiter Druck gemacht wird: Der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, | |
der FDP-Politiker Joachim Stamp, hat europäische „Asylverfahren in | |
Nordafrika“ als klare politische Priorität benannt. | |
17 Jul 2023 | |
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[1] /Migrationsabkommen-der-EU-mit-Tunesien/!5947504 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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