# taz.de -- Verbot des Straßenhandels in Tunesien: „Fripes“ in Gefahr | |
> Seit Jahrzehnten gibt es Straßenmärkte für gebrauchte Kleidung in Tunis. | |
> Die Händler organisieren sich selber. Jetzt will der Staat sie schließen. | |
Bild: Ein Second-Hand Markt für Bekleidung in Halfaouine, Tunis | |
Der Weg zu dem beliebtesten Kleidermarkt von Tunis führt durch ein Viertel, | |
in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Von den meisten Fassaden | |
der in französischen Kolonialzeiten entstandenen Gründerzeithäuser der | |
Stadtteile Lafayette und Sidi Bahri bröckelt der Putz. Vor einigen Häusern | |
warnen Absperrbänder auf dem Bürgersteig vor herabfallenden Fassadenteilen. | |
Bis Ende der 1960-er Jahre lebten im Zentrum der Hauptstadt fast nur | |
Europäer und tunesische Juden. Nach deren Auswanderung zogen Tunesier aus | |
dem armen Umland in die vom tunesischen Staat übernommenen Häuser. Sie | |
gründeten den bis in die Medina reichenden Straßenmarkt von Sidi Bahri, | |
dessen Händler oft direkt über ihren Ständen wohnen. | |
## Der Staat als Randnotiz | |
Der Staat ist hier seit Jahrzehnten eher eine Randnotiz, man organisiert | |
das Miteinander selber. Unter dem vor Jahren abgebrochenen Balkon eines mit | |
üppigem Stuck dekorierten Hauses steht in der zur Fußgängerpassage | |
umfunktionierten Madrid-Straße der Verkäufer Samir Hmissi vor einem hastig | |
aufgebauten Tapeziertisch. Darauf liegen Berge von Hosen, an anderen | |
Tischen verkaufen seine Nachbarn Schuhe, Rucksäcke oder Babykleidung. | |
Die fast ausschließlich männlichen Händler von Sidi Bahri haben sich, wie | |
Hmissi, auf jeweils ein Produkt spezialisiert. “Ich verkaufe seit 10 Jahren | |
gebrauchte Hosen, vor allem Jeans“, sagt der 35-Jährige. “Mit einem guten | |
Gespür dafür, welche Großhändler das bieten, was meine Kunden wollen, kann | |
ich mich trotz der steigenden Preise finanziell über Wasser halten.“ | |
Doch nicht nur das seit der Coronapandemie drastisch geschrumpfte und um 40 | |
Prozent teurer gewordene Angebot von gebrauchter Kleidung aus Europa macht | |
den Händlern zu schaffen. | |
## Staat gegen Straßenhandel | |
Seit Mitte August geht die Polizei gegen die auf der Straßen verkaufenden | |
Händler der “Fripes“ (franz. für „gebrauchte Kleidung“) vor. Nur wer … | |
einen Laden verfüge, solle zukünftig verkaufen, so Händler Samir Hmissi. | |
Das hätten ihm Polizeibeamte gesagt. Die Anweisung aus dem Innenministerium | |
hat keiner Händler gesehen, doch ihre Stände haben sie erst einmal | |
zusammengepackt und diskutieren in riesigen Lagerhallen in den | |
Nebenstraßen, wie es nun weitergeht. | |
“Das Problem für den Staat ist doch, dass fast alle Kleiderverkäufer und | |
auch die die Gemüsehändler in Sidi Bahri seit Jahrzehnten als | |
Straßenhändler arbeiten. Wir funktionieren aber als Netzwerk für die | |
Sicherheit der Kunden und Kollegen und achten gegenseitig darauf, dass | |
bestimmte Regeln eingehalten werden können. Ladenmieten können wir uns | |
nicht leisten“, so Hmissi. Steuern zahle man doch über den Einkauf der Ware | |
von Großhändlern, beschweren sich auch die Händler des benachbarten Marktes | |
von Hafsia, während sie ihre Stände abbauen. | |
## Europäische Preise, tunesisches Gehalt | |
Als um 10 Uhr morgens Tunesierinnen und Tunesier aus allen | |
Gesellschaftsschichten in die normalerweise von Marktständen gesäumten | |
Straßen von Hafsia und Sidi Bahri strömen, ist die Enttäuschung groß. “Die | |
Händler, bei denen ich normalerweise kaufe, sind weg. Modische Kleidung in | |
den Geschäften der großen spanischen und französischen Modemarken sind oft | |
so teuer wie in Europa. Wie sollen sich die Menschen das hier, mit einem | |
Durchschnittseinkommen von umgerechnet 300 Euro im Monat, leisten?“ sagt | |
Yogalehrerin Fatma Oussaifi. | |
Über 90 Prozent der 12 Millionen Tunesier kaufen ihre Kleidung auf den | |
Second-Hand-Märkten, in fast jedem Stadtteil von Tunis hat sich ein „Fripe“ | |
etabliert. Die Angestellten aus den umliegenden Ministerien und Büros in | |
Lafayette investieren oft ihre gesamte Mittagspause und wühlen sich durch | |
Berge von aus Europa importierter Kleidung. | |
Die Sonne verhindert den in Europa üblichen typischen Second-Hand Geruch. | |
“Ich finde hier kaum getragene Markenklamotten, die nur einen Bruchteil | |
dessen kosten, was sie in den Läden in den neu entstandenen Shopping Malls | |
kosten“, sagt Yogalehrerin Oussaifi. Bei Samir Hmissi kostet eine wie neu | |
aussehende Jeans umgerechnet fünf Euro, ein Kleid nur einen Euro. Für vier | |
Euro gibt es am Stand gegenüber ein Paar Kinderschuhe. | |
Die in Paris und Tunis lebende Oussaifi kleidet sich ausschließlich auf den | |
„Fripes“ ein und ist von dem individuellen Stil begeistert, den sich junge | |
Leute in Tunesien [1][trotz ihres geringen Einkommens] leisten können. “In | |
Europa ist die Konformität in der Mode viel größer als hier“, findet sie. | |
## Hoffen auf temporäre Entscheidung | |
Oussaifi hofft, wie die Mehrheit der Kunden, dass die Maßnahme gegen die | |
Straßenhändler wie so viele Entscheidungen der letzten Jahren, nur | |
vorübergehend sind. Und wie viele andere Händler in Sidi Bahri glaubt auch | |
Samir Hmissi nicht, dass es dem Staat um eine Erhöhung der Steuereinnahmen | |
geht. | |
Der Sommerschlussverkauf in den großen Shopping Malls lief bisher wegen der | |
Wirtschaftskrise schlecht, vermelden die Medien. “Ich wette darauf, dass | |
jemand von der Verband der Textilhändler seine Kontakte genutzt hat, um die | |
‚Fripes‘ für die Dauer des Sommerschlussverkaufs zu schließen“, sagt | |
Hmissi. “Hier sehen Sie [2][das Kernproblem des Landes] wie unter einem | |
Brennglas.“ | |
Einige seiner Kollegen seien letzte Woche in Boote nach Europa gestiegen, | |
sagt er, und zuckt mit den Schultern. | |
2 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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