# taz.de -- Tunesien deportiert Migrant:innen: In die Wüste verschleppt | |
> Tunesien setzt Migrant:innen im Grenzgebiet zu Libyen aus. Menschen in | |
> der Region machen entsetzliche Funde, wie neue Videos und Fotos zeigen. | |
Bild: Diese Männer gaben an, ohne Wasser ausgesetzt worden zu sein. Hinten ein… | |
SFAX, BEN GUERDANE UND ZUWARA taz | Mohammed Rizq ist Kommandeur einer | |
Gruppe libyscher Soldaten, er patrouilliert regelmäßig an einem kleinen | |
Abschnitt der Grenze zu Tunesien. In diesem Sommer ist die Hitze im | |
Grenzgebiet gnadenlos, knapp unter 50 Grad zeigt das Thermometer. In einem | |
Video, das Rizqs Kollegen kürzlich von ihm aufnahmen, macht der 33-Jährige | |
[1][lautstark seinem Ärger Luft]: nicht über die Arbeitsbedingungen unter | |
der sengenden Sonne, sondern über das, was er tagtäglich erlebt. | |
Immer am Nachmittag entdeckt Rizq in weiter Ferne eine Gruppe Menschen, | |
erst nur kleine Punkte am Horizont. Viele Stunden dauert es, bis man sie in | |
der vor Hitze flimmernden Wüstenlandschaft besser erkennen kann. Wie in | |
Zeitlupe schleppen sie sich zur Grenze. | |
Manchmal folgen den Vertriebenen in großem Abstand Jeeps der tunesischen | |
Nationalgarde, um sie von der Rückkehr in die tunesischen Küstenstädte Sfax | |
oder Zarzis abzuhalten. Wasser, so sagt es ein libyscher Grenzbeamter der | |
taz, bekommen sie nicht. | |
„Schande für Tunesien und Europa“ | |
In einem anderen Video stehen plötzlich drei ausgemergelte Gestalten vor | |
Rizq. Sie berichten den libyschen Beamten, in Sfax gelebt und gearbeitet zu | |
haben. Vor drei Wochen seien sie von einem Mob mit Gewalt aus ihren | |
Wohnungen auf die Straße getrieben worden. Dann habe man sie mit Hunderten | |
weiteren Menschen in einen Bus getrieben und an der 400 Kilometer | |
entfernten Grenze zu Libyen rausgeworfen. | |
„Kommt niemals zurück“, habe ein tunesischer Uniformierter ihnen | |
hinterhergerufen, erzählt ein erschöpfter Mann aus der Elfenbeinküste in | |
dem ersten Video. Auf dem Arm hält er ein Baby, [2][mit einem Tuch | |
notdürftig vor der Sonne geschützt]. Mehrmals pro Woche begegnen den | |
libyschen Grenzwächtern völlig entkräftete Migrant:innen. Sie bringen sie | |
in ein provisorisches Lager in der libyschen Stadt Zuwara. | |
Rizq hält die Koordinaten seines GPS-Empfängers in die Kamera und wendet | |
sich direkt an die Verantwortlichen in Tunis und Brüssel. „Wir finden fast | |
täglich verdurstete Migranten. Sie wurden ohne Wasser in den Tod geschickt. | |
Das ist eine Schande für Tunesien und Europa.“ | |
Es ist nicht das erste Mal, dass Migrant:innen mit Gewalt aus Tunesien | |
vertrieben werden. Präsident Kais Saied hatte im Februar die aus Libyen | |
nach Tunesien Geflohenen oder ohne Visum aus Westafrika nach Tunesien | |
Eingereisten der [3][Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur | |
des Landes bezichtigt]. Die illegale Migration müsse beendet werden, sagte | |
Saied damals. Viele der Menschen hielten sich seitdem in Sfax auf, das bis | |
vor kurzem als Zufluchtsort galt. | |
Die aktuellen Deportationen aus der tunesischen Hafenstadt hatten Anfang | |
des Monats begonnen und hängen offenbar auch mit dem Tod eines Tunesiers | |
zusammen, der bei einer Auseinandersetzung mit drei Kamerunern Anfang Juli | |
ums Leben kam. Ohne Absprache mit den algerischen und libyschen Behörden | |
setzt Tunesien die Menschen seitdem in Grenzgebieten aus und überlässt sie | |
dort sich selbst. | |
Von Mobs vertrieben | |
An der libyschen Grenze bei Ras Jadir trafen die libyschen Grenzbeamten | |
Anfang Juli plötzlich auf Hunderte Menschen, die an einem Strandabschnitt | |
ohne Wasser oder medizinische Hilfe ausharrten. Einige von ihnen waren von | |
den Mobs in Sfax nicht nur vertrieben, sondern [4][auch verwundet] worden. | |
Mindestens zwanzig Leichen sollen die libyschen Patrouillen in dem | |
Grenzgebiet bereits gefunden haben. Auch Bewohner der Wüstenoase Tataouine | |
entdeckten offenbar mehrere Menschen, die an Erschöpfung gestorben waren. | |
Ein von einem libyschen Offizier aufgenommenes Foto von Fati Dosso aus der | |
Elfenbeinküste, die zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie | |
verdurstete, führte in Libyen zu einer [5][Welle der Empörung]. Arm in Arm | |
lagen Mutter und Tochter im Sand. | |
In Libyen fragen sich nun viele, warum die tunesischen Behörden direkt vor | |
dem [6][Abschluss eines Migrationsabkommens mit der EU] Migrant:innen | |
nach Libyen abschieben will. Am 17. Juli hatte Tunesien mit Brüssel | |
vereinbart, die in diesem Jahr drastisch gestiegene Zahl der Abfahrten von | |
Schlepperbooten zu reduzieren, und erhofft sich dafür Zahlungen von über | |
einer Milliarde Euro. | |
„Wir haben selbst 700.000 Migranten in Libyen“, sagt ein Beamter der | |
Behörde gegen illegale Migration in der Hafenstadt Zuwara der taz. „Stellen | |
Sie sich vor, wir würden Tunesiens Beispiel folgen und anfangen, tausende | |
Migranten an der Grenze auszusetzen. Es wäre ein Desaster für Libyens | |
Nachbarländer. Diese unmenschlichen Deportationen müssen sofort enden.“ | |
Nach [7][Berichterstattung des Fernsehsenders Al Jazeera] über die | |
Deportationen lenkte Tunesien zunächst ein und evakuierte die Ausgesetzten | |
wieder aus dem Grenzgebiet. Die weltweite Kritik am Vorgehen der | |
tunesischen Behörden hat die Regierung wohl aufschrecken lassen. Wichtige | |
Kredite schienen in Gefahr. | |
Ein Sprecher der Organisation Roter Halbmond behauptete, man habe alle | |
Migrant:innen gerettet. Die Videos der libyschen Grenzbeamten deuten | |
allerdings auf einen Strategiewechsel Saieds hin: Die Menschen werden nun | |
in unauffälligeren kleineren Gruppen durch die Wüste nach Libyen geschickt. | |
Berichte über die gefundenen Toten bezeichnete der tunesische Präsident auf | |
einer Konferenz in Rom am vergangenen Sonntag als Propaganda. | |
Auf dem von der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni einberufenen | |
Treffen hatten rund zwanzig teilnehmende Staaten am Sonntag bekräftigt, | |
beim Thema Migration künftig enger zusammenarbeiten zu wollen. | |
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bemerkte bei der Gelegenheit, | |
dass das eine Woche zuvor mit Tunesien unterzeichnete Abkommen als Vorbild | |
für die Kooperation der EU mit den Ländern der Region dienen solle. | |
Brüssel will trotz der Deportationen aus Sfax über eine Milliarde Euro an | |
die tunesische Regierung überweisen und bei der Beendigung der | |
Wirtschaftskrise helfen. Tunesien verpflichtet sich im Gegenzug, abgelehnte | |
Asylbewerber zurückzunehmen und stärker gegen Schleppernetzwerke | |
vorzugehen. | |
„Wir müssen ihr zynisches Geschäftsmodell zerstören“, sagte von der Leyen | |
in Rom und versprach, mit neuen Ansätzen die steigende Migration über das | |
Mittelmeer zu reduzieren: „Die Eröffnung neuer legaler Routen zwischen den | |
Kontinenten kann eine sichere Alternative zu den gefährlichen Seereisen | |
sein.“ | |
Gewerkschaft UGGT auf brutalem Kurs | |
Das einzige sichtbare Resultat des Abkommens der EU mit Tunesien sei, „dass | |
wir Migranten nun ständig auf der Flucht sind“, klagt ein Mann in Sfax | |
gegenüber der taz. „Die Wege nach Süden gen Libyen und nach Norden gen | |
Tunis sind für uns versperrt, also bleibt nur der Weg mit dem Boot nach | |
Europa.“ | |
In Tunesien schließen sich offenbar nun auch die Gewerkschaften dem | |
brutalen Kurs gegen Migrant:innen an. Bei einer Fahrt durch Vororte der | |
Grenzstadt Ben Guerdane stieß die taz auf mehrere Gruppen von | |
Migrant:innen, die nachts aus der Grenzregion geflohen waren. Die dort vom | |
Roten Halbmond eingerichteten Notquartiere sollen nach Protesten der | |
Bevölkerung und der Gewerkschaft UGGT wieder geschlossen werden. | |
Trotzdem kommen aktuell wieder mehr Menschen in Sfax an. In tagelangen | |
Fußmärschen bringen sie sich vor der Willkür libyscher Milizen in | |
Sicherheit. „Überall trifft man auf verzweifelte Menschen“, berichtet ein | |
Mann in Ben Guerdane der taz. Weil sich die Lage in Sfax seit Anfang Juli | |
etwas beruhigt hat, scheinen auch wieder mehr Boote in Richtung der | |
italienischen Insel Lampedusa abzulegen. | |
Omnia aus Khartum bestätigt das. Die 25-jährige Sudanesin arbeitet auf dem | |
Kleidungsmarkt am Bab-Jebli-Platz, auf dem sich allabendlich Hunderte | |
obdachlose Migrant:innen aufhalten, um auf den Bürgersteigen und | |
Rasenflächen des Kreisverkehrs zu übernachten. Tunesier:innen dürfen | |
seit Februar, dem Beginn der Kampagne Kais Saieds gegen illegale Migration, | |
Menschen ohne offizielle Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis weder | |
beschäftigen noch unterbringen. | |
Seitdem die Deportationen aus Angst vor negativer Medienberichterstattung | |
nur noch im kleineren Maßstab stattfinden, hat sich das Verhältnis der | |
Bewohner:innen von Sfax und den Migrant:innen wieder etwas | |
normalisiert. Eine Bürgerinitiative verteilt Wasser an die Obdachlosen, | |
heimlich vermieten Wohnungsbesitzer:innen auch wieder an die mehreren | |
Tausend Migrant:innen in der Stadt. | |
„Dafür sind die Schlepper nun brutaler“, sagt Ali aus Khartum. „Einer von | |
ihnen hat uns in einem Garten vor der Polizei versteckt. Für den schattigen | |
Platz unter einem Baum mussten wir fünf Dinar am Tag zahlen.“ | |
29 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/rgowans/status/1683504122085908480?s=20 | |
[2] https://twitter.com/rgowans/status/1683073498493730817?s=20 | |
[3] /Migranten-in-Tunesien/!5914344 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=whUfQV2Yt90 | |
[5] https://www.infomigrants.net/fr/post/50634/elles-sappelaient-fati-et-marie-… | |
[6] /EU-Migrationsdeal-mit-Tunesien/!5944945 | |
[7] https://youtu.be/whUfQV2Yt90 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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