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# taz.de -- Kluger Umgang mit Migration: Grüne sind nicht der Gegner
> Die EU-Migrationspolitik sollte reale Alternativen zur Abschreckung ins
> Auge fassen. Das heißt: zirkuläre Mobilität aus Afrika zu erlauben.
Bild: Männer am Strand von Senegal: Der Wunsch nach einem gelingenden Leben tr…
Zu Recht wird derzeit massive Kritik an der geplanten [1][EU-Asylreform]
geübt, ist doch eine abermalige Verschärfung der ohnehin dramatischen
Situation auf den Migrationsrouten zu befürchten. Dies umfasst nicht nur
die nahezu täglichen Bootsunglücke oder [2][Folterlager] in Libyen.
Auch [3][die Situation in der Wüste] wird immer prekärer, vor allem im
Niger, dem wichtigsten Transitland für Migrant:innen aus West- und
Zentralafrika: Dort wurde auf Druck der EU 2015 ein Gesetz verabschiedet,
das die bis dahin völlig legalen Dienstleistungen für Migrant:innen
unter Strafe stellt: Viele der über Nacht zu Kriminellen erklärten
Transporteure, Hostelbetreiber:innen oder Händler:innen büßten
ihre Existenzgrundlagen ein, die Wüstendurchquerung wurde lebensgefährlich,
und in Agadez hat sich die Bevölkerung durch hängengebliebene und
rückgeschobene Migrant:innen binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt.
Im Zentrum der Debatte stehen paradoxerweise die Grünen, obwohl sie die
Einzigen im etablierten Parteienspektrum sind, die erklärtermaßen eine
andere Vorgehensweise bevorzugen würden, sollten dies die politischen
Mehrheitsverhältnisse in Europa hergeben. [4][Charlotte Wiedemann etwa
meinte an dieser Stelle], dass eine „universalistische Ethik der
Gerechtigkeit“ bei den Grünen „keine Heimat mehr“ hätte. In der Tat, die
EU-Pläne sind abgründig, doch die Fokussierung auf die grüne Partei lässt
die Frage (unfreiwillig) in den Hintergrund treten, worin denn eine reale
Alternative zur Abschreckungspolitik bestehen könnte.
## Die Logik wird komplett verkannt
Eine generelle Antwort gibt es nicht, dafür sind die Migrationsdynamiken
aus den einzelnen Weltregionen viel zu unterschiedlich. Erforderlich ist
vielmehr ein geografisch ausdifferenzierter Blick, etwa auf Westafrika,
wozu Länder wie Nigeria, Mali oder die Elfenbeinküste gehören.
Von dort kommen zwar nicht die meisten Migrant:innen, aber die südliche
Außengrenze spielt in der öffentlichen Debatte seit jeher eine prominente
Rolle. Gleichzeitig tritt dort die Widersprüchlichkeit europäischer
Migrationspolitik offen zutage. Denn die Logik westafrikanischer Migration
wird umfassend verkannt. Migration hat hier eine jahrhundertelange
Geschichte, sie ist schon immer eine Überlebensstrategie, allerdings keine,
die als negativ empfunden würde.
Im Gegenteil: Migration ist Teil des Lebenszyklus, mancherorts müssen junge
Männer sogar temporär migrieren, um heiraten zu können – meist innerhalb
Westafrikas, selten bis nach Europa. Migration wird hier gemeinhin als
zirkulär gedacht, ein Sprichwort in Mali besagt, dass Migration bedeutet,
vom ersten Tag der Migration an die Rückkehr vorzubereiten. Die Leute
gehen, um etwas zu lernen oder um ihre Familien unterstützen zu können.
2019 machten Rücküberweisungen in Nigeria 4,9 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts aus, in Mali 5,5 Prozent und in Gambia 14,9 Prozent.
Und noch etwas ist wichtig: Migration ist eine Antwort auf schmerzlich
erlebte Perspektivlosigkeit, die sich nicht durch Zäune steuern lässt, wie
die Aussage eines jungen Senegalesen in der lesenswerten [5][UN-Studie
„Scaling Fences“] deutlich macht: „Am Ende wollen wir alle das Gleiche im
Leben: Gesundheit, gute Jobs und die Freiheit, für uns und unsere Familien
das Beste rauszuholen. Und weil viele Leute das Gefühl umtreibt, diese
Möglichkeiten in Afrika nicht zu haben, gehen sie nach Europa.“
Angesichts solcher Erfahrungen wird begreiflich, warum die
EU-Migrationspolitik einem moralischen Bankrott gleichkommt. In Westafrika
ist Migration normal, umzukehren ist undenkbar, wer mit leeren Händen nach
Hause kommt, gilt als Versager. Repression kann zwar die Wege teurer,
länger und gefährlicher machen, nicht aber Menschen aufhalten. Das zeigen
auch Zahlen, die seit der Jahrtausendwende teils höher, teils niedriger
sind, jedoch nie verebben.
Was ebenfalls nicht ausreicht, ist die viel zitierte
Fluchtursachenbekämpfung. Diese spielt zwar eine wichtige Rolle, gerade mit
Blick auf Perspektivlosigkeit. Wer sich freilich erhofft, so Ankunftszahlen
drücken zu können, verkennt das in der Wissenschaft schon lange als
„Migrationsbuckel“ bekannte Phänomen, wonach die meisten Migrant:innen
nicht aus den ärmsten, sondern etwas besser situierten Ländern wie Mexiko
oder Ägypten kommen. Was also tun?
Die Grünen dürften die EU-Asylreform nur um den Preis blockieren können,
dass sie an den Urnen abgestraft würden, was aber mit Blick auf die
Klimapolitik nicht wirklich zu hoffen ist. Zielführender scheint es, für
echte Fluchtursachenbekämpfung sowie einen schrittweisen Rückbau des
Grenzregimes zu werben, also die zirkuläre Migration zuzulassen, die
ohnehin der historische Normalzustand ist.
Es gibt schon wichtige Traktate, die sich dafür aussprechen. Aber häufig
wird vor allem menschenrechtlich argumentiert, ohne Berücksichtigung der
Tatsache, dass es in Regionen wie Westafrika bis heute normal ist, zu
kommen und zu gehen. Nur wenn Menschen die Möglichkeit haben, geregelt zu
wandern, werden sie auf gefährliche Wege verzichten. Denn dann können sie
erfolgreich sein und mit vollen Händen zurückkehren.
Konkreter: Migrationswillige müssen bereits zu Hause Zugang zu Sprachkursen
und berufsvorbereitenden Maßnahmen erhalten. Rückkehrwillige sollten
robuste finanzielle Unterstützung erfahren, vor allem dürfen sie nicht zur
Rückkehr gedrängt werden. Denn eine Existenzgründung ist nie einfach, auch
hierzulande scheitern 80 von 100 Unternehmen in den ersten 5 Jahren.
Insofern muss auch das Recht bestehen bleiben, wieder nach Europa
zurückzukehren – egal aus welchen Gründen. Denn wer seinen
Aufenthaltsstatus aufgeben muss, um Rückkehrunterstützung zu erhalten, wird
sich nicht auf das Wagnis der zirkulären Migration einlassen, die nicht nur
in Westafrika zum ökonomischen, sozialen und kulturellen Erbe gehört.
2 Aug 2023
## LINKS
[1] /Zaehes-Ringen-um-neues-Asyl-System/!5939573
[2] /Human-Rights-Watch-ueber-Lage-in-Tunesien/!5948544
[3] /Tunesien-deportiert-Migrantinnen/!5947548
[4] /Die-Entwicklung-der-Gruenen/!5940274
[5] https://www.undp.org/sites/g/files/zskgke326/files/publications/UNDP-Scalin…
## AUTOREN
Olaf Bernau
## TAGS
Migration
Westafrika
Folter
Libyen
Asyl
Senegal
Tunesien
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Schwerpunkt Flucht
Grüne
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