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# taz.de -- Demokratie in Tunesien: Investieren statt belehren
> Tunesiens Demokratie ist im Rückwärtsgang. Durch kluge Investitionen
> sollten europäische Länder gerade jetzt die demokratischen Kräfte
> stützen.
Bild: Anhänger:innen des tunesischen Präsidenten Kais Saied in Tunis am 20. M…
Nach den letzten Verhaftungen von Oppositionellen, Gewerkschaftern und
Journalisten kann es keinen Zweifel geben, dass die junge Demokratie in
[1][Tunesien], wo 2011 der arabische Frühling begann, den Rückwärtsgang
eingelegt hat. Das Land galt in der EU lange als demokratischer Leuchtturm.
Nun sind Enttäuschung und Ratlosigkeit groß, angesichts des Umbaus
Tunesiens zu einem autoritär-konservativen Staat.
Präsident [2][Kais Saied], 2019 vom tunesischen Volk direkt gewählt, hält
wenig von Parteien und repräsentativer Demokratie. Erst kürzlich setzte er
alle gewählten Bürgermeister*innen ab. Tunesiens neuer starker Mann
setzt auf direkte Demokratie mit Kandidat*innen, die keiner kennt. Die
geringe Wahlbeteiligung bei den kürzlich abgehaltenen Parlamentswahlen
nimmt er in Kauf.
Für die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, den Mangel an
Lebensmitteln wie Milch, Butter, Zucker und Mehl, sieht er sich nicht
verantwortlich. Kais Saied macht abwechselnd einheimische Wucherer,
ausländische Mächte oder die Einwanderer aus Afrika südlich der Sahara als
Schuldige aus. Dabei schreckt er auch nicht vor dem Verschwörungsmythos vom
großen Bevölkerungsaustausch zurück, wonach [3][Migrant*innen aus
Subsahara-Afrika] die tunesische Bevölkerung ersetzen sollen. Dafür bekommt
er Lob vom rechtsextremen französischen Politiker Eric Zemmour, der seit
Langem ins gleiche dumme Horn stößt, und auch von der neuen italienischen
Rechtsregierung.
In der Bevölkerung hat der Präsident dennoch weiter großen Rückhalt. Nicht
wenige Menschen teilen seine Sicht der Welt. Unterstützung genießt er aber
auch deshalb, weil die einst populären Islamisten, die seit Beginn der
tunesischen Demokratie an der Macht beteiligt waren, tief in Korruption und
Misswirtschaft verstrickt sind. Opposition muss der Präsident bislang nicht
fürchten, weil auch die Gewerkschaften, ein wichtiger Pfeiler in Tunesien,
mit einigen seiner Maßnahmen durchaus einverstanden sind. Das gilt zumal
für die Entmachtung der Islamisten.
Für Deutschland und die anderen europäischen Partner, die lange große
Hoffnungen in das Land gesetzt hatten, ergibt sich eine schwierige Lage,
nicht zuletzt deshalb, weil nationalistische Stimmen in Tunesien gegen den
Einfluss von außen Stimmung machen. In ihren Augen ist die tunesische
Zivilgesellschaft, die sich für freie Meinungsäußerung, Rechte von
Migrant*innen und Homosexuellen einsetzt, vom Ausland fremdgesteuert –
ein verbreitetes Narrativ von Nationalisten, das man auch aus Ländern wie
Südafrika oder Russland kennt.
Tunesien für seinen demokratischen Rückwärtsgang zu bestrafen, wie es die
jüngste Resolution des EU-Parlaments fordert, oder zumindest weitere Hilfen
von Bedingungen abhängig zu machen, wie manche europäische
Politiker*innen erwägen, wäre aber in der jetzigen Lage falsch. Das
Finanzabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds, das seit vielen
Monaten ohne Fortschritte verhandelt wird, darf nicht an der EU scheitern.
Es ist nicht der Moment, Tunesien in der Manier des enttäuschten
Oberlehrers den Rücken zu kehren, denn Tunesiens demokratische Kräfte
brauchen Unterstützung, damit das Land nicht auf einen europafeindlichen
Kurs abdriftet.
Deutschland hat es wesentlich in der Hand, dass dies gelingen kann, denn
die beiden wichtigsten europäischen Partner, Frankreich und Italien, fallen
weitgehend aus, da sie innenpolitisch blockiert sind. Sie wollen in
Tunesien vor allem Stabilität und erwarten weitere Zusammenarbeit bei der
Abwehr von Migranten und Terroristen. Impulse für eine neue Tunesienpolitik
sind aus Paris und Rom nicht zu erwarten.
Berlin sollte es besser machen. Die deutsche Politik kann gerade jetzt
helfen, Tunesiens demokratische und europafreundliche Kräfte zu stärken.
Belehrung wäre keine Hilfe. Die Tunesier wissen selbst, woran ihre
Demokratie leidet und was in ihrer Wirtschaft falsch läuft, dass Reformen
dringend notwendig wären. Was Deutschland tun kann, ist, einen anderen Ton
in der Migrationspolitik anzuschlagen und die Türen für Tunesier weiter zu
öffnen. Die EU stößt mit der restriktiven Visavergabepolitik viele
Tunesier:innen, die angelockt von unseren Universitäten und Unternehmen
fleißig Deutsch, Französisch und Englisch lernen, vor den Kopf. Das macht
sie zur leichten Beute von Nationalisten, die mit ihren Parolen hausieren
gehen, dass man von den verlogenen und schwachen Europäern nichts erwarten
könne.
Und dann sind da die deutschen Unternehmen, vor allem in der
Automobilindustrie, die als faire Arbeitgeber im Land einen guten Ruf
genießen. Mehr als bisher kommt es also darauf an, dass deutsche
Unternehmen in dem kleinen nordafrikanischen Land, dessen Hauptstadt Tunis
nur zweieinhalb Flugstunden von Frankfurt am Main entfernt ist,
investieren. Das ist auch im eigenen Interesse – die Pandemie hat die hohe
Abhängigkeit von China schmerzlich vor Augen geführt.
Schließlich muss die in Tunesien gewichtige deutsche
Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit den Unternehmen alle Anstrengungen
unternehmen, um den ökologischen Systemwandel voranzubringen. Noch immer
liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion in
Tunesien unter 5 Prozent – ein Versagen in dem sonnen- und windreichen
Land.
Nur mit einer schnellen Umstellung auf ökologische Kreislaufwirtschaft hat
die Demokratie in Tunesien und Nordafrika eine Zukunft. Schon jetzt leiden
viele Tunesier unter Wassermangel und nun droht das vierte Dürrejahr in
Folge. Gehen Klimaerwärmung und Massensterben im gleichen Tempo weiter oder
beschleunigen sie sich noch, wird der Kampf um Wasser und Nahrung die
Menschen in Tunesien in den Abgrund reißen – mit oder ohne Kais Saied.
18 Apr 2023
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## AUTOREN
Armin Osmanovic
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