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# taz.de -- ESC-Kolumne #Queerjungfrauen XII: Der Lewitscharoffversteher
> Nach Conchita Wursts Sieg versucht sich das Feuilleton an Erklärungen.
> Einem Kommentator des Deutschlandfunks misslingt dies völlig. Eine
> Textkritik.
Bild: Erfüllung eines jahrelangen Plans? ESC-Siegerin Conchita Wurst.
Inzwischen wirkt die Performance der Conchita Wurst wie die Erfüllung eines
seit vielen Monaten ausgeheckten Plans. War es nicht klar, dass sie
gewinnen würde? Die Kopenhagener Tage bis zum 10. Mai im Gemüt lässt sich
sagen: Das war so unklar, so allenfalls hoffend und nicht wissen, dass
jetzt die alte Logik gilt: Irgendwie haben alle immer schon gewusst, dass
es so kommen würde.
Andere sind überrascht. Vor allem Kommentatoren aus dem klassischen
Feuilleton- und Qualitätsradiobereich. Sie könnten wissen, dass der
Eurovision Song Contest mindestens dies immer war – ein europäisierendes
Event, das vielleicht nicht Frieden stiftet, aber einen Abend gut
dreieinhalb Dutzend (überwiegend) europäische Länder miteinander in
gegenseitige Beschäftigung bringt. Dieses Jahr fiel die Reaktion
extrabombastisch aus.
Und die Welt der Feuilletonisten muss jetzt beginnen, sich auf diese
europäische Begeisterung einen Reim zu machen. Im
[1][article_id=285060:Deutschlandfunk war nun ein Kommentar] zu hören von
Burkhard Müller-Ulrich, Titel: „Warum ausgerechnet Conchita Wurst gewann“.
Der Autor, Jahrgang 1956, arbeitet für diese Radiowelle seit langer Zeit,
seine Stimme kann als eine gelten, die man gern als in bürgerlichen Kreise
angemessen bezeichnen darf. Diese Erklärung ist nötig, damit der Rang
seiner Ausführungen nicht im Zweifel bleibt.
Hier soll der Text Stück für Stück begleitet werden. Er schreibt: „Seit
Hermes Phettberg hat Österreich keine so schillernde Medienfigur
hervorgebracht wie diese bärtige Frau mit der erstaunlichen Stimme: eine
Kunstperson, die allerdings nicht zum Zwecke des Gesangs geschaffen und
nicht durch ihren Gesang berühmt und mit dem Grand Prix ausgezeichnet
wurde, sondern wegen etwas anderem, das gar nicht leicht zu erfassen und zu
erkennen ist und über das man gewissermaßen nur hinter vorgehaltener Hand
nachdenken möchte.“
## Austrische Freakmaschine?
Conchita Wurst, das steht somit schon fest, ist Teil der austrischen
Freakmaschine, so nicht ganz bei Trost wie der Phettberg, ebenfalls ein
schwuler Mann, der sein Begehren nicht mit Schweigen zudeckte. Aber warum
nur hinter vorgehaltener Hand, so diskretionsbewusst, dieser Autor? Er tut
aber nur so, denn er wird ja offen sein - sonst bliebe das Radio ja stumm.
Weiter schreibt er: „Wir erleben derzeit einen Aufmerksamkeitsboom für das
Thema Transsexualität, der sich durch den allgemeinen Zwang zu
fortschreitenden Tabubrüchen nicht ausreichend erklären läßt.“
Weshalb eigentlich – Zwang zum Tabubruch? Er sagt es nicht. Weil es diesen
Zwang nicht gibt. Müller-Ulrich aber salbadert weiter: „Vielmehr
thematisiert sich darin eine große gesellschaftliche Verunsicherung in
Bezug auf die Biologie. Natur dient bloß noch als Werbebegriff der
Öko-Industrie, ansonsten gilt Natur als das schlechthin zu Überwindende.“
Die Natur, wie der Autor sie versteht, die man als unhinterfragbares
Kartell heterosexueller Mann-Frau-Paarungs-Dominanz bezeichnen kann, die
soll Natur, also gottgegeben sein? Der Mann ist vermutlich genug, um zu
wissen, dass kein Wesen so unnatürlich als solches ist wie der Mensch.
Alles an ihm, alles durch und in ihm ist Geschichte, Sigmund Freud hätte in
etwa formuliert, auf allen Menschen laste alles, was die Vorfahren hinter
sich gelassen haben.
## Verunklärung und Orientierungsprobleme
Aber Müller-Ulrich möchte das nicht, er argumentiert wie ein Warner, der im
Moment des grundsätzlichen Sündenfalls dabei ist und das Verhängnis seinem
Verständnis nach erkennt: „Der medizinische Fortschritt verschiebt oder
verunklart ständig die Grenzen des Lebens: wann es anfängt, wann es aufhört
und auf welche Weise es zustande kommt. Auch geschlechtliche Gegebenheiten
gelten mittlerweile als Optionen, über die sich schon während der Pubertät
fast beliebig verfügen lässt. Die Orientierungsprobleme der Betroffenen
werden dabei nicht nur vom voyeuristischen Interesse der RTL-Kameras
vergrößert und verschärft, sondern auch von sich wie durch Kettenreaktion
vermehrenden Genderpolitikern, die jeden Schambereich nutzen, um Druck
aufzubauen und Macht zu gewinnen.“
Ach, man möchte seufzen, liest man diese Kettenreaktion an Ressentiment und
Ignoranz: Orientierungsprobleme, RTL, Pubertät, medizinischer Fortschritt,
Genderpolitiker – alle Zumutungen für die Interpreten aus der guten alten
übersichtlichen Heterowelt sind mal kurz zusammengeschnurrt. Doch er
steigert sich noch, ins Schrille und Schräge eindeutig:
„Auf diese Bühne biologischer Bedenklichkeiten tritt nun ein Hermaphrodit
oder Transvestit (eine Dragqueen, er könnte das wissen, aber so denkt sich
nur assoziativ-abituriellen Sondermüll aus, d.Red) und konfrontiert Europa
mit sexualpsychologischen Fragestellungen, denen die Tralala-Welt (die man
bisher eher im Bayreuther Festspielhaus vermutete, nicht bei einem ESC,
d.Red) der Eurovision selbstverständlich nicht gewachsen ist. Sie konnte
sich dieser Konfrontation nur entziehen, indem sie dem irritierenden
Halbwesen, um mit Sibylle Lewitscharoff zu sprechen, dieser Mischung aus
Barbie und Jesus, schleunigst den Sieg schenkte.“
## Der Lewitscharoffversteher
Müller-Ulrich – der Lewitscharoffversteher sondergleichen. Warum sagt er
nicht ehrlich und einfach: Igittigitt, das alles finde ich scheußlich? Er
will sich indes trösten und die Dinge, die ihm Unbehagen bereiten,
einordnen. „Die Zeit war einfach reif für eine solche Symbolfigur der
Unentschiedenheit, weil angesichts der grassierenden
Verpaarungsverzweiflung und angesichts aller brüchig gewordenen Konzepte
von Männlichkeit und Weiblichkeit die Selbstverdoppelung zumindest als
Chance sexueller Selbstbefriedigung erscheint.“
Was denn nun? Die Wurst ist eine Kunst-, also Kulturfigur, da war er, der
schwule Tom Neuwirth, ganz ambivalenzfrei. Gleichwohl: „brüchig gewordene
Konzepte von Männlichkeit“ – hat der Müller-Ulrich womöglich ein Problem
mit seiner sogenannten Männlichkeit und überträgt die Furcht vor
phallischer Uneindeutig auf eine Figur, die ihn ängstigt?
Und dann spricht er: „Der Zwitter ist im Zeitalter von Twitter das Ideal
der Körperpolitik. Er strahlt, er kommuniziert, und er löst Haltungen in
Rollenspiele auf. Conchita Wurst alias Tom Neuwirth beherrscht vor allem
eine Frauengeste: Rührung oder Verlegenheit andeuten durch
Augenniederschlag und Verdecken des Mundes mit der Hand. Es ist ein Zeigen
durch Verbergen – die perfekte Show in der Show in der Show.“
## Verklemmtheiten und Verhaltensnormen
Man merkt: Dieser Mann ist fasziniert bis hin zum offenkundigen Begehren
dessen, was in ihm alles klein und kleindödelig werden lässt,
wahrscheinlich. Er endet mit „Seinsgrundlagen“, die für ihn, den Mann aus
körperpolitisch stabilen Tagen, so schütter sind wie die Erdoberfläche in
einem Gebiet von seismischer Eruptionen, stark erdbebengefährdet mithin:
„Wie alle Politik, so hat jedoch auch die hier ausagierte Körperpolitik
gewisse geografische Bezüge. Und so bot die Stimmenzählung des Grand Prix
unversehens Gelegenheit, die Europakarte sexueller Verklemmtheiten und
Verhaltensnormen teilweise neu zu zeichnen: Zwar war zu erwarten, dass die
skandinavischen Länder die Drag-Queen hoch bewerten würden, aber dass auch
Spanien, Portugal, Frankreich Gefallen an der Geschlechtsumwandlung hatten,
stellte eine Überraschung dar. (Nein, nein, nein, dieser Schwulm und Dumpf
ist ja ein Angebot zum Erbarmen: Das stellte keine Überraschung dar? Wusste
er, was er da sagte? Oder was hat er vorher genommen?, d. Red) Mag sein,
dass diese Voten strategisch gemeint waren, nämlich gegen das in diesen
Dingen eher zimperliche Russland. Doch auch diese Form von Körperpolitik
beweist, wie verkracht der moderne Mensch mit seinen Seinsgrundlagen ist.“
Woher kommt diese Verkrachung? Und stimmt sie überhaupt? Ist das Urteil, so
rein ontologisch-phylogenetisch argumentiert, nicht vor allem eines in
eigener Sache - also ein Plädoyer aus der Haltung der Mokanz und der
bürgerlichen (Alt-)Eliten? Was für ein graumehlig-schlechtgelaunter Text
aus kulturkritischem Milieu, vielleicht sollte man sagen: aus
Mutter-und-Vater-Erde gezüchtet.
Conchita Wurst hat übrigens [2][nie offen gelassen], was sie ist: als Tom
Neuwirth ein Künstler mit politscher Vision. Für Toleranz und Respekt. Man
mag sich an der Vokabel Toleranz stören - sie umreißt die Gönnerhaftigkeit
einer Mehrheit einer Minderheit gegenüber. Nehmen wir das Wort zum
gefühlten Sinn: Burkhard Müller-Ulrich hat diese nicht begriffen. Offen
ist, ob er intellektuell zu dem fähig ist, was ihm dieses Begreifen
ermöglichen könnte.
14 May 2014
## LINKS
[1] http://www.deutschlandfunk.de/eurovision-song-contest-warum-ausgerechnet-co…
[2] http://www.eurovision.de/news/Ich-bin-eine-Lobeshymne-auf-die-Frau,conchita…
## AUTOREN
Jan Feddersen
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