| # taz.de -- Debatte Alternativen zum Kapitalismus: Der Kampf ums gute Leben | |
| > 2018 wird alles besser: Warum es keine Utopie sein muss, dass unsere | |
| > Lebensweise solidarischer und nachhaltiger wird. | |
| Bild: 2018 überwinden wir den Kapitalismus | |
| Wir leben in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite wissen wir | |
| ziemlich gut, dass sich in der Welt einiges ändern müsste. Unsicherheit und | |
| viele offene Kriege, soziale Spaltung und eine unzureichende | |
| Existenzsicherung für viele Menschen hierzulande, Verelendung und Tod in | |
| vielen Ländern des globalen Südens, ökologische Zerstörung heute und | |
| weitere in der Zukunft. Eine scheinbar kaum aufzuhaltende politische | |
| Rechtsentwicklung macht wütend oder lässt resignieren. Den taz-LeserInnen | |
| muss ich das alles gar nicht erläutern. | |
| Auf der anderen Seite soll es dann doch irgendwie so bleiben, wie es ist. | |
| Es lebt sich für viele nicht schlecht unter Bedingungen der „imperialen | |
| Lebensweise“. Wir greifen in unserem Alltag recht selbstverständlich auf | |
| Produkte zurück, die unter naturzerstörenden und ausbeuterischen | |
| Bedingungen anderswo hergestellt wurden. Das geschieht meist unbewusst – | |
| beziehungsweise wollen es viele gar nicht so genau wissen. Es ist aber | |
| nicht nur das individuelle Handeln, das diese alles andere als solidarische | |
| oder nachhaltige Lebensweise am Laufen hält. Es sind auch machtvolle | |
| Produktionsstrukturen, die in der kapitalistischen Konkurrenz Handys, Autos | |
| und Nahrungsmittel produzieren, Profite und Wachstum generieren. Die | |
| imperiale Lebensweise steht für den zunehmenden Zugriff des Kapitalismus | |
| auf die Lebensverhältnisse, ist mit globaler wie nationaler Ausbeutung und | |
| Ungleichheit verbunden, verschärft Ressourcenkonflikte und zerstört die | |
| Umwelt. | |
| Die imperiale Lebensweise, wie sie in Europa gelebt wird, ist | |
| statusorientiert und basiert auch auf sozialer Ungleichheit. Die | |
| Mittelschichten grenzen sich gegen die unteren Schichten bewusst ab, indem | |
| sie zeigen, dass sie sich aufgrund ihres hohen Einkommens etwa ein größeres | |
| Auto, viele Reisen und mehr Konsum anderer Güter und Dienstleistungen | |
| leisten können. Das führt dazu, dass Menschen mit weniger Geld umso mehr | |
| ausgeschlossen werden. | |
| Was müsste sich 2018 ändern, damit wir eine Alternative haben zu der | |
| Ausformung des Kapitalismus, in der wir heute leben? Wie können wir in der | |
| nächsten Zeit die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen erzeugen, | |
| die die imperiale Lebensweise eindämmen und eine solidarische Produktions- | |
| und Lebensweise stärken? | |
| Vor diesem Hintergrund stelle ich mir 2018 gerne so vor: Irgendwann endet | |
| das ganze Geschwurbel um die Regierungsbildung damit, dass die SPD von den | |
| Medien und dem eigenen rechten Parteiflügel buchstäblich in die Große | |
| Koalition reingeprügelt wurde, eine „Groko“, die ja übrigens mit 53,4 | |
| Prozent der Stimmen und 399 von 709 Sitzen im Bundestag so groß gar nicht | |
| ist. Das Mantra lautet: Stabilität! Keine Experimente! | |
| ## Das Unbehagen wird größer | |
| Immer mehr Menschen wird aber deutlich, dass es einer progressiven | |
| Alternative bedarf, um drängende Zukunftsfragen anzugehen: Umgang mit | |
| Einwanderung und angemessene Integrationspolitik statt Ausgrenzung, die | |
| Vermeidung kommender Krisen durch den weiterhin dominanten | |
| Finanzmarktkapitalismus. Es steht der sozialökologische Umbau der | |
| Wirtschaft an inklusive Rückbau der Automobilindustrie; gute Arbeit für | |
| alle statt Prekarisierung vieler; die umsichtige politische Gestaltung der | |
| Digitalisierung, statt dass sie von Konzernen vorangetrieben wird. Ein | |
| politisches Bündnis wird also notwendig, das nicht wie Angela Merkel und | |
| Wolfgang Schäuble auf die weitere Spaltung Europas setzt, sondern auf eine | |
| politisch und wirtschaftlich attraktive Union. | |
| Das Unbehagen an der imperialen Lebensweise wird deutlicher. Angesichts der | |
| politischen Rechtsentwicklung der letzten Jahre aktiviert sich die | |
| Zivilgesellschaft noch stärker in Bereichen wie Armutsbekämpfung, | |
| Integration, Antirassismus, solidarische Ökonomie oder Umweltpolitik. | |
| Parteipolitisch werden im Jahr 2018 wieder stärker rot-rot-grüne Optionen | |
| diskutiert. Neben parteipolitischen Annäherungen verschieben sich die | |
| gesellschaftlichen Debatten. Der Zusammenhang zwischen der Lebensweise | |
| hierzulande und den sozialökologischen Katastrophen andernorts, aber auch | |
| der immer unsinniger werdenden Fixierung auf Wachstum und Status wird nicht | |
| länger verleugnet. Die SUV-Monsterautos werden für immer mehr Menschen zum | |
| Symbol umweltpolitischer Ignoranz und albernen Statusdenkens der Eliten | |
| oder jener, die gern dazugehören wollen. Eltern organisieren sich gegen | |
| Feinstaubbelastung und Lärm, soziale Bewegungen demonstrieren für | |
| „autobefreite“ Städte, und Kinder erobern sich den jahrzehntelang | |
| zugeparkten öffentlichen Raum zurück. | |
| Die Lügen der Manager und deren Besoffenheit an den hohen Profiten (vor | |
| allem an den Standorten außerhalb Deutschlands), die Engstirnigkeit der | |
| Anteilseigner erzeugen Unmut. Immer mehr wird im Lichte von Dieselskandal | |
| und Tricksereien von Autoindustrie und Staat deutlich, dass es hier | |
| gründlicher Veränderungen bedarf – die nicht auf dem Rücken der | |
| Beschäftigten geschehen darf. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der | |
| Fahrradinfrastruktur wird aus der Gesellschaft heraus verlangt. Viele | |
| kommunale Regierungen machen mit. Damit werden die Städte nicht nur | |
| lebenswerter, sondern die Menschen mobiler und gesünder. | |
| ## Autofreie Sonntage | |
| Auch die Mobilität auf dem Land wird zunehmend öffentlich und | |
| gemeinschaftlich mit hoher Qualität organisiert. Die autofreien Sonntage, | |
| zunächst wüst von den Gegnern beschimpft, werden in den Innenstädten von | |
| Berlin, Hamburg, München, Wien und anderswo zu wahren selbst organisierten | |
| Volksfesten. Schwere Zeiten für die Dieselbefürworter. Aber auch die | |
| Fassade des angeblich umweltfreundlichen Elektroautos bröckelt. | |
| Es wird produktiv gestritten, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen | |
| eigentlich ein gutes und auskömmliches Leben für alle möglich ist, das | |
| nicht zulasten der Natur und der Menschen im globalen Süden geht, aber auch | |
| nicht die gemeinen Zumutungen hierzulande für die Schwächeren | |
| aufrechterhält. | |
| Klar, gutes Leben heißt für die meisten heute, ein Eigenheim zu haben, | |
| Zugang zu den Produkten, die über den Weltmarkt bereitgestellt werden; | |
| Dinge, die man möglichst schnell erneuern kann, weil sie so günstig sind. | |
| „F + F“ – Fleisch und fliegen als Sinnbild für materiellen Wohlstand. Do… | |
| nach und nach brechen Selbstverständlichkeiten auf. Die | |
| Ende-Gelände-Bewegung erreicht eine breite gesellschaftliche Debatte über | |
| den raschen Kohleausstieg. „Zurück zum Sonntagsbraten“, wenn überhaupt no… | |
| Fleisch, wird zum Motto verantwortlicher Ernährung. | |
| Die wachstumsfixierte und konservative Gegenseite und ihre medialen | |
| Unterstützer kontern natürlich. Diese Debatte über ein gutes Leben für alle | |
| hantiere, so ihr Argument, ohnehin nur mit Verboten. Ja, mehr noch, eine | |
| besserwisserische „Ökoelite“ wolle der Gesellschaft vorschreiben, wie sie | |
| zu leben habe, damit Klimawandel und andere Umweltprobleme eingedämmt | |
| werden. Das, so der scharfe Tenor, sollten sich die Leute nicht gefallen | |
| lassen. Klima- und Umweltthemen könnten nur angegangen werden, wenn | |
| Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit (notfalls zulasten anderer Länder) | |
| gesichert wären. | |
| ## Klarere Konturen | |
| Doch dieser Tobak wirkt irgendwie schal. Viele Menschen erleben eine enorme | |
| Arbeitsverdichtung, gleichzeitig haben die Hartz-Reformen zur | |
| Prekarisierung und gesellschaftlichen Spaltung geführt. Sie sehen die | |
| zunehmende Vermögenskonzentration, wobei den Ärmeren gesagt wird, sie | |
| müssten den Gürtel enger schnallen. Zudem konnten wir in den letzten Jahren | |
| feststellen, dass in Krisensituationen die Politik autoritärer wird: Ein | |
| Großteil der Eliten versucht sich schadlos zu halten, notfalls ohne | |
| Rücksicht auf Verluste und zulasten von Teilhabe. Statt des trotteligen | |
| Vorwurfs in Bezug auf Verbote wird deutlich, dass es vielmehr um | |
| angemessene Regeln zugunsten eines guten gesellschaftlichen Miteinanders | |
| geht, nicht zugunsten Mächtiger und Privilegierter. | |
| Solche Regeln betreffen auch die Erwerbsarbeit, von der Menschen weniger | |
| abhängig sein sollten. Irgendwann ist es vielleicht für alle okay, 20 oder | |
| 25 Stunden pro Woche zu arbeiten, nicht nur für jene in oft erzwungener | |
| Teilzeit. Die bisherige Hierarchie zwischen anerkannter Erwerbsarbeit und | |
| weitgehend von Frauen geleisteter Reproduktionsarbeit könnte verändert | |
| werden, wenn alle mehr Zeit für andere, für gesellschaftspolitisches | |
| Engagement und für sich selbst hätten. Und die Menschen bräuchten weniger | |
| Geld. Sie müssten nicht 400 Euro mehr im Monat fürs Auto verdienen, weil | |
| sie kein Auto mehr bräuchten. Sie könnten sich in den Städten oder auf dem | |
| Land gut bewegen, aber sie müssten dafür nicht so viel Geld verdienen. | |
| Unter gutem Leben im Sinne von Wohlstand und Lebensqualität wird zunehmend | |
| ein sinnerfülltes Leben verstanden, das materiell abgesichert ist. In | |
| Notfällen wie Krankheit und Arbeitslosigkeit kann man auf gesellschaftliche | |
| Unterstützung zurückgreifen. Ein transparenter und demokratisch | |
| organisierter öffentlicher Sektor, der sich nicht am Profitprinzip | |
| orientieren muss, aber mit den finanziellen Ressourcen sorgfältig umgeht, | |
| würde wichtiger werden. Insbesondere die in vielen Ballungszentren | |
| drängende Wohnungsfrage kann nicht nur den Privaten überlassen werden, | |
| sondern bedarf neben starken Regeln auch des öffentlichen oder öffentlich | |
| geförderten Wohnungsbaus. | |
| Ein Leben im Bewusstsein, dass die ökologische Krise sich zuspitzt und dass | |
| gleichzeitig viele andere Menschen auf der Welt auch ein gutes Leben haben | |
| wollen, ob in China oder Brasilien. Die Diskurse und politischen | |
| Initiativen sind nicht moralisierend nach dem Motto: „Hast du immer noch | |
| einen nicht nachhaltigen Lebensstil?“, sondern kombinieren | |
| Eigenverantwortung und die Lust am Ersetzen (die Gegner sagen „Verzicht“) | |
| mit politischen Forderungen. Das Ersetzen des Autos muss eben mit gutem | |
| öffentlichem Verkehr und einem Umbau der Automobilindustrie einhergehen, | |
| die Reduktion des Fleischkonsums mit der Schließung der Tierfabriken. | |
| Das 4,95-Euro-T-Shirt von H&M ist kulturell nicht mehr „geil“ und wird über | |
| erkämpfte Umwelt- und Sozialstandards in den Produktionsländern auch nicht | |
| mehr möglich sein. Das ist der transformative Dreischritt: | |
| Rahmenbedingungen, sich verändernde Bedürfnisse der Menschen sowie andere | |
| gesellschaftliche Diskurse und Selbstverständlichkeiten. 2018 bekommt das | |
| klarere Konturen. | |
| 26 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Brand | |
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