# taz.de -- Essay über offene Grenzen: Offene Türen, enge Herzen | |
> Der Geburtsort entscheidet über die Lebenschancen. Das ist nicht fair. | |
> Aber würde eine globale Bewegungsfreiheit für alle wirklich weiter | |
> helfen? | |
Bild: Ist es fair, dass der Geburtsort die Lebenschancen diktiert? | |
Über offene Grenzen nachzudenken wirkt aus der Zeit gefallen. Die Stimmung | |
ist nach dem kurzen Refugees-welcome-Herbst 2015 umgeschlagen. Die Republik | |
wirkt wie jemand, der nach einem heftigen Rausch am Tag danach alle Spuren | |
des Fehltritts tilgen will. Die AfD prägt den Diskurs. Die CSU versucht mit | |
Polemik gegen Flüchtlingsunterstützer zu punkten. Und die Grünen sagen | |
lieber gar nichts mehr. | |
Angesichts dieser verspannten Gemütslage scheint die Frage, was für offene | |
Grenzen spricht, wie von einem anderen Stern. [1][Wer mehr Migranten ins | |
Land lassen will] oder prinzipiell die Grenzregime, die in Europa befestigt | |
werden, anzweifelt, gilt als linksradikaler Spinner. Oder, noch schlimmer, | |
als besser verdienender Gutmensch, dessen Alltag unberührt vom Zuzug der | |
Habenichtse ist – während die Unterschicht sich mit knappem Wohnraum und | |
Konkurrenz um Jobs herumschlagen muss. Doch es gibt seriöse Argumente, | |
Grenzen abzuschaffen – zum Beispiel die Menschenrechte. | |
In Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder | |
hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.“ Es | |
existiert somit kein explizites Menschenrecht, zu leben, wo man will – | |
allerdings hat der Artikel 13 nur Sinn, wenn es auch Staaten gibt, die | |
Migranten aufnehmen. | |
Der kanadische Philosoph Joseph Carens vertritt die Idee, dass ein | |
individuelles Recht auf globale Freizügigkeit existiert. Warum kann, wer in | |
El Paso geboren ist, ohne Probleme in New York jobben – während wer ein | |
paar Kilometer weiter südlich in Ciudad Juárez groß wurde, dafür als | |
illegaler Migrant sein Leben auf Spiel setzen muss? | |
Zufälliges Glück | |
Nichts ist so entscheidend für die Chance, ein gutes Leben zu führen, wie | |
der Ort, an dem man geboren wird. Wer in einem Slum in Lagos aufwächst, hat | |
kaum die Möglichkeit zu bekommen, was in Stockholm oder El Paso | |
selbstverständlich ist: sauberes Wasser, Bildung, Aussicht auf einen guten | |
Job. Mit welchem Recht blockieren Staaten also die Bewegungsfreiheit und | |
gießen das zufällige Glück des Geburtsortes in Beton? | |
Einige Verfechter offener Grenzen berufen sich auf John Rawls, der mit | |
„Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) den politischen Liberalismus auf den | |
Stand gebracht hat. Das gedankliche Experiment lautet, anknüpfend an Rawls, | |
in etwa so: Wenn wir nicht wüssten, ob wir in Lagos oder Stockholm zur Welt | |
kommen, würden wir dann für abgeriegelte Grenzen oder für das Recht auf | |
globale Bewegungsfreiheit plädieren? Eben. | |
Für offene Grenzen lassen sich argumentativ nicht nur philosophische | |
Trockenübungen in Anschlag bringen. Der globale Kapitalismus, der in | |
atemlosem Tempo Glanz und Elend erzeugt, jagt Informationen, Kapital und | |
Waren grenzenlos um den Globus. | |
Wir erleben „die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene | |
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und | |
Bewegung. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse werden aufgelöst. Alles | |
Ständische und Stehende verdampft.“ So hat Marx 1848 die Effekte des | |
Industrie-Kapitalismus beschrieben. Damals rumpelten die ersten Eisenbahnen | |
durch Europa. | |
Die frühe Eisenbahnära des digitalen Kapitalismus | |
Was den digitalen Kapitalismus angeht, befinden wir uns heute in der frühen | |
Eisenbahnära. Die globalen Informationsflüsse und virtuellen Geldströme | |
werden noch rasanter zirkulieren, die technischen Innovationsschübe in noch | |
schnellerer Taktung die Arbeitswelt umkrempeln. Der globale Handel löst, | |
mit allen zerstörerischen Kollateralschäden, Grenzen auf. Doch für Menschen | |
soll die globale Mobilität nicht gelten? | |
Angesichts dieses Szenarios erscheinen nicht die Fürsprecher freier | |
Migration als Traumtänzer, sondern jene, die Stacheldraht ausrollen und | |
Mauern hochziehen. Ein Einwand gegen die Migration in die reichen Zentren | |
der Welt lautet, dass diese die globale Ungleichheit noch verfestigt und | |
zum Brain-Drain führt. | |
Wenn Facharbeiter oder Krankenschwestern aus Dhaka und Kinshasa in die USA | |
und die EU kommen, fehlen sie den Ländern, die sie verlassen. Das ist | |
richtig – aber nur halb. Denn ein Teil der Migranten kehrt mit mehr | |
Erfahrung und Geld in die Heimat zurück. Die Arbeitsmigranten überweisen | |
jährlich mehr als 600 Milliarden Dollar in den globalen Süden – das ist | |
dreimal mehr als die gesamte staatliche Entwicklungshilfe. | |
Ist „Grenzen weg“ also das richtige Ziel? Noch nicht mehrheitsfähig, aber | |
vernünftig, so wie es vor hundert Jahren die Forderung nach dem | |
Frauenwahlrecht war? Eher nicht. Unter den Fürsprechern offener Grenzen | |
sind nicht zufällig viele Neoliberale und Linksradikale, die beide den | |
Staat geringschätzen. Das globale Recht auf Migration würde, jedenfalls | |
absolut gesetzt, die aufnehmenden Staaten ruinieren. | |
„No Border, No Nation“ hat auch etwas bedrohliches | |
Nationalstaaten brauchen einen definierten Souverän. Wenn Migranten sofort | |
alle Rechte bekämen, würde das Kollektiv der Staatsbürger diffus und | |
unverbindlich zu werden drohen. Den Neulingen allerdings weniger | |
staatsbürgerliche Rechte einzuräumen als den Alteingesessenen, ist auch | |
kein überzeugendes Konzept. Eine Staatsbürgerschaft light würde zu einem | |
Apartheidssystem führen, das den für Demokratien fundamentalen | |
Gleichheitsgrundsatz aushöhlt. Außerdem kann Masseneinwanderung von Ärmeren | |
aus dem globalen Süden soziale Sicherungssysteme überfordern und das | |
Lohnniveau rapide senken. | |
Man mag das für Horrorszenarien halten. Doch wer globale Freizügigkeit | |
fordert, muss einkalkulieren, dass diese auch von allen in Anspruch | |
genommen wird. Vollständige globale Freizügigkeit würde aber weit mehr | |
schaden als nutzen. Denn Staaten sind Schutzräume für BürgerInnen. Sie | |
spannen ein soziales Netz, dämpfen und kanalisieren gesellschaftliche | |
Konflikte und sorgen dafür, dass die Straßenbahn pünktlich kommt. | |
Der linksradikale Slogan „No Border, No Nation“ klingt schwungvoll, hat | |
aber auch etwas Bedrohliches. Eine Welt ohne Staaten und Grenzen wäre nicht | |
friedlicher und freier, sondern chaotischer und rechtloser. Ein beherztes | |
Kontra zu offenen Grenzen hat der US-Philosoph Michael Walzer in „Sphären | |
der Gerechtigkeit“ (1983) formuliert. | |
Walzer, einer der bekanntesten Theoretiker der politischen Denkschule des | |
Kommunitarismus, gilt manchen, die eine strikte Migrationspolitik | |
befürworten, als intellektueller Gewährsmann. Funktionsfähige Demokratien | |
brauchen, so das Argument, eine gewisse Homogenität und einen Vorrat an | |
gemeinsamen Werten. BürgerInnen und der Staat haben daher das Recht, Fremde | |
aufzunehmen oder abzuweisen. | |
Migranten sind keine Gesetzesbrecher | |
Das ist mehr als bloßes Revierverhalten. Wer ein spärlich besetztes | |
Zugabteil betritt, schaut meist in verdrießliche Gesichter. Wer schon da | |
ist, glaubt sich oft im Besitz von mehr Rechten als der Neuankömmling. Laut | |
Walzer ist das Recht, Fremde zurückzuweisen – es sei denn, sie sind | |
politisch Verfolgte –, mehr als dieser Reflex. Für demokratische | |
Gemeinschaften sind Grenzen existenzielle Bedingung. Ohne Geschlossenheit | |
keine Offenheit, so die dialektische Pointe. | |
Wir haben es also mit einem Widerspruch zu tun, der nicht auflösbar ist: | |
zwischen dem Menschenrecht auf Gleichheit und dem Bürgerrecht auf | |
Verschiedenheit, zwischen dem Recht, zu leben, wo man will, und dem Recht | |
von Staaten, zu entscheiden, wer zum Demos zählt und wer nicht. Wir haben | |
es mit dem Paradox zu tun, dass ein Recht auf Auswanderung existiert, aber | |
kein Recht auf Einwanderung. | |
Was folgt daraus? Erst einmal, dass Migranten, anders als es die AfD- und | |
CSU-Rhetorik suggeriert, keine Gesetzesbrecher sind, sondern Menschen, die | |
das Recht reklamieren, zu leben, wo sie wollen. Wir dürfen sie nicht wie | |
Kriminelle behandeln, sondern wie jemanden, der oder die das Recht hat, | |
Rechte zu haben. Darauf gilt es zu beharren – gerade weil Migranten als | |
Projektionsfläche für die Überforderung durch den globalen Kapitalismus | |
dienen. | |
Die Datenströme, die unsere Privatsphäre zersetzen, die Kapitalströme und | |
Technikschübe, die unsere Lebenswelt umwälzen, sind weitgehend abstrakt und | |
ungreifbar – der Migrant scheint für viele ganz konkret die Zumutungen | |
unserer Zeit zu verkörpern. | |
Im globalen Dorf steigt der Druck auf das Villenviertel | |
Walzer plädiert dafür, dass Einwanderungsländer Migration allein nach ihren | |
Bedürfnissen regulieren. Sie öffnen ihre Türen daher besser nur für wenige | |
und zwar für solche, die zu der „Art von Gemeinschaft passen, die wir zu | |
haben wünschen“ – die westlichen Werten also kulturell nahe sind. Dieses | |
Konzept scheint attraktiv, als ein praktisch handhabbares Instrument, mit | |
dem sich eine Schneise in das Dickicht aus Widersprüchen schlagen lässt, | |
aus schlechtem Gewissen den Ärmeren gegenüber und dem Gefühl, heillos | |
überfordert zu sein. | |
Doch nur solche Migranten aufzunehmen, die uns nützlich und passend | |
erscheinen, das ist eher ein Rezept für das letzte Jahrhundert als für das | |
multiethnische, von Turbo-Globalisierung geprägte 21. Jahrhundert. Im | |
globalen Dorf werden künftig wohl noch mehr aus den Armutsquartieren in die | |
Villenviertel drängen. | |
Der reiche Norden sollte daher legale Einwanderung ermöglichen – und zwar | |
nicht so restriktiv, sondern so großzügig wie möglich. Denn gefährlich für | |
Demokratien ist nicht nur, wenn ihre inneren Bindungskräfte schwinden. | |
Gefährlich für Demokratien ist es auch, wenn sie brutale Grenzregime | |
errichten, die ihren eigenen Werten Hohn sprechen. | |
13 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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