| # taz.de -- Debatte Globalisierung: Weltbürger, vereinigt euch! | |
| > Bislang kennen wir die Globalisierung nur „von oben“, aber nun formiert | |
| > sich eine Gegenbewegung: Eine Alternative zur Konkurrenz der | |
| > Ausgebeuteten. | |
| Bild: Griechische Weltbürgerin? – Proteste in Athen. | |
| Geschichten über die Globalisierung gibt es viele. Herr T. hat auch eine zu | |
| erzählen. Er ist Anfang 40, spricht mehrere Sprachen, ist verheiratet und | |
| sehr flexibel. Auf den Bachelor hat er noch den Masterabschluss in | |
| Wirtschaftswissenschaften gesetzt. Einige Jahre arbeitete er als | |
| Logistikmanager – bis er mit Mitte 30 beschloss, ins Ausland zu gehen, um | |
| noch mehr rauszuholen aus seinem selbstunternehmerisch angelegten Leben. | |
| Wie Herr T. machen es viele Deutsche. Sie absolvieren Praktika in anderen | |
| Ländern oder heuern als Saisonhilfen im Nicht-EU-Ausland an, etwa in der | |
| Schweizer Feriengastronomie. Manche werden ganz offiziell von den | |
| Arbeitsagenturen in die Ferne vermittelt. | |
| Es gibt sogar welche, die lassen sich bei ihrer persönlichen Globalisierung | |
| filmen: „Die Auswanderer“ heißt eine Dokusoap auf Vox, die | |
| BundesbürgerInnen dabei begleitet, wie diese – oft ohne jede Sprachkenntnis | |
| – etwa ins gebeutelte Spanien ziehen, um dort schwarz-rot-goldene | |
| Bierlokale aufzumachen. „Immer noch besser als Hartz IV“, sagen manche und | |
| haben damit vermutlich recht. | |
| Herr T. ist auch so ein zupackender Typ Mensch. Ganz klein fing er im | |
| Ausland neu an, als Reinigungskraft. Plötzlich verfrachtete man ihn dort | |
| ins „Gefängnis“ – in Abschiebehaft. Statt seine eigenen Brötchen zu | |
| verdienen, musste er essen, was ihm vorgesetzt wurde und „den ganzen Tag | |
| aus dem Fenster schauen“. Man sagte ihm, er müsse Asyl beantragen – dabei | |
| wollte er doch gar nichts von diesem fremden Staat, nur mitarbeiten! Nun | |
| will er nur noch eines: schnell zurück nach Hause, wo man „über Nacht zum | |
| Millionär werden“ kann. | |
| Herr T. heißt Bello Taofik und kommt aus Nigeria. Die Zeit in Deutschland | |
| sei erniedrigend gewesen, nie würde er seine Kinder hinziehen lassen, sagt | |
| er. „Aber wenigstens ist es eine Erfahrung. Ich habe was von der Welt | |
| gesehen.“ Herr Taofik betrachtet sich als Weltbürger, und seine Geschichte | |
| ist in dem Buch „Blackbox Abschiebung“ nachzulesen, das kürzlich im | |
| Suhrkamp Verlag erschien. Der Autor Miltiadis Oulios lässt darin „Leute, | |
| die gern geblieben wären“, zu Wort kommen. | |
| ## Systemfragen aus der Mittelschicht | |
| So naiv wie Herr Taofik vielleicht an die Sache mit der Globalisierung | |
| herangegangen ist, so naiv erscheint auf den ersten Blick auch seine Idee | |
| des Weltbürgertums – die Vorstellung, dass alle überall die gleichen Rechte | |
| und Möglichkeiten haben sollten, unabhängig von Hautfarbe oder Besitz. | |
| Tatsächlich drängt genau jene Weltbürgeridee dieser Tage mit Macht nach | |
| vorn: Ob in Rio oder Istanbul – rund um den Globus formieren sich neue | |
| Bürgerrechtsbewegungen, und die Proteste gehen längst über sympathisch | |
| verzottelte Occupy-Camps hinaus. Fast immer ist es die prekarisierte | |
| Mittelschicht, und fast immer geht es um die ganz großen, die | |
| „System“-Fragen. Aus der Renaissance stammt die Utopie des | |
| „Kosmopolitismus“, die Sozialisten träumten vom „Internationalismus“. | |
| Vielleicht wird ausgerechnet jetzt, im doofen Kapitalismus, mithilfe der | |
| noch dooferen Instrumente Twitter und Facebook, doch noch was daraus? | |
| Es gibt sogar eine Initiative, die streitet für ein demokratisches | |
| „Weltbürgerparlament“ auf UNO-Ebene: die internationale UNPA-Kampagne. 2007 | |
| hat sie sich formiert, im Oktober wird sie einen neuen Anlauf nehmen, mit | |
| ihrer fünften Sitzung, diesmal in Brüssel, und einer weltweiten | |
| Aktionswoche. | |
| 860 Abgeordnete aus über 150 Ländern und gut 360 NGOs haben den „Aufruf für | |
| die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung bei den UN“ schon | |
| unterzeichnet. Das klingt immer noch ziemlich utopisch, zugegeben. Aber es | |
| ist ein weiterer, durchaus gut organisierter Ansatz zu einer Globalisierung | |
| von unten – ein Gegenentwurf zu den überall neu erblühenden | |
| nationalistischen Bewegungen. | |
| ## Selbst gebastelter Weltbürgerpass | |
| Albert Einstein und Jean-Paul Sartre zählen zu den Vorkämpfern der Idee. | |
| Sie trugen einen „Weltbürgerpass“, ein symbolisches Ausweispapier, das man | |
| heute im Internet bestellen kann, für 45 bis 100 US-Dollar, je nach | |
| Laufzeit. | |
| Ausgedacht hat sich das Ganze der US-Politaktivist Garry Davis, und zwar | |
| vor 65 Jahren: Im Sommer 1948, Europa liegt in Trümmern, platzt Davis, | |
| damals 26, in Paris in eine UN-Sitzung und stellt sich als erster | |
| offizieller „Weltbürger“ vor. Seinen US-Pass hat er abgegeben, stattdessen | |
| wedelt er mit seinem selbst gebastelten Ausweis herum. Als Bomberpilot hat | |
| er in Europa Tausende Zivilisten getötet und wurde selbst von den Nazis | |
| abgeschossen. Die neu gegründete UNO soll solche Gräuel künftig verhindern | |
| – und Davis nimmt die Idee einfach wörtlich: Jawohl, eine demokratische | |
| Weltregierung für alle Bürger der Erde müsse her, und von ihm aus könne es | |
| gleich damit losgehen. | |
| Rund zwei Millionen „Weltbürgerpässe“ soll Davis seither in Umlauf gebrac… | |
| haben, über die von ihm gegründete Global Citizens Initiative. Auch der | |
| Dalai Lama und Julian Assange besitzen einen solchen „World Passport“ – | |
| ehrenhalber, wie Davis erklärte. | |
| Kürzlich, am 24. Juli, ist er im Alter von 92 Jahren gestorben. Als | |
| Humanist begriff er sich selbst. Tatsächlich ist er ein politischer | |
| Visionär, der immer wieder auf die kriegerische Kraft der Ökonomie hinwies: | |
| In den UN-Gremien würden wieder nur „Partikularinteressen“ abgeglichen, | |
| sagte er 1948. Nötig sei aber der Schutz jedes Einzelnen, egal wo er oder | |
| sie lebe und vor allem unabhängig vom „scharfen ökonomischen Wettbewerb“, | |
| der zwischen den Nationalstaaten weitertobe. | |
| ## Weltbürger oder Weltmärkte? | |
| „Finanzkrise“ oder „Bankennot“ heißen heute die Schlachtfelder. | |
| Kriegstreiber sind mächtige Konglomerate, die von anonymen „Shareholdern“ | |
| beherrscht, von bangen Regierungen umschleimt werden und mit | |
| „Standortvorteilen“ nur so um sich ballern. | |
| Das führt etwa dazu, dass diejenigen, die Smartphones oder süße T-Shirts | |
| herstellen, mitunter ganz hässlich verbrennen in ihren | |
| 16-Stunden-Schichten. Napalm wird da keines geworfen. Es genügt, dass man | |
| irgendwo weiter westlich schicke Sachen günstig einkaufen will. Die | |
| Bedingungen werden von oben nach unten durchdiktiert – grenzüberschreitend | |
| und so unverschämt, dass längst auch den Wohlstandszivilisten mulmig wird. | |
| Es sind ja nicht nur die in Grund und Boden austerisierten Griechen und die | |
| so gut wie abgehängten Spanier, sondern auch die Schweizer, Israelis und | |
| Deutschen, die – hoppla! – ihre Mieten kaum noch bezahlen können, die | |
| ausgequetschten Mittelschichten der „Arabellion“ und die vielen Amerikaner, | |
| die sich als „99 Prozent“ begreifen. | |
| Ihnen wie auch den „ehrgeizigen Chinesen“ und den brennenden Bangladeschern | |
| wird letztlich das Gleiche erzählt: dass der „Druck der internationalen | |
| Märkte“ schuld sei an ihren Existenzsorgen. Die Frage ist, wie lange die | |
| Menschen sich auf diese Art noch gegeneinander ausspielen lassen wollen. | |
| Ein „Weltmann“ zu sein bedeute, „die Verhältnisse zu anderen Menschen und | |
| wie’s im menschlichen Leben zugeht“ zu kennen, schrieb Immanuel Kant. Wie�… | |
| im Leben der „anderen“ zugeht, wissen wir längst; auch dass eine gewaltige | |
| neue Wanderungsbewegung eingesetzt hat, getrieben vom ökonomischen | |
| Überlebenskampf. Zu den derzeit am schnellsten aufstrebenden Städten mit | |
| den meisten Zuwanderern zählt nicht Berlin – sondern Lagos, die Hauptstadt | |
| Nigerias, die Heimat des global gesonnenen Herrn Taofik und, wer weiß, | |
| vielleicht in Zukunft der Sehnsuchtsort europäischer Erwerbsloser. | |
| Der „Mann von Welt“, das war einmal der weiße Patriarch, der in | |
| Hinterzimmern diskrete Aktenkofferdeals tätigte und seine Einzelinteressen | |
| als das Interesse der Vielen verkaufte. Es ist an der Zeit, dass er seinen | |
| Platz für den „Weltbürger“ räumt. Und der „Weltbürger“ wird nicht u… | |
| eine Hautfarbe haben, die an faden Streichkäse erinnert. Der „Weltbürger“ | |
| wird ganz selbstverständlich auch eine Frau sein. Garry Davis war | |
| vielleicht ein bisschen zu früh dran mit seiner Vision – kein Grund, den | |
| Strang jetzt nicht wiederaufzunehmen. | |
| 4 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katja Kullmann | |
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