Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay zu Nation und Zukunft: In Globalitätsgewittern
> Nationen sind mediengeborene Kollektive, also nichts als Mythos. Was es
> braucht, ist eine Neuerfindung des Fremden und des Eigenen.
Bild: Usbekistan oder Ulm – beides kann heute überall sein
Man wird, wohin man auch reist, dem Eigenen nicht entkommen. Das Eigene ist
in und um uns herum, ist in Städten und Landschaften, die man noch nie
gesehen oder bereist hat. Das Eigene und das Fremde, wie wir sie bislang
kannten, sind eine Fata Morgana, ein Blendwerk, eine vergangene
Glaubensvorstellung, die auf den Märchenerzählungen verunsicherter
Zeitgenossen basiert.
Die nächste Reise führt einen vielleicht in die Oasenstadt Chiwa im
Nordwesten Usbekistans. Fremder geht es kaum, denkt man. Chiwa ist über
2.500 Jahre alt, liegt am Rande der Kysylkumwüste und war ein wichtiges
Handelszentrum der historischen Seidenstraße. Die Moscheen und Minarette,
die von einer mächtigen Befestigungsanlage umrahmt werden, flimmern
gleißend in der Mittagssonne. Bärtige alte Männer in breiten Gewändern
flanieren durch die Altstadtgassen. Aus den Innenhöfen der Häuser hört man
das Blöken der Ziegen und Schafe. Eine Stadt am Ende der Welt, ein
Seidenstraßen-Märchenland-Traum wie aus 1001 Nacht.
Doch dann, am Abend, geht man in sein Hotel mit freiem WLAN. Man liest auf
dem Smartphone die neuesten Nachrichten, sieht im Mail-Account ein Video
von seinem Kind, das zeigt, wie es vor ein paar Stunden mit einem
Kita-Kumpel in einem Berliner Park Ameisen gezählt hat und verabredet sich
mit einem Freund via Facebook für nächsten Dienstag zum Abendessen in einem
syrischen Restaurant in Neukölln. Danach schaltet man den Hotelfernseher
ein und es läuft das Spiel Bayern München gegen Borussia Dortmund. Live.
Mit deutschem Kommentator. Mitten in Usbekistan.
Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, jenes Eigene im Fremden,
findet sich in nahezu allen Bereichen des globalisierten Lebens. Ich war in
New York und in Kalifornien, ohne jemals dort gewesen zu sein. Mein T-Shirt
hat eine Näherin in Bangladesch fabriziert, die deutsche Telefonauskunft
sitzt im südindischen IT-Standort Bangalore und in der Innenstadt von
Tiflis befinden sich, wie in nahezu allen anderen Städten der Welt, die
immer gleichen Markenfilialen der globalen Handelsketten. Das Fremde hat
unsere Haut, unsere Mägen und Gehirne erobert, ist in seiner Pluralität zu
unseren Eigenheiten geworden.
## Nationen sind mediengeborene Kollektive
Früher waren das Fremde und das Eigene noch klar definiert. In vormodernen
Zeiten, in dörflichen Gemeinschaften, war das Sein übersichtlich und
vorherbestimmt: Das Fremde begann für diese Gemeinschaften an ihrer
Dorfgrenze. Gewiss gab es damals auch weitverzweigte Handelsbeziehungen. So
wurden auf der Seidenstraße Waren über Tausende Kilometer transportiert.
Auf jenen Handelsstrecken verbreiteten und vermischten sich Religionen und
Kulturen. Der Buddhismus gelangte bis nach China und Japan; Papier, Gewürze
und Schwarzpulver zogen von Osten nach Westen. Die Araber brachten das
Dezimalsystem vermutlich bereits im 10. Jahrhundert nach Europa. Im
Gegensatz zu heute breiteten sich die Kultur- und Technologietransfers
langsam aus, über Jahrhunderte. Das Fremde berührte die lokal gewachsenen
Strukturen meist nur peripher.
Das Fremde, wie wir es kennen, ist hingegen eine Erfindung des modernen
Industriezeitalters. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict
Anderson hat in seinem Klassiker der Nationalismusforschung „Die Erfindung
der Nation“ dargelegt, dass erst die Ausdehnung des Buch- und Druckmarktes
es Menschen ermöglichte, sich über größere Räume hinweg als vorgestellte
Gemeinschaften zu definieren. Nationen sind mediengeborene Kollektive, in
denen zusammenwächst, was gemeinsam liest, hört, sieht und neuerdings im
Internet gemeinsam chattet.
Auf dem Gebiet heutiger Nationen gab es viele verschiedene Sprachen,
Traditionen, Ethnien und Kulturen, die erst durch die Einführung einer
nationalen Schulpflicht, die Standardisierung von Landessprachen und die
Mythologie einer nationalen Geschichtsschreibung seit dem 18. Jahrhundert
zu modernen Nationalstaaten wurden. Das Fremde wurde in das Eigene
eingeschrieben: Millionen von Menschen, die sich nie im Leben sehen oder
begegnen werden, begriffen sich nunmehr als homogene
Nationalgesellschaften. Das Fremde begann jetzt an den Schlagbäumen
nationaler Landesgrenzen.
Im 21. Jahrhundert wird uns die Nation selbst zur Tradition: Das Fremde ist
nur noch einen Mausklick weit entfernt, die globalen Nachrichtenströme und
die Macht der Imagination möglicher Leben lassen sich nicht mehr durch
nationalidentitäre Machtcontainer kontrollieren. Die Verdichtung der Welt
durch globale Migrations- und Tourismusbewegungen, die zunehmende
Interdependenz der Weltwirtschaft, die Gleichzeitigkeit möglicher
Lebensentwürfe in den digitalen Netzwerken: All das macht aus dem Fremden
das Eigene und aus dem Eigenen das Fremde.
## Die AfD ist kein deutsches Phänomen
Wir erleben gerade, an der Epochenschwelle der digitalen Revolution, das
Zeitalter des kosmopolitischen Nationalismus. Es ist eine Gleichzeitigkeit
zweier Phänomene, die momentan wieder in Richtung des Nationalismus
schwingt. Während die einen, die Liberalen, Linken und Konservativen,
versuchen, die Nation in kosmopolitische Strukturen zu integrieren,
versuchen die anderen, die Neuen Rechten Bewegungen, genau dies zu
verhindern. Im Gegensatz zum modernen Nationalismus, der nach innen
vielfältige Ethnien, Kulturen und Sprachen homogenisierte und nach außen in
Konkurrenz zu anderen Nationen trat, pflegt der rechte kosmopolitische
Nationalismus den Widerstand gegen die Globalisierung. Es ist ein
protektionistischer Nationalismus, der das Eigene – die Heimat, Identität
und nationale Wirtschaft – gegen die globale „Durchmischung“ zu verteidig…
versucht.
Die AfD ist kein deutsches Phänomen. Orbán in Ungarn, Putin in Russland, Le
Pen in Frankreich, Erdoğan in der Türkei, Modi in Indien oder Trump in den
Vereinigten Staaten: Sie alle eint die globale Bewegung des Nationalen. Das
Paradoxe an der Ideologie der Neuen Rechten ist allerdings, dass sie sich
krampfhaft an etwas klammert, das es nicht mehr gibt. Rechte fordern und
behaupten Maximalidentitäten des Mannseins, Frauseins, Nationalseins,
Christ-, Hindu- oder Muslimseins, obgleich diese so nicht mehr existieren.
Im Windschatten der digitalen Globalisierung werden die alten Traditionen,
Identitäten und Institutionen hinweggefegt. Das Eigene und das Fremde haben
sich ausdifferenziert, sind vielfältiger, unübersichtlicher, ambivalenter,
offener und auch freiheitlicher geworden.
Die Liste der neuen Fremd- und Eigenheiten im Zeitalter des
kosmopolitischen Nationalismus ist nahezu endlos: Die globale
Klimaerwärmung ist nicht das Fremde, sondern das Eigene. Der Klimawandel
kennt, ebenso wie globale Unternehmen, keine nationalen Grenzen. Pausenlos
fließen, neben all den Import- und Exportgütern, unsere persönlichen Daten
algorithmusgesteuert durch die globalen Kommunikationsnetzwerke. Man wird
Datenhandel und eine rasende Weltökonomie nicht durch nationale Gesetze
kontrollieren können. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die
Urbanisierung sowie vielfältige Migrationsbewegungen haben aus der einen
Heimat viele Heimaten gemacht. Man kann sich zugleich als Schwabe,
Deutscher, Istanbuler und Europäer fühlen. Es gibt mannigfaltige Glaubens-
und Geschlechtsidentitäten, die sich von den Eindeutigkeiten des Eigenen
und des Fremden befreit haben.
Das Nichteingeständnis neuer Identitätsspielräume führt bei den Neuen
Rechten zu seltsamen Erscheinungsformen. So hat Alice Weidel, die
Ko-Vorsitzende der AfD, die im schweizerischen Biel mit einer aus Sri Lanka
stammenden Schweizerin in einer lesbischen Beziehung lebt, kürzlich dem
deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel vorgeworfen, kein Deutscher zu
sein, da dieser es in einigen Artikeln gewagt hatte, sich über die
Fremdenfeindlichkeit einiger seiner Mitbürger in seinem Heimatland
Deutschland lustig zu machen. Mit ihrer Frau hat Alice Weidel zudem zwei
Söhne adoptiert. Wer ist jetzt deutsch? Wer schweizerisch? Wer türkisch?
Wer sri-lankisch? Wer ist der Vater? Wer die Mutter? Wo ist die Heimat? Was
ist das Eigene? Und wo beginnt das Fremde?
## Es braucht einen transnationalen Ordnungsrahmen
In den Zwischenräumen des 21. Jahrhunderts haben sich das Fremde und Eigene
in eine Pluralität der Fremd- und Eigenheiten transformiert, um deren
Neugestaltung ein erbitterter Kampf entstanden ist. Um zu verhindern, dass
der Nationalismus als Mythos, als Identitäts-, Reform- und
Modernisierungsersatz die Massen in einer Zeit der sozialen Umbrüche und
kulturellen Neuformationen wieder mobilisiert, bedarf es – jenseits der
alten Fremd- und Eigenzuschreibungen – eines neuen transnationalen
politischen Ordnungsrahmens, der nach innen gleiche Rechte, Pflichten und
Lebenschancen all seiner Bürger gewährleistet und nach außen, im
Zusammenspiel mit anderen großen Macht- und Kulturräumen, eine neue
Weltordnung aufbaut, in der identitätspolitische Anerkennungsverhältnisse,
ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeiten keine zahnlosen
Tiger sind. Die Europäische Union könnte dabei zu einem wegweisenden Modell
werden.
„Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt“, schrieb Robert Musil in seinem
„Mann ohne Eigenschaften“, „und niemand wird bezweifeln, dass er seine
Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man
Möglichkeitssinn nennen kann.“ Nur wenn wir – anders als die
protektionistischen Rückbesinnungen auf die Maximalidentitäten des
Eigenen, die zwangsläufig zu neuen Diskriminierungen und Kriegen führen
würden – die Möglichkeitssinne und -spielräume der Menschen mit all ihren
komplexer gewordenen Fremd- und Eigenheiten anerkennen und erweitern, wird
es uns gelingen, die bereits durch und durch kosmopolitisierte Wirklichkeit
neu und friedlich zu gestalten.
21 May 2018
## AUTOREN
Alem Grabovac
## TAGS
Fremde
Globalisierung
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Grundgesetz
Schwerpunkt Rassemblement National
Globalisierung
Uno
## ARTIKEL ZUM THEMA
Essay zu Nation, Werten und Grundgesetz: Generation Weltbürger
Vor Kurzem ist Yannick Haan Deutscher geworden. Das Konzept Nation bedeutet
ihm dabei weniger als das Grundgesetz. Warum, schreibt er hier.
Frankreichs führender rechter Clan: Nicht mehr in Opas Namen
Marion Maréchal-Le Pen möchte künftig nur noch Madame Maréchal genannt
werden. Schert sie damit aus dem Front-National-Lager aus? Wohl kaum.
Ulrich Brand über 40 Jahre BUKO: „Raum für radikale Einsatzpunkte“
Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) organisierte einst große
Anti-Globalisierungs-Proteste. Nun wird sie 40 und leidet unter
Bedeutungsverlust.
Debatte Globalisierung: Weltbürger, vereinigt euch!
Bislang kennen wir die Globalisierung nur „von oben“, aber nun formiert
sich eine Gegenbewegung: Eine Alternative zur Konkurrenz der Ausgebeuteten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.