# taz.de -- Corona: Queere Community verunsichert: Die Krise meistern | |
> Die Existenz der queeren Infrastruktur steht wegen Corona auf dem Spiel. | |
> Wie wird queeres Leben nach der Krise aussehen? Eine erste | |
> Bestandsaufnahme. | |
Bild: SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber: „Wir werden die Letzten sein, di… | |
BERLIN taz | Der neueste Streit in Berlins queerer Community begann am | |
Abend des 15. April, zeitgleich mit der politischen Entscheidung, auch in | |
Berlin wegen der Coronakrise bis Ende August keine Großveranstaltungen | |
stattfinden zu lassen. Er entspann sich um jene Frage, über die Berlins | |
Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans* und Inter* seit über 40 Jahren am | |
liebsten streiten: Was wird aus dem [1][Christopher Street Day, dem | |
Berliner CSD]? | |
Der seit Februar sich neu im Amt befindende [2][Vorstand des CSD-Vereins] | |
hatte gleich nach der Entscheidung angekündigt, den CSD „wirkmächtig | |
digital zu stellen“. Für den bekannten schwulen Blogger und Aktivisten | |
Johannes Kram ein Unding. Auf Facebook wetterte er: „Der CSD als Marke, die | |
irgendwo stattfinden muss. Dann halt im Internet. So ein Blödsinn. Ja, man | |
kann eine Cola-Marke auch im Internet inszenieren. Aber man kann keine Cola | |
im Internet trinken.“ | |
Seitdem wird diskutiert. Im Gespräch mit der taz sind Vorstand Ralph | |
Ehrlich und Vorständin Dana Wetzel sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht. | |
„Natürlich werden wir nicht nur auf Facebook ein Fähnchen schwenken“, sagt | |
Ehrlich, „der virtuelle CSD soll genauso vielfältig werden wie der reale. | |
Wir arbeiten an neuen Konzepten, Künstler*innen, Aktivist*innen werden zu | |
Wort kommen. Wir sind auch mit großen Fernsehanstalten im Gespräch.“ Und | |
Wetzel glaubt: „Man hat die Chance, online sogar mehr und andere zu | |
erreichen, die sonst nicht auf einen CSD gehen. Die allermeisten können | |
sich noch nicht vorstellen, was wir vorhaben.“ | |
Doch auch dem CSD-Vorstand ist klar: „Eine digitale Demo mit all den | |
Emotionen, das kriegt man einfach nicht hin!“ Und darum, sagt Wetzel, | |
werden die Maßnahmen „der aktuellen Lage ständig angepasst, und sollte bis | |
dahin etwas möglich werden, werden wir es auch sofort umsetzen. Und sei es | |
auch nur eine Aktion mit bis zu 50 Personen. Wir werden immer das Maximale | |
rausholen, was rechtlich möglich ist. Die Botschaft ist uns wichtig!“ | |
## In vier Jahrzehnten aufgebaut | |
Der Streit über die Zukunft des CSD 2020 spiegelt die tiefe Verunsicherung, | |
die Berlins queere Community seit dem Beginn der Coronakrise erfasst hat. | |
Im Mahlstrom der Ereignisse droht fast alles vernichtet zu werden, was | |
Aktivist*innen in über vier Jahrzehnten an Strukturen aufgebaut haben. Dazu | |
kommen Ängste und seelische Ausnahmesituationen für viele Menschen aus | |
einer auch in weniger krisenhaften Zeiten äußerst vulnerablen Gemeinschaft. | |
Eine von denen, [3][Berlins größte Dragqueen, Gloria Viagra], mit Stöckeln | |
um die zwei Meter zehn groß, sitzt die Coronakrise auf ihrer kleinen | |
Datsche aus und überlegt, sich einen Halbtagsjob zu suchen. Noch überbrückt | |
die Soforthilfe des Berliner Senats die auftrittslose Zeit. Doch schon die | |
Bundeshilfe sei für freie Künstler*innen schwachsinnig, sagt Gloria, „denn | |
wir haben weder Büromieten noch Leasingverträge zu laufen“. | |
Viagras größte Sorge aber: Wie wird queeres Leben in Berlin nach der Krise | |
sein? „Noch halten alle durch, aber langsam geht es los mit Insolvenzen, | |
persönlicher Verelendung. Ob unsere Clubs, unsere Bars, unsere Medien | |
durchhalten?“ | |
## Spendenaktion fürs Magazin | |
Seit 1984 ist die [4][Siegessäule] de facto das Zentralorgan, erst der | |
schwulen, dann der schwullesbischen und heute der queeren Community der | |
Stadt. Das Monatsmagazin mit über 50.000 Auflage und Hunderten von | |
Verteilstationen überall in Berlin steht mitten in der größten Krise seiner | |
fast 40-jährigen Existenz. | |
„Die Absage des Straßen-CSD macht die Lage für uns erheblich schwerer“, | |
sagt Manuela Kay, eine der beiden Inhaberinnen des Verlags. Die CSD-Saison | |
ist jeden Sommer der große Umsatzbringer. Seit Mitte März sind dem Magazin | |
nicht nur 80 Prozent des Anzeigenvolumens weggebrochen, sondern auch ein | |
großer Teil des Vertriebsnetzes. Die Verlegerinnen sahen sich gezwungen, | |
eine Spendenaktion ins Leben zu rufen [5][(taz berichtete)]. | |
Unerwartete Unterstützung kam von dem [6][Fotografen Wolfgang Tillmans], | |
der, so beschreibt es Manuela Kay, „wie ein Engel dahergeschwebt kam und | |
Künstler zusammenscharrte, deren Kunstwerke an jene gehen, die uns mit Geld | |
unter die Arme greifen“. 150.000 Euro ist das Spendenziel, aber auch diese | |
Summe würde die Siegessäule nicht bis zum Jahresende tragen, wenn die | |
CSD-Saison ins Wasser fällt. | |
Immerhin: Das Maiheft wird gedruckt und Berliner Firmen zeigen sich darin | |
solidarisch, indem sie gegen Geld ihre Logos abdrucken. Und die Hoffnung | |
bleibt, dass Anzeigenkunden während der CSD-Saison weiterhin Flagge zeigen | |
wollen. „Gut tut uns, dass wir gerade viele rührende Botschaften erhalten | |
und Solidarität erleben.“ Für Kay geht es in der Coronakrise nicht nur um | |
ihren Verlag und seine Mitarbeiter*innen, sondern um die Institution als | |
solche: „Wenn die,Siegessäule' untergeht, geht ein wesentlicher Bestandteil | |
der LGBT-Community unter!“ | |
[7][Sylvio Jaskulke betreibt die Scheune in Schönebergs Motzstraße], mitten | |
im schwulen Kiez. Die Gegend um den Nollendorfplatz war schon vor Corona in | |
schwerem Fahrwasser: Mieterhöhungen und Gentrifizierung, Probleme mit | |
Taschendieben. Gerade erst war ein durchaus kontrovers diskutiertes | |
Sicherheitskonzept für den Kiez verabschiedet worden, sogenannte | |
Nachtbürgermeister sollten für Ordnung sorgen. Doch jetzt sind die Straßen | |
nachts eh leergefegt, die Sexshops und Bars geschlossen. | |
## Angestellte auf Kurzarbeit | |
Jaskulkes finanzielle Lage bleibt schwierig. Gerade erst hatte er seinen | |
Cruisingkeller für 80.000 Euro umbauen lassen, der vor zwei Jahren wegen | |
baulicher Auflagen geschlossen worden war. Nun gab es eine Finanzspritze | |
von 14.000 Euro, alle Zahlungen bis auf Miete und Strom hat er gestoppt. | |
Mit den zinslosen Krediten müsste er ein paar Monate über die Runden | |
kommen. Die Angestellten sind auf Kurzarbeit. | |
Die Lage der Scheune ist typisch für die alteingesessenen Kiezkneipen, die | |
durch Vereine wie den Regenbogenfonds gut miteinander vernetzt sind. | |
„Schöneberg hält durch!“ lautet deshalb Sylvio Jaskulkes Botschaft an die | |
queere Community. Auch wenn das beliebte lesbisch-schwule Stadtfest im | |
Nollendorfkiez – es sollte Ende Juli zum 28. Mal stattfinden – ersatzlos | |
gestrichen werden musste. | |
Ähnlich wie Jaskulke geht es auch seinem Kollegen [8][Reinhard Wöbke, dem | |
Besitzer des Blond], zwei Ecken weiter. Wöbke ärgert sich aber darüber, | |
dass es überhaupt so weit kommen musste: „Wenn die Politik sofort reagiert | |
hätte und die Gesundheitsämter schneller gewesen wären, dann könnten wir | |
diesen Sommer unter bestimmten Bedingungen aufmachen, das ist nun mal | |
unsere Hauptsaison“, sagt Wöbke. „Da muss das Ordnungsamt bei den Tischen | |
draußen mal ein Auge zudrücken, damit wir den Abstand einhalten können, und | |
den Cocktail trinken wir mit Strohhalm, das finde ich nicht so | |
problematisch.“ | |
[9][Der Südblock am Kottbusser Tor] ist zu anderen Zeiten so etwas wie | |
Kreuzbergs Queer Central. Jetzt treffen sich regelmäßig Stammgäste aus der | |
Nachbarschaft, mit Mundschutz und Mindestabstand, vor der geschlossenen | |
Institution und reden miteinander. Ein Bild, das Richard Stein, einen der | |
Geschäftsführer, fröhlich und traurig zugleich macht. | |
## Der eigentliche Verlust | |
„Ich stamme aus einer Generation, der es immer wichtig war, queere Orte zu | |
schaffen und Begegnungen möglich zu machen“, sagt Stein. „Gastronomie war | |
für uns ja eher ein unternehmerisches Vehikel, um solche Orte möglich zu | |
machen – und das ist in dieser Krise der eigentliche Verlust. Und nichts | |
deutet derzeit darauf hin, dass wir in den nächsten Monaten dahin | |
zurückkehren werden.“ | |
„Was für Auswirkungen das in der queeren Welt haben wird – da fehlt uns | |
allen momentan noch die Vorstellungskraft.“ Richard Stein fehlt vor allem | |
eine langfristige Perspektive: „Wir gehen davon aus, dass die Umsätze um | |
mehr als die Hälfte zurückgehen werden, auch wenn wir wieder aufmachen | |
dürfen.“ | |
Ihn ärgert, dass für einen Betrieb dieser Größe kein Instrument der | |
Soforthilfe gegriffen hat. Außerdem ist weder bei den Angestellten des | |
Südblocks noch irgendwo sonst bis heute das versprochene Kurzarbeitergeld | |
eingetroffen. Die meisten Unternehmen haben es vorfinanziert, auch der | |
Südblock, „was uns nervös macht“, sagt Stein. Dramatisch ist die Situation | |
der Minijobber, für die nur der Weg ins ALG2 bleibt. | |
## Spendenaktion für Minijobber | |
Um genau jenen zu helfen, haben auch Paul Gräbner und Sabine Holzman vom | |
[10][Neuköllner Silver Future] eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Mit | |
dem Geld konnten sie ihren Minijobbern wenigstens die zweite Märzhälfte | |
komplett bezahlen, für den April „haben die Kolleg*innen das Geld dann | |
selbst unter sich nach Bedürftigkeit verteilt“. | |
Für die Zukunft ist Gräbner skeptisch. „Eine Bar lebt vom Gedränge am | |
Wochenende, eine Öffnung unter den Bedingungen von Corona lohnt sich in | |
keiner Weise.“ Zu den Gästen des Silver Future gehören vor allem jüngere, | |
linke Queers. „Natürlich ist eine offene Bar kein Safe Space“, sagt Paul | |
Gräbner, „aber ich weiß, dass unsere Gäste diesen sichereren Ort vermissen, | |
wo man mal so sein kann, wie man ist.“ | |
Ums Überleben kämpft auch [11][eine der wichtigsten Institutionen des | |
queeren Berlins, das SchwuZ.] Entstanden aus der schwulen | |
Emanzipationsbewegung der späten Siebziger, war es bis zum Ausbruch der | |
Krise der größte queere Club der Stadt und für viele queere Menschen eine | |
Art Heimat. | |
„Jetzt ist klar“, sagt Geschäftsführer Marcel Weber, „dass wir nicht nur | |
die Ersten waren, die zugemacht wurden, sondern auch die Letzten sein | |
werden, die wieder aufmachen. Wir kämpfen weiter, denn das können wir, aber | |
es ist natürlich furchtbar belastend.“ | |
## „Spendenbereitschaft lässt nach“ | |
Das SchwuZ hat 103 Beschäftigte, davon sind 63 Minijobber, 40 arbeiten | |
Voll- oder Teilzeit. Alle sind auf 100 Prozent Kurzarbeit. Eine | |
Spendenaktion hat bis letzten Mittwoch um die 60.000 Euro eingebracht, das | |
deckt gerade mal die Ausgaben für die Minijobber bis Ende Mai. Zehn Prozent | |
gehen in einen Fonds, mit dem das SchwuZ Künstlerinnen unterstützt, denen | |
der Club verbunden ist, und fünf Prozent gehen an eine Organisation, die | |
sich um queere Geflüchtete an der EU-Außengrenze kümmert, „weil wir die | |
auch nicht zurücklassen wollen“, sagt Weber. | |
„Die Spendenbereitschaft lässt aber nach, wir sind eben nicht die | |
Einzigen“, sagt Weber, „und man merkt, dass auch im queeren Bereich viele | |
vorher schon in prekärer Beschäftigung waren oder jetzt auf Kurzarbeit | |
sind.“ | |
Auch aus seiner Emanzipationsgeschichte heraus liegt dem SchwuZ die | |
Situation der gesamten queeren Community am Herzen: „Was gerade fehlt, ist | |
der Austausch untereinander. Es wäre wichtig, jetzt gemeinsame Aktionen zu | |
machen!“ | |
Das SchwuZ plant, eine dauerhafte Livestream-Situation aufzubauen, „wo wir | |
mit Partnern wie der,Siegessäule' oder den Aidshilfen zusammen Angebote | |
entwickeln, die über einen Musikauftritt hinausgehen, um die Ressource | |
SchwuZ mit der Community auch während der Schließzeiten zu nutzen“, sagt | |
Geschäftsführer Weber. | |
## Koordinierter Kampf ums Überleben | |
Um den Kampf ums Überleben der queeren Community in den nächsten Wochen | |
koordinierter zu führen, hat sich die Deutsche Aidshilfe etwas einfallen | |
lassen. Ihre Präventionskampagne [12][IWWIT.de] – eine Abkürzung für „Ich | |
Weiß Was Ich Tu“ –, hat die Aktion #wirfürqueer ins Leben gerufen. Unter | |
diesem Hashtag bündelt IWWIT.de auf seiner Startseite zusammen mit | |
Medienpartnern wie Siegessäule oder männer.media die vielen | |
Spendenaktionen, die gerade in der queeren Welt laufen, unterstützt und | |
bewirbt sie. | |
Zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie 2020 am | |
17. Mai will die Aidshilfe außerdem im Rahmen von #wirfürqueer eine | |
Online-Veranstaltung durchführen, bei der queere Institutionen und | |
Künstler*innen die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren. | |
Die Aidshilfen können solche Unterstützung besser als andere leisten, weil | |
sie durch ihre fast hundertprozentige Staatsfinanzierung vorerst in ihrem | |
Bestand gesichert sind. Wie sich die Krise allerdings mittel- und | |
langfristig auf ihre Situation auswirken wird, wenn die öffentlichen | |
Kassen leer sind – da wagt zurzeit niemand eine Prognose. Das gilt im | |
Übrigen für alle staatlich geförderten queeren Institutionen, zum Beispiel | |
auch für das Schwule Museum. | |
Was die Aidshilfe aber gerade besonders spürt, ist das enorme | |
Informationsbedürfnis queerer Menschen zu HIV und Covid-19. Pressesprecher | |
Holger Wicht kann da einerseits etwas beruhigen: „Zurzeit gibt es keine | |
Hinweise, dass Menschen mit HIV unter Therapie das Coronavirus schlechter | |
wegstecken als andere.“ Allerdings: „Anders aussehen kann das bei Menschen, | |
die durch HIV schon bestimmte andere Vorerkrankungen haben.“ | |
Aber auch allen anderen bietet die Aidshilfe über ihre IWWIT-Kampagne | |
Online-Beratungsangebote, zum Beispiel im Chat. „Das betrifft nicht nur HIV | |
und Geschlechtskrankheiten, wir sind explizit auch da, wenn Menschen jetzt | |
die Decke auf den Kopf fällt oder sie Depressionen plagen“, sagt | |
IWWIT-Kampagnenleiter Tim Schomann. | |
## Ganz eigene Probleme | |
Mit ganz eigenen Problemen haben trans* Personen in den Zeiten von Corona | |
zu kämpfen, sagt der Wissenschaftler und trans-Aktivist Max Appenroth. Die | |
ärztliche Versorgung mit Hormonen oder Check-ups sei teilweise erschwert, | |
weil viele Praxen sich derzeit im Ausnahmezustand befinden. Die Sorge vor | |
Versorgungsengpässen mit Hormonpräparaten sei groß, weil bestimmte Stoffe | |
für die Hormonproduktion normalerweise aus China stammen und die | |
Lieferketten nicht mehr funktionieren. | |
Traumatisch ist die Situation für alle, deren transitionsbedingte Operation | |
wegen Covid-19 abgesagt wurde. Diese Operationen gelten offiziell nicht als | |
lebensnotwendig. Oft haben die Betroffenen aber jahrelang auf den Termin | |
hingearbeitet. Wegen der veralteten und diskriminierenden Gesetzgebung ist | |
der Weg zur Operation in Deutschland sowieso ein jahrelanger Kampf, | |
gespickt mit Ablehnungen und Einsprüchen. „Für jene trans* Personen, die | |
eine solche OP für sich brauchen, ist das mitunter eine überlebensrelevante | |
Entscheidung“, sagt Appenroth. | |
Zwei Studien sind derzeit in Arbeit, eine, die sich speziell mit der | |
Situation von trans* Personen, und eine weitere, die sich insgesamt mit | |
LSBTI*-Personen in den Zeiten von Covid-19 beschäftigt. „Schon jetzt wird | |
deutlich: Die Zahl derer, die über Gefühle der Einsamkeit berichten, ist | |
bei trans* Personen am höchsten“, sagt Appenroth: „Selbsthilfegruppen und | |
Community-Events sind für viele die einzigen Sozialkontakte und genau das | |
findet auf persönlicher Ebene nicht statt.“ | |
## Kundenanfragen gegen null | |
Mark ist 26 Jahre alt, ist Fotograf und Künstler und lebt hauptsächlich von | |
seinen Einnahmen als Escort. Seit Mitte März hat die Stadt Berlin ihm und | |
allen anderen Prostituierten die Arbeit zu Hause untersagt, eine Woche | |
später kam der Lockdown. Die Anfragen von Kunden gingen rasant gegen null: | |
„Ich hatte noch ein paar, die benutzte Unterwäsche und Socken kaufen | |
wollten, das war’s!“ | |
Für den jungen Mann eine existenzbedrohende Situation, doch es rettete ihn, | |
dass er legal mit Anmeldeschein arbeitet und dadurch als | |
Soloselbstständiger die 5.000-Euro-Soforthilfe des Senats in Anspruch | |
nehmen konnte. | |
Sorgen macht er sich über eine Entwicklung, die er aus eigener Anschauung | |
erlebt: Während das gewöhnliche Business ruht, haben sich die Nachfragen | |
nach Sex auf Drogen wie Crystal Meth, das in der Szene „Tina“ genannt wird, | |
mehr als verdoppelt. Er selbst lehnt solche Anfragen ab, aber: „Unter | |
Berlins Escorts kursiert der Scherz, es gebe keine Quarantäne, sondern | |
Quarantina!“ | |
Conor Toomey, psychologischer Berater bei der [13][Berliner | |
Schwulenberatung], glaubt, dass einige schwule Substanzgebraucher in den | |
Escortbereich ausweichen, weil insgesamt weniger private Sexpartys in | |
Berlin stattfinden. „Dass das so ist, können wir aufgrund unser | |
Beratungsarbeit gut feststellen.“ | |
## Angespannte seelische Situation | |
„Für viele, die Chemsex betreiben, also Sex in der Regel mit mehreren und | |
unter dem Einfluss von Substanzen, ist das ein großer Bestandteil ihres | |
Lebens. Mehr und mehr von ihnen geraten dadurch jetzt in die Isolation und | |
seelische Not“, sagt Toomey. Zurzeit sei die Versorgung mit den Substanzen | |
selbst noch kein Problem, doch je nachdem könnte auch das für die Klientel | |
zunehmend zum Problem werden. Zwar sind die Beratungsstellen, wie auch die | |
Entzugsmöglichkeiten in Berlin weiterhin offen. Tatsache sei aber auch, | |
sagt Toomey, dass sich die Zahl der Rückfälle durch die angespannte | |
seelische Situation stark erhöht: „Da geht vielen langsam die Puste aus.“ | |
Das geht auch den Menschen unter den Sexarbeiter*innen so, die ohne | |
Krankenversicherung oder legalen Aufenthaltstitel in Berlin ausharren. Ralf | |
Rötten vom Verein „Hilfe für Jungs“ berichtet, dass zwar die übergroße … | |
der Jungen aus der Straßenprostitution in ihre Heimatländer zurückgekehrt | |
sei, für den Rest aber sei die Situation noch prekärer geworden. | |
Deshalb hat der Verein die Öffnungszeiten seiner Anlaufstelle um mehr als | |
das Doppelte verlängert. Dort können die jungen Männer duschen, essen und | |
ihre Wäsche waschen, ärztliche Versorgung und soziale Beratung finden | |
statt. Streetworker des Vereins verteilen zudem täglich Lunchpakete an die | |
Jungen, die es nicht zur Anlaufstelle schaffen. Vielen bleibt | |
wirtschaftlich gar keine Wahl, als sich auch in Coronazeiten um Kundschaft | |
zu bemühen. „Ob die Bemühungen allerdings von Erfolg gekrönt sind, das ist | |
wohl relativ selten“, sagt Rötten, aber: „Die Not steigt!“ | |
## Immer wieder Verdachtsfälle | |
Die Berliner Schwulenberatung musste seit dem Beginn ihrer Maßnahmen ihre | |
Face-to-Face-Angebote dramatisch zurückfahren, sowohl an ihrem | |
Hauptstandort in Charlottenburg als auch in der Gesundheitsstation | |
Checkpoint Berlin am Hermannplatz, wo schwule und bisexuelle Männer sowie | |
trans* und inter* Personen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung | |
beraten werden. Dort wird das Personal täglich auf Sars-CoV-2 getestet, die | |
Besuchszahlen sind zurzeit stark rückläufig. | |
Die größten Sorgen bereitet Geschäftsführer Marcel de Groot die von der | |
Schwulenberatung betriebene Unterkunft für geflüchtete LGBT*-Personen. Dort | |
leben zwischen 80 und 90 Menschen jeweils zu mehreren auf einem Zimmer. | |
Immer wieder gab es dort in den vergangenen Wochen Verdachtsfälle auf | |
Covid-19. Zwar hat sich bisher kein Verdachtsfall bestätigt, aber natürlich | |
entstehen dadurch für die Bewohner*innen wie für die Betreuer*innen | |
dauerhaft extreme Stresssituationen in einem sowieso schon schwierigen | |
Umfeld. | |
Aus den telefonischen Beratungen schließt die Schwulenberatung, dass viele | |
Männer gesundheitliche Probleme wie Geschlechtskrankheiten auf die lange | |
Bank schieben, weil sie sich vor einem Arztbesuch fürchten. Die Angst vor | |
Corona führt auch zu vermehrter Einsamkeit und Depressionen. Menschen, die | |
durch die Aidskrise gegangen sind, fühlen sich oft schmerzhaft an diese | |
traumatische Zeit erinnert. | |
## Es wäre „eine Katastrophe“ | |
Holger Wicht, Pressesprecher der [14][Deutschen Aidshilfe] und seit vielen | |
Jahren Teil der Berliner Queer-Community sagt: „Wir laufen jetzt Gefahr, | |
dass große Teile der queeren Kultur ausgelöscht werden. Diese Community ist | |
über Jahrzehnte aufgebaut worden und sichert uns das Leben, das wir führen | |
wollen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie verschwände. Zugleich sehen wir | |
gerade überdeutlich, wie wichtig das alles ist. Vielleicht können wir so | |
ein paar unnötige Streitereien beiseitelegen und an einem Strang ziehen.“ | |
Birgit Bosold vom [15][Schwulen Museum] sieht langfristige Folgen auch auf | |
den institutionell geförderten Teil der Berliner Queer-Szene zukommen: „Die | |
Zuwächse, die es in den letzten Jahren gegeben hat, damit wird erst mal | |
Schluss sein. Und langfristig wird die Frage auftauchen, wer diese ganze | |
Krise bezahlen wird und ob es zulasten der Schwächeren, der sozialen und | |
kulturellen Einrichtungen und damit auch der queeren Community gehen wird.“ | |
Für den Linken-Politiker und Aktivisten Bodo Niendel hat die Krise in | |
Berlins Queer-Community tiefere Ursachen als nur Covid-19: „Queere | |
Menschenrechtspolitik hat sich seit den 1990ern auf rechtspolitische | |
Gleichheit und Antidiskriminierungsarbeit fokussiert. Aber das Soziale | |
wurde ausgeklammert. Nebenbei wurden Arme ärmer und Reiche reicher. Wir | |
sollten jetzt und nach der Krise Solidarität eben auf das Soziale | |
ausweiten. Antidiskriminierungspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn die | |
sozialen Verwerfungen abgebaut, statt vertieft werden. Queer und sozial | |
gehört zusammen. Andernfalls fürchte ich einen massiven Aufwuchs der neuen | |
Nazis.“ | |
Wicht wiederum betont, dass queere Menschen in der jetzigen Krise auch | |
etwas anzubieten haben: ihre Erfahrungen aus der Aidskrise nämlich, die | |
gerade in Deutschland alles in allem gut bewältigt wurde. „Die größte Lehre | |
aus dieser Zeit ist, dass wir eine Epidemie nicht in den Griff bekommen, | |
indem wir jemanden zum Problem erklären, sondern nur gemeinsam. Die Politik | |
muss die Menschen zu Partnern machen und sie dazu befähigen, Verantwortung | |
zu übernehmen. Das ist nicht nur der vielversprechendere Ansatz, sondern es | |
fühlt sich auch für alle besser an. Wir müssen Menschen ermöglichen, Teil | |
der Lösung zu sein, dabei empathisch und solidarisch handeln. Das haben wir | |
in der Aidskrise gelernt.“ | |
Und SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber spricht vielen aus der Seele, wenn | |
er feststellt: „Wir geben nicht auf, wir sind kämpfen gewohnt, wir haben | |
schon viele Kämpfe gewonnen und darum werden wir diesen auch gewinnen!“ | |
Dirk Ludigs | |
25 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://csd-berlin.de/ | |
[2] https://csd-berlin.de/ueber-uns/ | |
[3] https://www.instagram.com/gloria_viagra/ | |
[4] https://www.siegessaeule.de/ | |
[5] /Medien-in-der-Krise/!5677074&s=Siegess%C3%A4ule/ | |
[6] https://www.siegessaeule.de/magazin/wolfgang-tillmans-ich-m%C3%B6chte-helfe… | |
[7] http://www.scheune-berlin.de/ | |
[8] https://www.blond.berlin/ | |
[9] https://www.suedblock.org/wp/?doing_wp_cron=1587731132.85889792442321777343… | |
[10] https://www.silverfuture.net/ | |
[11] https://www.schwuz.de/ | |
[12] https://www.iwwit.de/ | |
[13] https://www.schwulenberatungberlin.de/ | |
[14] https://www.aidshilfe.de/ | |
[15] https://www.schwulesmuseum.de/ | |
## AUTOREN | |
Dirk Ludigs | |
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