| # taz.de -- Queere Bars in Berlin: Gemeinsam streamen, allein durch die Nacht | |
| > Auch in Friedrichshains queerem Partykiez überbrücken Bars und Clubs die | |
| > Zeit mit Livestreams. Barbesitzer und Gäste sehnen sich nach dem Feiern. | |
| Bild: Gay Bar „Capture“ in der Wühlischstraße in Berlin Friedrichshain | |
| BERLIN taz |Manche Straßen in Berlin sind unverwechselbar. Sie sind laut | |
| oder ruhig, dreckig oder geleckt, sie belegen im Polizeiatlas der angeblich | |
| schlimmen Straßen die vorderen Plätzen oder sind ein Eldorado für | |
| Homosexuelle, Transgender und Queers – so wie die Simon-Dach-Straße in | |
| Friedrichshain. Wer hier wohnt (wie der Autor), kriegt gewöhnlich keinen | |
| Schrecken, wenn nachts geklingelt wird. Meist sind das britische Touristen, | |
| die besoffen die Klingeln drücken. Nur eben jetzt gerade nicht. Corona | |
| liegt über der Straße wie ein Sedativum, die Bars und Clubs, aus deren | |
| Fenstern es sonst unruhig schillert, sind geschlossen. Eigentlich. | |
| Es ist einer dieser Corona-Samstage um Mitternacht. Mit Martinshorngeheul | |
| stoppt eine Streife vor einer Schwulenbar. Einwohner haben die Polizei | |
| gerufen, weil dort angeblich gefeiert wird. „Keine öffentliche | |
| Veranstaltung“, steht auf dem Zettel am Fenster. „Falscher Alarm“, sagt | |
| dann auch Mehmet Balıkçı, der gerade die Folie entfernt, die die Barfenster | |
| während der Liveübertragung geschlossen hielt. „Wir dürfen weitermachen, | |
| nachdem die acht Polizisten den Laden wieder verlassen haben.“ | |
| Denn gehört werden soll die Musik nicht in der Kneipe, sondern zu Hause, | |
| bei geschlossenen Clubs und Bars erreicht sie ihr Publikum eben per Stream. | |
| Balıkçı hat die Bar Capture vor einem Jahr in der Wühlischstraße eröffnet, | |
| an der Ecke zur Simon-Dach-Straße, in Nachbarschaft der alteingesessenen | |
| Queer-Bar Himmelreich. | |
| Nach dem Livestream im Capture packen die DJs ihre Sachen zusammen. Zehn | |
| Freunde unterhalten sich beim Bier und denken immer wieder daran, Abstand | |
| zu halten. Es gibt ja genug Platz. Immerhin 200 Zuschauer haben sich die | |
| Liveübertragung aus dem Capture im Internet angeguckt. Balıkçı ist | |
| zufrieden. Sein Publikum scheint die Bar mit den verschiedenen Unterhosen, | |
| die gerahmt an der Wand hängen, zu vermissen. | |
| ## Clubkultur retten | |
| Seit dem 13. März sind alle Bars und Clubs in Berlin geschlossen. Damit die | |
| Clubkultur in Berlin weiterlebt, bringt die Streamingplattform [1][„United | |
| We Stream“] Berliner Clubs unter einem virtuellen Dach zusammen. DJs aus | |
| Clubs wie Watergate, Tresor und Sisyphos versuchen, mit ihrer Musik den | |
| Fans etwas Clubatmosphäre nach Hause zu bringen. | |
| Dabei geht es nicht nur um Spaß, sondern auch darum, die [2][Clubkultur zu | |
| retten]. Deswegen startet die Initiative „United We Stream“ eine | |
| Spendenaktion unter dem Motto „Save Berlin’s Club Culture in Quarantine“. | |
| Innerhalb von ein paar Wochen seit Beginn des Shutdown kam bis 13. Mai eine | |
| Spendensumme von 450.000 Euro allein in Berlin (deutschlandweit rund | |
| 900.000 Euro) zusammen. Acht Prozent der Spendengelder fließen übrigens | |
| woandershin: an den „Stiftungsfonds Zivile Seenotrettung“. | |
| Auch Balıkçı ruft während des Livestreams aus seiner Bar zur Spende für die | |
| Berliner Clubkultur auf. Jedoch sammelt er gemeinsam mit den DJs auch | |
| Spendengelder für die Berliner Obdachlosenhilfe. Anders als die großen | |
| Clubs nutzt das Team ein alternatives Liveübertragungs-Videoportal, auf dem | |
| sich sonst vor allem Menschen für Livevideospiele treffen. | |
| Spenden auf der einen Seite – und auf der anderen die Soforthilfe des | |
| Landes: Der 40-jährige Barmann hat die Coronabeihilfe beantragt und auch | |
| bekommen: 14.000 Euro. Damit könne er die Kosten seiner Bars für die | |
| nächsten drei Monate decken, berichtet Balıkçı. Und höchstwahrscheinlich | |
| könne er danach einen Zuschuss für weitere zwei Monaten bekommen. | |
| ## Strikte WG-Regeln | |
| Balıkçı nennt sich einen „Nachtmenschen“. Unter der Woche steht er | |
| gewöhnlich bis 2 Uhr am Tresen; am Wochenende bis in den Morgen hinein. | |
| „Zu Beginn des Corona-Shutdowns musste ich mich daran gewöhnen, dass ich | |
| nachts jetzt schlafen muss“, erzählt er. „Ich bin kurz davor, verrückt zu | |
| werden.“ Die durch die Coronapanik veränderten Umstände und Verhältnisse | |
| setzten ihm zu. In seiner WG müsse er jetzt Käse- und Milchverpackungen | |
| waschen, bevor er sie in den Kühlschrank stellt. Seine Mitbewohner würden | |
| von ihm fordern, dass er die eigenen Regeln in der WG streng beachtet. All | |
| das abwaschen, was immer man in die Wohnung reinbringt. Er hofft, dass das | |
| bald wieder vorbei ist; er will wieder hinter den Tresen. | |
| „Es wird schon“, sagt Svenja, eine Stammkundin im Capture, die nach der | |
| Session in den frühen Morgenstunden noch am Tresen sitzt. Svenja ist 26, | |
| ihr Hauptjob ist das Festivalbooking. Corona macht auch ihr zu schaffen, | |
| wie allen in der Club- und Festivalbranche. Ihren Nachnamen möchte sie | |
| nicht öffentlich nennen. Mit Svenja stehen mehr als 9.000 Mitarbeiterinnen | |
| und Mitarbeiter, sowie Zehntausende Kunstschaffende in Berlin schlagartig | |
| ohne Beschäftigung da. | |
| Svenja will die Clubkultur in Berlin retten und setzt sich vor allem für | |
| die Queer-Location ein. „Ich fühle mich selbst freier hier“, sagt sie. | |
| „Viele queere Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in ihren | |
| Heimatländern benachteiligt oder verfolgt waren, sind hier in den Kiez | |
| gezogen. Wegen des Nachtlebens“, sagt sie. | |
| ## Geschlossene Bars am Boxhagener Platz | |
| Es ist halb eins. Draußen ist es still in einer der eigentlich heißesten | |
| Partyzonen von Berlin. Wie in osteuropäischen Städten. Weiter zum | |
| Boxhagener Platz: auch so ein Ort, dessen Herzschlag schnell ist. Jetzt | |
| aber sind die Bars, Cafés und Restaurants, die sonst bis tief in die Nacht | |
| geöffnet sind, geschlossen. | |
| Die Tür zur „Grossen Freiheit 114“ ist auch dicht. Jeder Fetisch ist in der | |
| Schwulenbar mit Darkroom – Eigenwerbung: „Männerwirtschaft mit beruhigtem | |
| Gastraum“ – willkommen. Seit 15 Jahren treffen sich Kiezbewohner in ihrer | |
| Stammbar. Nun müssen sie zu Hause bleiben. Nur ein junger Mann in der Nähe | |
| zögert, seinen Späti zu schließen und will noch mal auf der Straße checken, | |
| ob nicht doch noch ein letzter Kunde vorbeikommt. | |
| Tagsüber ist am Boxi selbst in diesen Coronazeiten viel los. Auf einer | |
| kleinen Grünfläche essen Leute ihr Eis, lesen, machen Sport. Die Polizei | |
| hat den Platz vor einigen Wochen schon einmal gesperrt, weil zu viele dort | |
| waren. Trotzdem war der Wochenmarkt am Samstag danach wieder übervoll (wie | |
| jeden Samstag). Menschenschlangen drängten sich an den Ständen für Käse | |
| oder Gemüse. Manche kommen sich einander ziemlich nahe. Rodrigo*, eine | |
| Zufallsbekanntschaft, erzählt das um zwei Uhr nachts. „Und warum heißt es | |
| dann nicht Corona-Wochenmarkt-Party?“ Rodrigo lacht über die Frage. „Weil | |
| es keine Drogen gibt“, antwortet er. Er ist Ende 20 und macht einen | |
| Spaziergang, bevor er ins Bett geht. Um danach vielleicht endlich schlafen | |
| zu können. | |
| ## Raus unter Menschen | |
| Drogen gehören zu seinem Wochenende. Er nimmt psychoaktive MDMA oder das | |
| Narkosemittel Ketamin. Am besten beide, je nachdem wie lange die Party | |
| dauert. Vor dem Chemsex [Sex unter Drogeneinfluss; Anm. d. Red.] habe er | |
| keine Hemmung. GHB wird vor allem auf Schwulenpartys konsumiert. „Ich werde | |
| aufgedrehter und ich kann länger Sex haben. Das ist ein schönes Gefühl“, | |
| sagt er. „Ich habe versucht, eine Pause zu machen, aber mir wurde einsam.“ | |
| Livestreams aus Clubs oder Onlinepartys auf Zoom findet er doof. „Ich kann | |
| nicht zu Hause bleiben, ich muss raus unter Menschen“, sagt er. | |
| Der abnehmende Halbmond steht groß am Himmel. Der blühende Baum, an dem wir | |
| gerade vorbeigehen, verströmt einen süßliche Duft. Wer den Kopf hebt, um | |
| den Baum zu erkennen, wird vom Licht der Straßenlaterne wie von einem | |
| Scheinwerfer geblendet. Ein Fuchs springt auf und flüchtet auf die andere | |
| Straßenseite Richtung Rummelsburger Bucht. Das ist auch die Joggingstrecke | |
| von Rodrigo. Fast am Bahnhof Ostkreuz ist das Pfeifen eines Obdachlosen zu | |
| hören. Sein melodischer Klang bricht die Stille. Überall hängen Plakate, | |
| auf denen steht: „Ruhig bleiben und Dildos benutzen“. Das erinnere ihn an | |
| bessere Zeiten, meint Rodrigo. | |
| Wie bei einem Süchtigen lenkt ihn sein Schritt dorthin, wo er sich ganz | |
| vergessen kann. Wir kommen an einem alten Gewerbekomplex vorbei. Das | |
| heruntergekommene Haus mit schmutzigen Fassaden direkt am Ostkreuz hat | |
| Rodrigo schon oft besucht. Das About Blank war früher ein illegal | |
| betriebener Club und ist heute eine bekannte Location mit linksalternativem | |
| Touch. Auch ohne Corona droht ihm die Schließung; der Club ist der | |
| Stadtautobahn im Weg. Ende 2022 läuft der Mietvertrag aus. | |
| Rodrigo ist zurzeit arbeitslos. Er ist vor zwei Jahren aus Brasilien nach | |
| Berlin gekommen. Kurz vor der Coronakrise ist er aus seinem Job in der | |
| Gastronomie ausgestiegen. In Rio de Janeiro hatte er Visual Art studiert, | |
| er wollte wieder in dem Beruf arbeiten. Die Chance, diesen Sommer bei einem | |
| Theaterprojekt beim Donaufestival im österreichischen Krems zu arbeiten, | |
| hat Corona zunichtegemacht. Mit Joggen und Deutschlernen beschäftigt er | |
| sich nun unter der Woche. „Ich empfinde große Unsicherheit und Panik. Ich | |
| weiß nicht, wann dieser Ausnahmezustand endet“, sagt Rodrigo. | |
| ## Türsteher am Berghain und am Drogeriemarkt | |
| Sorgen um das Nachtleben macht sich nicht nur Rodrigo. Was passiert mit | |
| einer der Partyhauptstädte Europas, wenn sie nachts schlafen muss? Allein 3 | |
| Millionen Clubtouristen besuchen Berlin jährlich wegen der Partys und | |
| bringen einen Gesamtumsatz von 1,48 Milliarden Euro. | |
| Das Berghain gilt als einer der weltweit besten Clubs. Allein dafür buchen | |
| Fans von elektronischer Musik Tickets nach Berlin. Auch wenn man nie weiß, | |
| ob man nach stundenlangem Schlangestehen auch die Einlasskontrolle | |
| übersteht. | |
| In den Drogeriemarkt dagegen kommt jeder rein. Im neusten Werbeclip einer | |
| Drogeriekette steht man in der Schlange für den Einlass, bis der [3][Rapper | |
| Massiv], der den Türsteher macht, die Wartenden mit einem kurzen Nicken | |
| einen nach dem anderen einlässt, eben wie im Club. Je mehr Likes sie dafür | |
| bekommen, desto mehr Geld spendet die Kette an die Berliner Clubszene. | |
| Rodrigo hat die Werbung bereits auf allen Social-Media-Kanälen gelikt. | |
| Es ist schon nach 3 Uhr und Rodrigo hat es nicht mehr weit bis nach Hause. | |
| Auf einem Balkon in einer Seitenstraße tanzen drei Frauen wie wild. Man | |
| hört keine Musik, nur wie sie lachen. Rodrigo bleibt für einen Augenblick | |
| stehen, winkt und geht weiter nach Hause. | |
| *Der Name ist der Redaktion bekannt, wurde aber zum Schutz des Betroffenen | |
| geändert. | |
| 26 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://unitedwestream.berlin/ | |
| [2] /Kulturbetriebe-fordern-Rettungspaket/!5671315 | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=zkSIZrKVMt4 | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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