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# taz.de -- Corona: Queere Community verunsichert: Die Krise meistern
> Die Existenz der queeren Infrastruktur steht wegen Corona auf dem Spiel.
> Wie wird queeres Leben nach der Krise aussehen? Eine erste
> Bestandsaufnahme.
Bild: SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber: „Wir werden die Letzten sein, di…
Berlin taz | Der neueste Streit in Berlins queerer Community begann am
Abend des 15. April, zeitgleich mit der politischen Entscheidung, auch in
Berlin wegen der Coronakrise bis Ende August keine Großveranstaltungen
stattfinden zu lassen. Er entspann sich um jene Frage, über die Berlins
Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans* und Inter* seit über 40 Jahren am
liebsten streiten: Was wird aus dem [1][Christopher Street Day, dem
Berliner CSD]?
Der seit Februar sich neu im Amt befindende [2][Vorstand des CSD-Vereins]
hatte gleich nach der Entscheidung angekündigt, den CSD „wirkmächtig
digital zu stellen“. Für den bekannten schwulen Blogger und Aktivisten
Johannes Kram ein Unding. Auf Facebook wetterte er: „Der CSD als Marke, die
irgendwo stattfinden muss. Dann halt im Internet. So ein Blödsinn. Ja, man
kann eine Cola-Marke auch im Internet inszenieren. Aber man kann keine Cola
im Internet trinken.“
Seitdem wird diskutiert. Im Gespräch mit der taz sind Vorstand Ralph
Ehrlich und Vorständin Dana Wetzel sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht.
„Natürlich werden wir nicht nur auf Facebook ein Fähnchen schwenken“, sagt
Ehrlich, „der virtuelle CSD soll genauso vielfältig werden wie der reale.
Wir arbeiten an neuen Konzepten, Künstler*innen, Aktivist*innen werden zu
Wort kommen. Wir sind auch mit großen Fernsehanstalten im Gespräch.“ Und
Wetzel glaubt: „Man hat die Chance, online sogar mehr und andere zu
erreichen, die sonst nicht auf einen CSD gehen. Die allermeisten können
sich noch nicht vorstellen, was wir vorhaben.“
Doch auch dem CSD-Vorstand ist klar: „Eine digitale Demo mit all den
Emotionen, das kriegt man einfach nicht hin!“ Und darum, sagt Wetzel,
werden die Maßnahmen „der aktuellen Lage ständig angepasst, und sollte bis
dahin etwas möglich werden, werden wir es auch sofort umsetzen. Und sei es
auch nur eine Aktion mit bis zu 50 Personen. Wir werden immer das Maximale
rausholen, was rechtlich möglich ist. Die Botschaft ist uns wichtig!“
## In vier Jahrzehnten aufgebaut
Der Streit über die Zukunft des CSD 2020 spiegelt die tiefe Verunsicherung,
die Berlins queere Community seit dem Beginn der Coronakrise erfasst hat.
Im Mahlstrom der Ereignisse droht fast alles vernichtet zu werden, was
Aktivist*innen in über vier Jahrzehnten an Strukturen aufgebaut haben. Dazu
kommen Ängste und seelische Ausnahmesituationen für viele Menschen aus
einer auch in weniger krisenhaften Zeiten äußerst vulnerablen Gemeinschaft.
Eine von denen, [3][Berlins größte Dragqueen, Gloria Viagra], mit Stöckeln
um die zwei Meter zehn groß, sitzt die Coronakrise auf ihrer kleinen
Datsche aus und überlegt, sich einen Halbtagsjob zu suchen. Noch überbrückt
die Soforthilfe des Berliner Senats die auftrittslose Zeit. Doch schon die
Bundeshilfe sei für freie Künstler*innen schwachsinnig, sagt Gloria, „denn
wir haben weder Büromieten noch Leasingverträge zu laufen“.
Viagras größte Sorge aber: Wie wird queeres Leben in Berlin nach der Krise
sein? „Noch halten alle durch, aber langsam geht es los mit Insolvenzen,
persönlicher Verelendung. Ob unsere Clubs, unsere Bars, unsere Medien
durchhalten?“
## Spendenaktion fürs Magazin
Seit 1984 ist die [4][Siegessäule] de facto das Zentralorgan, erst der
schwulen, dann der schwullesbischen und heute der queeren Community der
Stadt. Das Monatsmagazin mit über 50.000 Auflage und Hunderten von
Verteilstationen überall in Berlin steht mitten in der größten Krise seiner
fast 40-jährigen Existenz.
„Die Absage des Straßen-CSD macht die Lage für uns erheblich schwerer“,
sagt Manuela Kay, eine der beiden Inhaberinnen des Verlags. Die CSD-Saison
ist jeden Sommer der große Umsatzbringer. Seit Mitte März sind dem Magazin
nicht nur 80 Prozent des Anzeigenvolumens weggebrochen, sondern auch ein
großer Teil des Vertriebsnetzes. Die Verlegerinnen sahen sich gezwungen,
eine Spendenaktion ins Leben zu rufen [5][(taz berichtete)].
Unerwartete Unterstützung kam von dem [6][Fotografen Wolfgang Tillmans],
der, so beschreibt es Manuela Kay, „wie ein Engel dahergeschwebt kam und
Künstler zusammenscharrte, deren Kunstwerke an jene gehen, die uns mit Geld
unter die Arme greifen“. 150.000 Euro ist das Spendenziel, aber auch diese
Summe würde die Siegessäule nicht bis zum Jahresende tragen, wenn die
CSD-Saison ins Wasser fällt.
Immerhin: Das Maiheft wird gedruckt und Berliner Firmen zeigen sich darin
solidarisch, indem sie gegen Geld ihre Logos abdrucken. Und die Hoffnung
bleibt, dass Anzeigenkunden während der CSD-Saison weiterhin Flagge zeigen
wollen. „Gut tut uns, dass wir gerade viele rührende Botschaften erhalten
und Solidarität erleben.“ Für Kay geht es in der Coronakrise nicht nur um
ihren Verlag und seine Mitarbeiter*innen, sondern um die Institution als
solche: „Wenn die,Siegessäule' untergeht, geht ein wesentlicher Bestandteil
der LGBT-Community unter!“
[7][Sylvio Jaskulke betreibt die Scheune in Schönebergs Motzstraße], mitten
im schwulen Kiez. Die Gegend um den Nollendorfplatz war schon vor Corona in
schwerem Fahrwasser: Mieterhöhungen und Gentrifizierung, Probleme mit
Taschendieben. Gerade erst war ein durchaus kontrovers diskutiertes
Sicherheitskonzept für den Kiez verabschiedet worden, sogenannte
Nachtbürgermeister sollten für Ordnung sorgen. Doch jetzt sind die Straßen
nachts eh leergefegt, die Sexshops und Bars geschlossen.
## Angestellte auf Kurzarbeit
Jaskulkes finanzielle Lage bleibt schwierig. Gerade erst hatte er seinen
Cruisingkeller für 80.000 Euro umbauen lassen, der vor zwei Jahren wegen
baulicher Auflagen geschlossen worden war. Nun gab es eine Finanzspritze
von 14.000 Euro, alle Zahlungen bis auf Miete und Strom hat er gestoppt.
Mit den zinslosen Krediten müsste er ein paar Monate über die Runden
kommen. Die Angestellten sind auf Kurzarbeit.
Die Lage der Scheune ist typisch für die alteingesessenen Kiezkneipen, die
durch Vereine wie den Regenbogenfonds gut miteinander vernetzt sind.
„Schöneberg hält durch!“ lautet deshalb Sylvio Jaskulkes Botschaft an die
queere Community. Auch wenn das beliebte lesbisch-schwule Stadtfest im
Nollendorfkiez – es sollte Ende Juli zum 28. Mal stattfinden – ersatzlos
gestrichen werden musste.
Ähnlich wie Jaskulke geht es auch seinem Kollegen [8][Reinhard Wöbke, dem
Besitzer des Blond], zwei Ecken weiter. Wöbke ärgert sich aber darüber,
dass es überhaupt so weit kommen musste: „Wenn die Politik sofort reagiert
hätte und die Gesundheitsämter schneller gewesen wären, dann könnten wir
diesen Sommer unter bestimmten Bedingungen aufmachen, das ist nun mal
unsere Hauptsaison“, sagt Wöbke. „Da muss das Ordnungsamt bei den Tischen
draußen mal ein Auge zudrücken, damit wir den Abstand einhalten können, und
den Cocktail trinken wir mit Strohhalm, das finde ich nicht so
problematisch.“
[9][Der Südblock am Kottbusser Tor] ist zu anderen Zeiten so etwas wie
Kreuzbergs Queer Central. Jetzt treffen sich regelmäßig Stammgäste aus der
Nachbarschaft, mit Mundschutz und Mindestabstand, vor der geschlossenen
Institution und reden miteinander. Ein Bild, das Richard Stein, einen der
Geschäftsführer, fröhlich und traurig zugleich macht.
## Der eigentliche Verlust
„Ich stamme aus einer Generation, der es immer wichtig war, queere Orte zu
schaffen und Begegnungen möglich zu machen“, sagt Stein. „Gastronomie war
für uns ja eher ein unternehmerisches Vehikel, um solche Orte möglich zu
machen – und das ist in dieser Krise der eigentliche Verlust. Und nichts
deutet derzeit darauf hin, dass wir in den nächsten Monaten dahin
zurückkehren werden.“
„Was für Auswirkungen das in der queeren Welt haben wird – da fehlt uns
allen momentan noch die Vorstellungskraft.“ Richard Stein fehlt vor allem
eine langfristige Perspektive: „Wir gehen davon aus, dass die Umsätze um
mehr als die Hälfte zurückgehen werden, auch wenn wir wieder aufmachen
dürfen.“
Ihn ärgert, dass für einen Betrieb dieser Größe kein Instrument der
Soforthilfe gegriffen hat. Außerdem ist weder bei den Angestellten des
Südblocks noch irgendwo sonst bis heute das versprochene Kurzarbeitergeld
eingetroffen. Die meisten Unternehmen haben es vorfinanziert, auch der
Südblock, „was uns nervös macht“, sagt Stein. Dramatisch ist die Situation
der Minijobber, für die nur der Weg ins ALG2 bleibt.
## Spendenaktion für Minijobber
Um genau jenen zu helfen, haben auch Paul Gräbner und Sabine Holzman vom
[10][Neuköllner Silver Future] eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Mit
dem Geld konnten sie ihren Minijobbern wenigstens die zweite Märzhälfte
komplett bezahlen, für den April „haben die Kolleg*innen das Geld dann
selbst unter sich nach Bedürftigkeit verteilt“.
Für die Zukunft ist Gräbner skeptisch. „Eine Bar lebt vom Gedränge am
Wochenende, eine Öffnung unter den Bedingungen von Corona lohnt sich in
keiner Weise.“ Zu den Gästen des Silver Future gehören vor allem jüngere,
linke Queers. „Natürlich ist eine offene Bar kein Safe Space“, sagt Paul
Gräbner, „aber ich weiß, dass unsere Gäste diesen sichereren Ort vermissen,
wo man mal so sein kann, wie man ist.“
Ums Überleben kämpft auch [11][eine der wichtigsten Institutionen des
queeren Berlins, das SchwuZ.] Entstanden aus der schwulen
Emanzipationsbewegung der späten Siebziger, war es bis zum Ausbruch der
Krise der größte queere Club der Stadt und für viele queere Menschen eine
Art Heimat.
„Jetzt ist klar“, sagt Geschäftsführer Marcel Weber, „dass wir nicht nur
die Ersten waren, die zugemacht wurden, sondern auch die Letzten sein
werden, die wieder aufmachen. Wir kämpfen weiter, denn das können wir, aber
es ist natürlich furchtbar belastend.“
## „Spendenbereitschaft lässt nach“
Das SchwuZ hat 103 Beschäftigte, davon sind 63 Minijobber, 40 arbeiten
Voll- oder Teilzeit. Alle sind auf 100 Prozent Kurzarbeit. Eine
Spendenaktion hat bis letzten Mittwoch um die 60.000 Euro eingebracht, das
deckt gerade mal die Ausgaben für die Minijobber bis Ende Mai. Zehn Prozent
gehen in einen Fonds, mit dem das SchwuZ Künstlerinnen unterstützt, denen
der Club verbunden ist, und fünf Prozent gehen an eine Organisation, die
sich um queere Geflüchtete an der EU-Außengrenze kümmert, „weil wir die
auch nicht zurücklassen wollen“, sagt Weber.
„Die Spendenbereitschaft lässt aber nach, wir sind eben nicht die
Einzigen“, sagt Weber, „und man merkt, dass auch im queeren Bereich viele
vorher schon in prekärer Beschäftigung waren oder jetzt auf Kurzarbeit
sind.“
Auch aus seiner Emanzipationsgeschichte heraus liegt dem SchwuZ die
Situation der gesamten queeren Community am Herzen: „Was gerade fehlt, ist
der Austausch untereinander. Es wäre wichtig, jetzt gemeinsame Aktionen zu
machen!“
Das SchwuZ plant, eine dauerhafte Livestream-Situation aufzubauen, „wo wir
mit Partnern wie der,Siegessäule' oder den Aidshilfen zusammen Angebote
entwickeln, die über einen Musikauftritt hinausgehen, um die Ressource
SchwuZ mit der Community auch während der Schließzeiten zu nutzen“, sagt
Geschäftsführer Weber.
## Koordinierter Kampf ums Überleben
Um den Kampf ums Überleben der queeren Community in den nächsten Wochen
koordinierter zu führen, hat sich die Deutsche Aidshilfe etwas einfallen
lassen. Ihre Präventionskampagne [12][IWWIT.de] – eine Abkürzung für „Ich
Weiß Was Ich Tu“ –, hat die Aktion #wirfürqueer ins Leben gerufen. Unter
diesem Hashtag bündelt IWWIT.de auf seiner Startseite zusammen mit
Medienpartnern wie Siegessäule oder männer.media die vielen
Spendenaktionen, die gerade in der queeren Welt laufen, unterstützt und
bewirbt sie.
Zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie 2020 am
17. Mai will die Aidshilfe außerdem im Rahmen von #wirfürqueer eine
Online-Veranstaltung durchführen, bei der queere Institutionen und
Künstler*innen die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren.
Die Aidshilfen können solche Unterstützung besser als andere leisten, weil
sie durch ihre fast hundertprozentige Staatsfinanzierung vorerst in ihrem
Bestand gesichert sind. Wie sich die Krise allerdings mittel- und
langfristig auf ihre Situation auswirken wird, wenn die öffentlichen
Kassen leer sind – da wagt zurzeit niemand eine Prognose. Das gilt im
Übrigen für alle staatlich geförderten queeren Institutionen, zum Beispiel
auch für das Schwule Museum.
Was die Aidshilfe aber gerade besonders spürt, ist das enorme
Informationsbedürfnis queerer Menschen zu HIV und Covid-19. Pressesprecher
Holger Wicht kann da einerseits etwas beruhigen: „Zurzeit gibt es keine
Hinweise, dass Menschen mit HIV unter Therapie das Coronavirus schlechter
wegstecken als andere.“ Allerdings: „Anders aussehen kann das bei Menschen,
die durch HIV schon bestimmte andere Vorerkrankungen haben.“
Aber auch allen anderen bietet die Aidshilfe über ihre IWWIT-Kampagne
Online-Beratungsangebote, zum Beispiel im Chat. „Das betrifft nicht nur HIV
und Geschlechtskrankheiten, wir sind explizit auch da, wenn Menschen jetzt
die Decke auf den Kopf fällt oder sie Depressionen plagen“, sagt
IWWIT-Kampagnenleiter Tim Schomann.
## Ganz eigene Probleme
Mit ganz eigenen Problemen haben trans* Personen in den Zeiten von Corona
zu kämpfen, sagt der Wissenschaftler und trans-Aktivist Max Appenroth. Die
ärztliche Versorgung mit Hormonen oder Check-ups sei teilweise erschwert,
weil viele Praxen sich derzeit im Ausnahmezustand befinden. Die Sorge vor
Versorgungsengpässen mit Hormonpräparaten sei groß, weil bestimmte Stoffe
für die Hormonproduktion normalerweise aus China stammen und die
Lieferketten nicht mehr funktionieren.
Traumatisch ist die Situation für alle, deren transitionsbedingte Operation
wegen Covid-19 abgesagt wurde. Diese Operationen gelten offiziell nicht als
lebensnotwendig. Oft haben die Betroffenen aber jahrelang auf den Termin
hingearbeitet. Wegen der veralteten und diskriminierenden Gesetzgebung ist
der Weg zur Operation in Deutschland sowieso ein jahrelanger Kampf,
gespickt mit Ablehnungen und Einsprüchen. „Für jene trans* Personen, die
eine solche OP für sich brauchen, ist das mitunter eine überlebensrelevante
Entscheidung“, sagt Appenroth.
Zwei Studien sind derzeit in Arbeit, eine, die sich speziell mit der
Situation von trans* Personen, und eine weitere, die sich insgesamt mit
LSBTI*-Personen in den Zeiten von Covid-19 beschäftigt. „Schon jetzt wird
deutlich: Die Zahl derer, die über Gefühle der Einsamkeit berichten, ist
bei trans* Personen am höchsten“, sagt Appenroth: „Selbsthilfegruppen und
Community-Events sind für viele die einzigen Sozialkontakte und genau das
findet auf persönlicher Ebene nicht statt.“
## Kundenanfragen gegen null
Mark ist 26 Jahre alt, ist Fotograf und Künstler und lebt hauptsächlich von
seinen Einnahmen als Escort. Seit Mitte März hat die Stadt Berlin ihm und
allen anderen Prostituierten die Arbeit zu Hause untersagt, eine Woche
später kam der Lockdown. Die Anfragen von Kunden gingen rasant gegen null:
„Ich hatte noch ein paar, die benutzte Unterwäsche und Socken kaufen
wollten, das war’s!“
Für den jungen Mann eine existenzbedrohende Situation, doch es rettete ihn,
dass er legal mit Anmeldeschein arbeitet und dadurch als
Soloselbstständiger die 5.000-Euro-Soforthilfe des Senats in Anspruch
nehmen konnte.
Sorgen macht er sich über eine Entwicklung, die er aus eigener Anschauung
erlebt: Während das gewöhnliche Business ruht, haben sich die Nachfragen
nach Sex auf Drogen wie Crystal Meth, das in der Szene „Tina“ genannt wird,
mehr als verdoppelt. Er selbst lehnt solche Anfragen ab, aber: „Unter
Berlins Escorts kursiert der Scherz, es gebe keine Quarantäne, sondern
Quarantina!“
Conor Toomey, psychologischer Berater bei der [13][Berliner
Schwulenberatung], glaubt, dass einige schwule Substanzgebraucher in den
Escortbereich ausweichen, weil insgesamt weniger private Sexpartys in
Berlin stattfinden. „Dass das so ist, können wir aufgrund unser
Beratungsarbeit gut feststellen.“
## Angespannte seelische Situation
„Für viele, die Chemsex betreiben, also Sex in der Regel mit mehreren und
unter dem Einfluss von Substanzen, ist das ein großer Bestandteil ihres
Lebens. Mehr und mehr von ihnen geraten dadurch jetzt in die Isolation und
seelische Not“, sagt Toomey. Zurzeit sei die Versorgung mit den Substanzen
selbst noch kein Problem, doch je nachdem könnte auch das für die Klientel
zunehmend zum Problem werden. Zwar sind die Beratungsstellen, wie auch die
Entzugsmöglichkeiten in Berlin weiterhin offen. Tatsache sei aber auch,
sagt Toomey, dass sich die Zahl der Rückfälle durch die angespannte
seelische Situation stark erhöht: „Da geht vielen langsam die Puste aus.“
Das geht auch den Menschen unter den Sexarbeiter*innen so, die ohne
Krankenversicherung oder legalen Aufenthaltstitel in Berlin ausharren. Ralf
Rötten vom Verein „Hilfe für Jungs“ berichtet, dass zwar die übergroße …
der Jungen aus der Straßenprostitution in ihre Heimatländer zurückgekehrt
sei, für den Rest aber sei die Situation noch prekärer geworden.
Deshalb hat der Verein die Öffnungszeiten seiner Anlaufstelle um mehr als
das Doppelte verlängert. Dort können die jungen Männer duschen, essen und
ihre Wäsche waschen, ärztliche Versorgung und soziale Beratung finden
statt. Streetworker des Vereins verteilen zudem täglich Lunchpakete an die
Jungen, die es nicht zur Anlaufstelle schaffen. Vielen bleibt
wirtschaftlich gar keine Wahl, als sich auch in Coronazeiten um Kundschaft
zu bemühen. „Ob die Bemühungen allerdings von Erfolg gekrönt sind, das ist
wohl relativ selten“, sagt Rötten, aber: „Die Not steigt!“
## Immer wieder Verdachtsfälle
Die Berliner Schwulenberatung musste seit dem Beginn ihrer Maßnahmen ihre
Face-to-Face-Angebote dramatisch zurückfahren, sowohl an ihrem
Hauptstandort in Charlottenburg als auch in der Gesundheitsstation
Checkpoint Berlin am Hermannplatz, wo schwule und bisexuelle Männer sowie
trans* und inter* Personen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung
beraten werden. Dort wird das Personal täglich auf Sars-CoV-2 getestet, die
Besuchszahlen sind zurzeit stark rückläufig.
Die größten Sorgen bereitet Geschäftsführer Marcel de Groot die von der
Schwulenberatung betriebene Unterkunft für geflüchtete LGBT*-Personen. Dort
leben zwischen 80 und 90 Menschen jeweils zu mehreren auf einem Zimmer.
Immer wieder gab es dort in den vergangenen Wochen Verdachtsfälle auf
Covid-19. Zwar hat sich bisher kein Verdachtsfall bestätigt, aber natürlich
entstehen dadurch für die Bewohner*innen wie für die Betreuer*innen
dauerhaft extreme Stresssituationen in einem sowieso schon schwierigen
Umfeld.
Aus den telefonischen Beratungen schließt die Schwulenberatung, dass viele
Männer gesundheitliche Probleme wie Geschlechtskrankheiten auf die lange
Bank schieben, weil sie sich vor einem Arztbesuch fürchten. Die Angst vor
Corona führt auch zu vermehrter Einsamkeit und Depressionen. Menschen, die
durch die Aidskrise gegangen sind, fühlen sich oft schmerzhaft an diese
traumatische Zeit erinnert.
## Es wäre „eine Katastrophe“
Holger Wicht, Pressesprecher der [14][Deutschen Aidshilfe] und seit vielen
Jahren Teil der Berliner Queer-Community sagt: „Wir laufen jetzt Gefahr,
dass große Teile der queeren Kultur ausgelöscht werden. Diese Community ist
über Jahrzehnte aufgebaut worden und sichert uns das Leben, das wir führen
wollen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie verschwände. Zugleich sehen wir
gerade überdeutlich, wie wichtig das alles ist. Vielleicht können wir so
ein paar unnötige Streitereien beiseitelegen und an einem Strang ziehen.“
Birgit Bosold vom [15][Schwulen Museum] sieht langfristige Folgen auch auf
den institutionell geförderten Teil der Berliner Queer-Szene zukommen: „Die
Zuwächse, die es in den letzten Jahren gegeben hat, damit wird erst mal
Schluss sein. Und langfristig wird die Frage auftauchen, wer diese ganze
Krise bezahlen wird und ob es zulasten der Schwächeren, der sozialen und
kulturellen Einrichtungen und damit auch der queeren Community gehen wird.“
Für den Linken-Politiker und Aktivisten Bodo Niendel hat die Krise in
Berlins Queer-Community tiefere Ursachen als nur Covid-19: „Queere
Menschenrechtspolitik hat sich seit den 1990ern auf rechtspolitische
Gleichheit und Antidiskriminierungsarbeit fokussiert. Aber das Soziale
wurde ausgeklammert. Nebenbei wurden Arme ärmer und Reiche reicher. Wir
sollten jetzt und nach der Krise Solidarität eben auf das Soziale
ausweiten. Antidiskriminierungspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn die
sozialen Verwerfungen abgebaut, statt vertieft werden. Queer und sozial
gehört zusammen. Andernfalls fürchte ich einen massiven Aufwuchs der neuen
Nazis.“
Wicht wiederum betont, dass queere Menschen in der jetzigen Krise auch
etwas anzubieten haben: ihre Erfahrungen aus der Aidskrise nämlich, die
gerade in Deutschland alles in allem gut bewältigt wurde. „Die größte Lehre
aus dieser Zeit ist, dass wir eine Epidemie nicht in den Griff bekommen,
indem wir jemanden zum Problem erklären, sondern nur gemeinsam. Die Politik
muss die Menschen zu Partnern machen und sie dazu befähigen, Verantwortung
zu übernehmen. Das ist nicht nur der vielversprechendere Ansatz, sondern es
fühlt sich auch für alle besser an. Wir müssen Menschen ermöglichen, Teil
der Lösung zu sein, dabei empathisch und solidarisch handeln. Das haben wir
in der Aidskrise gelernt.“
Und SchwuZ-Geschäftsführer Marcel Weber spricht vielen aus der Seele, wenn
er feststellt: „Wir geben nicht auf, wir sind kämpfen gewohnt, wir haben
schon viele Kämpfe gewonnen und darum werden wir diesen auch gewinnen!“
Dirk Ludigs
25 Apr 2020
## LINKS
[1] https://csd-berlin.de/
[2] https://csd-berlin.de/ueber-uns/
[3] https://www.instagram.com/gloria_viagra/
[4] https://www.siegessaeule.de/
[5] /Medien-in-der-Krise/!5677074&s=Siegess%C3%A4ule/
[6] https://www.siegessaeule.de/magazin/wolfgang-tillmans-ich-m%C3%B6chte-helfe…
[7] http://www.scheune-berlin.de/
[8] https://www.blond.berlin/
[9] https://www.suedblock.org/wp/?doing_wp_cron=1587731132.85889792442321777343…
[10] https://www.silverfuture.net/
[11] https://www.schwuz.de/
[12] https://www.iwwit.de/
[13] https://www.schwulenberatungberlin.de/
[14] https://www.aidshilfe.de/
[15] https://www.schwulesmuseum.de/
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Dirk Ludigs
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