| # taz.de -- Queere Orte in Berlin: Da fehlt was | |
| > Das queere Berlin hat seine Orte, an denen die Utopie schon probeweise | |
| > gelebt wird. Pandemiebedingt sind sie geschlossen. Und gerade Nicht-Orte. | |
| Bild: Vom Keller zur Kathedrale: LCavaliero Mann im imposanten Raum vom SchwuZ | |
| Über die Utopie lässt sich eigentlich nur negativ reden. Das sagte Adorno | |
| einmal. Ou tópos ist Griechisch für Nicht-Ort. Das Wort selbst ist also | |
| schon negativ. Adornos Gedanke trifft aber auch gut den jetzigen Moment. | |
| Denn, so sagte der Philosoph weiter, sich positiv auszumalen, „so und so | |
| wird das sein“, scheitere am bleibenden Widerspruch des Todes. | |
| Krankheit und Tod sind omnipräsent gerade und haben schon viele Leben und | |
| Pläne durchkreuzt. Über die Utopie aber sollte trotzdem gesprochen werden, | |
| ihr soll fotografisch (wie das eben Emmanuele Contini tut) nachgegangen | |
| werden. Wenn auch „ex negativo“. Was fehlt, wo Utopisches schon gelebt | |
| wurde? Was fehlt, wenn die glitzernden queeren Orte in der Stadt leer sind | |
| und kalt? | |
| Orte wie der [1][Sonntags-Club] im Prenzlauer Berg, seit DDR-Zeiten ein | |
| Stammtisch ohne blöde Sprüche und Ort der Selbsthilfe und Beratung. Oder | |
| das Neuköllner Silver Future, das die Utopie schon im Namen trägt. | |
| Auf die Frage „Was fehlt?“ könnten Sabine Holzmann und Paul Gräbner, die | |
| Betreiber*innen der queer-feministischen Bar, schlicht sagen: Die | |
| Novemberhilfen, die noch nicht überwiesen wurden. Schon vor der Pandemie | |
| sei es schwierig geworden, die dramatisch steigende Miete in der | |
| Weserstraße zu erwirtschaften. Und nicht nur dort ist das so. | |
| ## Minderheit in der Mehrheit | |
| „Wir sind nicht die Ärmsten“, sagt Gräbner trotzdem und verweist auf ande… | |
| Härten in der Stadtgesellschaft. In der Jugendsozialarbeit waren Holzmann | |
| und Gräbner tätig, bevor sie 2007 mit der Bar anfingen. Einen | |
| selbstbestimmten Arbeitsplatz wollten sie schaffen, eine Verlängerung ihres | |
| Wohnzimmers, in dem Platz wäre für Diskussionen genauso wie für Dragshows. | |
| Und: einen vor Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus sicheren Raum. | |
| „Einen Raum, in dem die Minderheit in der Mehrheit ist“, so beschreibt | |
| LCavaliero Mann, der künstlerische Leiter des [2][einige Straßen weiter | |
| gelegenen SchwuZ], dieses Anliegen. | |
| Wer einmal erlebt hat, wie aggressiv manche Leute werden können, wenn sie | |
| auf den zweiten Blick feststellen, dass sie sich in einen queeren | |
| Treffpunkt verirrt haben, weiß, wie notwendig und zugleich zerbrechlich | |
| solche Räume sind. Was LCavaliero Mann zufolge fehle, sei eine Perspektive | |
| für seine Mitarbeitenden und die Bühne für die vielen queeren | |
| Künstler*innen, die sonst im SchwuZ auftreten. Was fehle, sei gerade für | |
| junge Queers die Erholung von der Heteronormativität und den Anfeindungen | |
| des Alltags. „Sich gegenseitig zu sehen und festzustellen: queer sein ist | |
| toll.“ | |
| Erinnerungen werden wach an SchwuZ-Abende, an denen sich zu Madonna etwas | |
| internalisierter Selbsthass ausschwitzen ließ, an denen sich beim Tanzen | |
| Selbstzweifel abreiben konnten und an denen Flirts und Lernmomente über | |
| Klassen- und andere Grenzen hinweg möglich wurden. Erinnerungen auch an | |
| Carmela, die im SchwuZ regelmäßig zeigte, wie mensch sich im Rollstuhl die | |
| Tanzfläche zu eigen macht. | |
| ## Eine Emanzipationsgeschichte | |
| Erinnerungen an Emrah, wie sie im Südblock am Kotti von ihrer Flucht aus | |
| Turkmenistan berichtete und auf der [3][Gayhane-Party] im SO36 ihre | |
| Bauchtanz-Kunst zeigte, durch die sie sich eine kleine Existenz aufgebaut | |
| hat. Wie sehr die queeren Orte gerade jenen Menschen fehlen müssen, die im | |
| Alltag, bei ihren Familien nicht geoutet sind oder die in | |
| Sammelunterkünften leben müssen. | |
| Den vielleicht einsamen Herzen, die zu Uwe Fischer (Tom’s Bar) oder Kevin | |
| Groß (Ficken 3000) an den Tresen kommen, fehlt die Möglichkeit, einen Abend | |
| lang nicht allein zu sein, und: im dunklen Keller jenseits von Sexarbeit | |
| und Dating-Apps unkomplizierten Sex zu haben. Ficken 3000, auch das ein | |
| utopischer Name. | |
| „Vom Keller zur Kathedrale“, so fasst LCavaliero Mann die vielen Umzüge des | |
| SchwuZ seit 1977 zusammen. Von Schöneberg an die Hasenheide, vom | |
| Mehringdamm in die prächtige alte Kindl-Brauerei in der Rollbergstraße. Das | |
| ist auch eine Emanzipationsgeschichte. | |
| ## Spenden als Hoffnung | |
| Doch während in den christlichen Kathedralen selbst im Lockdown weiter | |
| Gottesdienste gefeiert werden dürfen, fallen für die Queers Gemeindeleben | |
| und bunte Liturgien flach. Und das auf eine noch nicht absehbare Zeit. Denn | |
| eine kurze, harte Zero-Covid-Strategie, die nicht allein der queeren | |
| Kultur- und Kleinwirtschaft zugutegekommen wäre, taten die Regierenden mit | |
| Verweis auf die „große“ Wirtschaft ab. | |
| Es bleibt die in Tausenden Spenden aus der Community begründete Hoffnung, | |
| dass Sonntags- und KitKat-Club, dass Schmutziges Hobby, Möbel Olfe und | |
| Busche und möglichst viele der queeren Orte Berlins überleben. Dass | |
| Emmanuele Continis Fotos von einigen dieser Orte nicht zur Dokumentation | |
| des Verschwundenen werden. | |
| Die finanzielle und sonstige Unterstützung der Community und der | |
| Abschiedsatz von LCavaliero Mann zeigen, dass die queere Gemeinde an ihren | |
| festen Adressen hängt, aber darüber hinausgeht, dass sie ein Nicht-nur-Ort | |
| ist: „Selbst wenn es zur Insolvenz kommen sollte, habe ich nicht die Sorge, | |
| dass es das Ende für uns wäre.“ | |
| Emmanuele Contini führt dieses Fotoprojekt weiter. Queere Orte in Berlin | |
| können den Fotografen unter [email protected] kontaktieren. | |
| 6 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
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