Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Brasilien unter Präsident Bolsonaro: Kultureller Kahlschlag
> Jair Bolsonaro planiert die Diversität Brasiliens. Unterstützung für
> seinen Kampf gegen die indigene Bevölkerung findet er weltweit.
Bild: Die indigenen Schutzzonen des Amazonasraums sind besonders bedroht von Bo…
Es gibt nicht die eine brasilianische Identität, es gibt unendlich viele
[1][Identitäten und Stile, Samba und Polka], Dosenbier und Cachaça, Tapioca
und Pizza, Capoeira und Rodeo, es gibt Portugiesisch, Hunsrückisch, Yoruba
und Nheengatú. Und sehr viel mehr. Und nur alles zusammen ergibt das, was
man Brasilien nennt. Das Land steht und fällt mit seiner kulturellen
Diversität.
Aber damit soll jetzt Schluss sein. [2][Jair Bolsonaro] wurde als Präsident
gewählt, um aufzuräumen. Er ist angetreten, um das „rote Gesindel“ zu
vertreiben, die „Gender-Ideologie“ einzudämmen, die
Mann-Frau-Kinder-Familie als normale gegen andere Lebensformen zu
behaupten, die kubanischen Ärzte auf ihre Karibikinsel zurückzuschicken,
die offen als notorisch kriminell diffamierten Schwarzen zu erschießen, die
Geisteswissenschaften zurückzustutzen, die Naturwissenschaften zu
relativieren und die „kommunistisch inspirierte“ Idee vom Klimawandel zu
ignorieren, um weiter auf schonungslose Ausbeutung aller Ressourcen setzen
zu können. Und noch sehr viel mehr. Alles zusammen wird Brasilien
vernichten.
Am sichtbarsten wird dieser Kahlschlag vielleicht in den indigenen
Schutzzonen des Amazonasraums, wo jetzt noch über 50 Sprachen der
kulturellen Vielfalt der Menschen Ausdruck verleihen. Als
Sprachwissenschaftler arbeite ich zum Nheengatú, einer Tupi-Sprache, die
bis ins 19. Jahrhundert hinein den gesamten Amazonasraum beherrschte,
sodass sie zur Bedrohung der Interessen der portugiesischen Krone und dann
des brasilianischen Kaiserreichs wurde.
Ihr Verbot und die blutige Niederschlagung der Cabanagem, einer Revolte der
amazonischen Gesellschaft gegen die Zentralregierung Mitte des 19.
Jahrhunderts, haben sie schließlich auf circa 20.000 Sprecher reduziert.
Bolsonaro macht sich nun daran, dieses Werk der Auslöschung zu vollenden.
## In der Stadt zeigt sich erbarmungslos das Ende
São Gabriel da Cachoeira, die indigenste Stadt Brasiliens, liegt an einem
wunderschönen Fluss. Der Rio Negro hat die Farbe eines kräftigen Assam-Tees
und wird von verschieden schnellen Strömungen an kleinen Felseninseln
vorbeigespült. Seine Nebenflüsse treiben enge Tunnel in eine grüne Welt
vielstimmiger Geheimnisse. Der Wald scheint hier ungebrochen. Wer an diesem
Fluss steht, glaubt nicht, dass Menschen ihm etwas anhaben könnten. Das
Ende zeigt sich erbarmungslos in der Stadt.
Aus den Lautsprechern der Geschäfte heulen evangelikale
Jesus-Christus-Ekstasen zu schmalzigen Melodien. Sie verlieren den
Dezibel-Wettbewerb nur gegen das Dröhnen containergroßer Dieselgeneratoren,
die mitten in der Stadt stehen und alles mit Strom versorgen. Schon am
Vormittag liegen überall indigene Schnapsleichen in den vermüllten Straßen.
Es stinkt nach Urin und Alkohol. In den ersten Tagen bemerke ich die vielen
gelben T-Shirts, auf denen zur Reflexion über den Selbstmord aufgerufen
wird. Nicht allen, die aus dem Wald hierherkommen, tut diese Stadt gut.
São Gabriel da Cachoeira ist Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks
im Nordwesten, an der Grenze zu Kolumbien und Venezuela. 18 Sprachen aus
fünf verschiedenen Familien werden hier gesprochen. Die Baré, Baniwa,
Yanomami, und viele andere werden seit 500 Jahren und bis heute von allen
möglichen Heilsbringern missioniert. Italienische Salesianer haben in ihren
Missionen die indigenen Sprachen verboten und das Portugiesische
durchzusetzen versucht, sodass sie das traurige Verdienst haben, als frühe
Verbündete der Intentionen Brasilias zu gelten.
Was Bolsonaro hier will, hat er immer wieder deutlich gemacht: im großen
Stil Gold, Lithium und Seltene Erden fördern, den Lebensraum für die
Immigration aus anderen Gegenden Brasiliens erschließen und die indigenen
Gruppen zu normalen Brasilianern machen, die Portugiesisch sprechen und
wachstumsstiftend konsumieren. Indigene Kulturen sind für ihn
prähistorische Relikte, die es zu [3][überwinden gilt].
Martina* arbeitet für eine der NGOs, die von Bolsonaro beschuldigt werden,
den Regenwald angezündet zu haben, um sich an ihm dafür zu rächen, dass er
ihnen die Gelder kürzt (das hat er wirklich gesagt!). Sie erzählt mir die
Geschichte des ISA (Instituto Socioambiental), das 1994 von
Wissenschaftlern gegründet wurde, um die ethnografische, sprachliche,
kulturelle und biologische Diversität Brasiliens zu ergründen und zu
verteidigen. Durch die Förderung der Praxis und die publizistische
Aufbereitung indigener Traditionen werden diese als identitätsstiftende
Merkmale rekonstruiert, sodass den Menschen das Gesicht zurückgegeben wird,
das ihnen die Missionare und andere kolonialistische Interventionen nehmen
wollten.
Das wirkt gegen die Interessen Bolsonaros – und so hat er dann auch die
finanzielle Unterstützung dieser wichtigen Institution gestoppt. Bitter
ist, zu erfahren, dass es auch ausgerechnet das ISA war, das der Rückzug
der Norweger und Deutschen aus dem Fundo Amazonas hart getroffen hat: Sechs
Stellen mussten sie mangels Finanzierung aufgeben.
## Das Ende der indigenen Autonomie
Edimar* ist ein Mitarbeiter der FOIRN (Fundação das Organizações Indígenas
do Rio Negro), des Dachverbands der indigenen Gemeinden am Rio Negro. FOIRN
wurde gegründet, um die Interessen dieser Gemeinden zu bündeln und gegen
ihre Bedrohung zu verteidigen. Sie ist wichtige Schnittstelle zwischen den
Welten und vertritt die verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Gruppen.
Die Arbeit der FOIRN erfolgt seit 2012 im Rahmen der von Bolsonaros
Vorgängerin Dilma Roussef eingesetzten nationalen Richtlinien für die
Umwelt- und Gebietsverwaltung von indigenen Gebiete (PGTA), die der
indigenen Bevölkerung weitgehende Souveränität bei der ökonomischen,
kulturellen und ökologischen Gestaltung der TI (terras indígenas)
zugesteht.
Regierungsseitig wurde PGTA von der FUNAI (Fundação Nacional do Índio)
vertreten. Diese Regierungsbehörde wurde eigentlich zum Schutz der
indigenen Gruppen gegründet, wird jetzt aber systematisch von Bolsonaro
geschwächt und zentralisiert, um sie besser kontrollieren zu können. Edimar
vermutet, dass damit auch die indigene Autonomie in den TI außer Kraft
gesetzt wird. Die Verwaltung der TI wird zukünftig den Dialog mit FOIRN
umgehen.
Marilene* arbeitet ebenfalls in der FOIRN. Sie relativiert meine Kritik an
Bolsonaro, indem sie mich lapidar darauf hinweist, dass sich bisher noch
kein Präsident Brasiliens besonders für seine indigenen Menschen eingesetzt
habe. Sie spricht zornig gegen die Vorwürfe vieler ihrer parentes
(eigentlich Verwandte), wie man sich hier interethnisch, aber in Opposition
gegen die brancos nennt, dass FOIRN den Fortschritt und damit auch den
Wohlstand verhindere. Ein Dasein als Kopie des Lebens der urbanen
Industriegesellschaften des Südostens will sie sich nicht vorstellen. Ihre
Kampfansage an alle, die ihr das aufzwingen wollen, klingt sehr
glaubwürdig.
## Institutionen werden gleichgeschaltet
Rodrigo* von der FUNAI ist verunsichert und misstrauisch, weil seine
Behörde personell umgestaltet wird und die lokalen Stützpunkte viele
Entscheidungsrechte an die Zentralverwaltung in Brasilia abtreten musste,
die von der Regierung neu gestaltet wurde. Seitdem wird in den
Schutzgebieten weniger kontrolliert. FUNAI wird gleichgeschaltet und wohl
bald die Interessen der Regierung gegen die Bewohner des Rio Negro
durchsetzen. Rodrigo ist dabei, sich einen neuen Job zu suchen. Es ist
klar, dass die Regierung Bolsonaros gegen die NGOs vorgehen muss, um ihre
Interessen durchzusetzen. Das ISA, die FOIRN und die FUNAI sind
Institutionen, die sich gegen die Bedrohung der Diversität und die totale
Ausbeutung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf
soziale und ökologische Verluste stemmen.
Ich stelle mir Marilene an der Kasse eines Supermarkts vor, in dem die Baré
Hamburger zum Abendessen kaufen, und Edimar als Kellner in einem Luxushotel
am Ufer des Rio Negro. Mir wird schlecht. Die Vernichtung Brasiliens
erfolgt als Planierung seiner kulturellen Vielfalt.
Die menschenverachtende Politik der amtierenden Regierung ist keinesfalls
allein auf Bolsonaro und seine Entourage zurückzuführen. Bolsonaro ist
lediglich ein rechtsradikaler Schreihals, der so gewöhnlich ist wie dumm –
und brutal. Er wurde zum Präsidenten aufgebaut, um die Interessen des
reaktionären Establishments und der internationalen marktradikalen
Wirtschaftsordnung gegen die zarten sozialen Reformen zu behaupten, die von
der Regierung Lula auf den Weg gebracht wurden. Die globale, auch deutsche
Industrie und ihre politischen Ausleger jubeln ihm zu.
Da frohlockt eine Expertin des German Trade & Invest, dass die neue
Regierung endlich mit dem Protektionismus der letzten Jahrzehnte Schluss
gemacht und den profitablen Markt für Investitionen geöffnet hat. Ein
Spezialist für Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung findet alles halb
so schlimm, er habe sich nett mit der Familienministerin unterhalten
können. Das größte der Konsortien, die global mit Soja und Fleisch handeln
und eine Ausdehnung der entsprechenden Produktionsflächen in Brasilien
einfordern, ist BlackRock. Der Vorstandsvorsitzende dieser
Fondsgesellschaft in Deutschland heißt Friedrich Merz. In dieser Form der
Ökonomie kommen soziale und ökologische Kosten nicht ins Kalkül.
* Alle Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.
27 Nov 2019
## LINKS
[1] /Aktuelle-Musik-aus-Brasilien/!5642330
[2] /Jair-Bolsonaro/!t5504727
[3] /Indigena-warnt-vor-Praesidenten/!5628763
## AUTOREN
Uli Reich
Der Autor
## TAGS
Brasilien
Jair Bolsonaro
Indigene Kultur
Weltklima
Brasilien
Brasilien
Brasilien
Menschenrechte
Brasilien
Lesestück Recherche und Reportage
Bildungschancen
Chico Buarque
Ghana
Film
Indigene
Brasilien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regisseur Walter Salles über Diktatur: „Ich spüre mehr Verantwortung“
Der Film „Für immer hier“ inszeniert die Verfolgung einer Familie in der
brasilianischen Diktatur. Walter Salles über die Aktualität der Geschichte.
Rapper Emicida über Brasilien: „Es ist keine normale Wahl“
Der brasilianische Rapstar Emicida über gesellschaftliche Polarisierung und
die Präsidentschaftswahl in seiner Heimat Brasilien am Sonntag.
Abholzung im Amazonasgebiet: 796,08 Quadratkilometer Regenwald
Von der Corona-Weltöffentlichkeit unbeachtet, schreitet die
Umweltzerstörung in Brasilien voran. Die Regierung tue nichts, sagen
Kritiker:innen.
Überlebenskünstler tot: Keine Angst vor Maden
Der Menschenrechtsaktivist Rüdiger Nehberg ist gestorben. Mit
Survival-Aktionen hat er gekämpft: Für die Yanomami und gegen
Genitalverstümmelung.
Indigene in Brasilien Amazonas-Gebiet: Von Missionierung bedroht
Ein evangelikaler Missionar bekommt den wichtigsten Posten in der
Indigenenbehörde. Für die Indigenen ist das keine gute Nachricht.
Aus der Favela ins Parlament: Das andere, das linke Brasilien
Seit einem Jahr ist der Rechte Jair Bolsonaro Brasiliens Präsident. Der
Parlamentarier David Miranda ist sein Gegenentwurf. Dafür braucht er Mut.
Bildungsgerechtigkeit in Brasilien: Wider die Unterdrückung
Jair Bolsonaro zieht über den Pädagogen Paulo Freire her. Bolsonaro ist
nicht der Erste, der sich Freire als Feindbild ausgesucht hat.
Brasilianische Kultur unter Bolsonaro: Küssen verboten
Seit der Wahl des rechten Präsidenten stehen Künstler unter Dauerbeschuss.
Die Förderung wird eingeschränkt, es wird zensiert und offen gedroht.
Musikkonferenz „Acces in Accra“: „Beat the system!“
Konzerte und Diskussionen: Auf der Musikkonferenz „Acces in Accra“ in Ghana
wurde abwechselnd zu Highlife getanzt und auf Panels gestritten.
Film über Landleben in Brasilien: Ein Herz für Rinder
Ländliches Leben, Viehdiebe, Freundschaft und Rodeo: Davon erzählt der
Spielfilm „Querência“ von Helvécio Marins Jr.
Aktivistin über Brasilien und Bolsonaro: „Kolonialismus beginnt im Kopf“
Die Aktivistin Célia Xakriabá spricht über den Kampf, den Indigene in
Brasilien führen müssen. Es geht um das Land, Wissen und die pure Existenz.
Luiz Ruffato über Bolsonaro: „Das gab es noch nie“
Seine Eltern konnten nicht lesen, er wurde zum Star-Autor Brasiliens. Luiz
Ruffato erzählt von politischem Analphabetismus und dem Regenwald.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.