# taz.de -- Regisseur Walter Salles über Diktatur: „Ich spüre mehr Verantwo… | |
> Der Film „Für immer hier“ inszeniert die Verfolgung einer Familie in der | |
> brasilianischen Diktatur. Walter Salles über die Aktualität der | |
> Geschichte. | |
Bild: Hier wirkt noch alles glücklich: Die Familie Paiva im Film | |
Im Jahr 1971 wird der brasilianische Regimekritiker Rubens Paiva (Selton | |
Mello) aus seinem Haus in Rio de Janeiro von Beamten der Militärdiktatur | |
verschleppt. Auch seine Frau Eunice (Fernanda Torres) wird verhaftet, | |
kommt nach 13 Tagen Verhörfolter wieder frei. Sie beginnt einen Kampf gegen | |
das Regime, der sich über Jahrzehnte hinziehen wird. Regisseur Walter | |
Salles kennt die Familie Pavia seit seiner Jugend und erzählt ihre | |
Geschichte als leise bewegendes Politdrama über ein düsteres Kapitel der | |
brasilianischen Geschichte. Durch den Rechtsruck im Land während der | |
Bolsonaro-Ära, 2019–2022, weist sie erschreckende Parallelen zur Gegenwart | |
auf. [1][„Für immer hier“ wurde vorletzte Woche mit dem Oscar als bester | |
internationaler Film ausgezeichnet]. | |
taz: Herr Salles, Sie sind seit den 1960er Jahren eng mit der Familie | |
Paiva befreundet. Warum haben Sie sich nun entschlossen, deren Geschichte | |
zu verfilmen? | |
Walter Salles: Weil ich ohne Marcelos Buch, das 2015 veröffentlicht wurde, | |
nicht wahrgenommen hätte, dass die Tatsache, dass seine Mutter sich | |
angesichts einer Tragödie neu erfindet, sowohl eine außergewöhnliche | |
menschliche Geschichte ist als auch ein Spiegelbild dessen, was in | |
Brasilien insgesamt passiert ist. Sein Buch erstreckt sich über 30 Jahre | |
und zeigt den Werdegang dieser Frau, die sich von einer Hausfrau in einer | |
patriarchalischen Gesellschaft, wenn auch in einer fortschrittlichen | |
Familie, zu einer Aktivistin entwickelt, die sich gegen das Vergessen | |
einsetzt. | |
taz: Wie viel von Ihren eigenen Erinnerungen ist in den Film eingeflossen? | |
Salles: Was mir sehr präsent in Erinnerung geblieben ist, ist das Helle der | |
ersten halben Stunde. Das Licht im Haus, die Zuneigung zwischen den | |
Figuren, die Tatsache, dass Türen und Fenster offen standen und alles | |
ständig in Bewegung war. Deshalb ist die Kamera am Anfang so fließend, sie | |
wandert zwischen den Figuren, weil es keine Distanz zwischen Erwachsenen, | |
Jugendlichen und Kindern gab. Ganz im Gegensatz zu meinem Zuhause, wo das | |
klar getrennt war. Bei den Paivas war alles freier, deshalb zog es mich | |
dort hin. [2][Dort hörte ich zum ersten Mal etwas über Politik, über | |
Tropicália, die brasilianische Musik.] Ich habe viel gelernt bei diesen | |
Besuchen, alles aufgesaugt. So vermischen sich im Film meine Erinnerungen | |
mit denen aus Marcelos Buch. | |
taz: Wie ist Ihre eigene Familie mit der Militärdiktatur umgegangen? | |
Salles: Mein Vater Walter Moreira Salles hatte vor der Diktatur als | |
Finanzminister an der linken Regierung von João Goulart mitgewirkt. Wir | |
sind nach dem Putsch 1964 ins Exil gegangen. 1969 kehrten wir zurück, da | |
war ich 13, und lernte bald Nalu kennen, die mittlere Schwester. So wurde | |
ich in diese Familie aufgenommen. Wir sind bis heute befreundet. | |
taz: Erleichtert die persönliche Bindung, diese Geschichte zu erzählen? | |
Salles: Im Gegenteil, es ist noch viel schwieriger, weil ich mehr | |
Verantwortung spüre. Aber ich habe Marcelo auch immer wieder um Rat | |
gefragt, wenn ich Zweifel hatte oder Details noch genauer wissen wollte. | |
Zum Beispiel die Szene relativ am Anfang des Films, wenn die Militärs in | |
Zivil sich Zugang zum Haus verschaffen. Ich dachte zunächst, dass sie dabei | |
alles auf den Kopf gestellt haben, wie man es normalerweise in Filmen über | |
Diktaturen sieht. So drehten wir es auch, aber irgendwas kam mir dabei | |
komisch vor. Also habe ich Marcelo nachts angerufen, um ihn zu fragen, was | |
damals genau passiert ist. Und er meinte: „Sie haben Schubladen geöffnet, | |
sahen sich alles an und legten es wieder an seinen Platz zurück. Sie waren | |
wie Buchhalter.“ Also habe ich am nächsten Tag die Szene noch mal komplett | |
neu gedreht. | |
taz: Die Verhaftung wird zum Einschnitt für die Familie und damit den Film. | |
Salles: Was passiert war, habe ich nicht selbst erlebt, musste ich mir | |
vorstellen. Wie lassen sich die Angst und Beklemmung filmisch darstellen, | |
die Abwesenheit des Vaters? All das stammt aus dem Buch oder aus meiner | |
Interpretation. Visuell habe mich für diesen Teil viel mit den Werken | |
[3][Vilhelm Hammershøis auseinandergesetzt, einem dänischen Maler aus dem | |
19. Jahrhundert]. Seine Bilder sind oft Innenräume, die einmal bewohnt | |
waren und nun verwaist sind. Sie bezeichnen eine Leerstelle, sind Ausdruck | |
von Einsamkeit. Das half mir, die Atmosphäre im Haus der Paivas zu | |
schaffen. | |
taz: Sie haben sieben Jahre an dem Film gearbeitet, also damit begonnen, | |
lange bevor der Rechtspopulist Bolsonaro 2019 an die Macht kam. Wie hat | |
sich das auf das Drehbuch ausgewirkt? | |
Salles: Der ganze Zweck des Films hat sich im Laufe der Jahre verändert, | |
weil er von der Realität eingeholt wurde. Gerade stellen wir überall auf | |
der Welt mit Erstaunen fest, wie zerbrechlich die Demokratie ist. Als wir | |
2015 mit diesem Projekt begannen, hätte ich nie für möglich gehalten, dass | |
wir in eine solche Dystopie geraten würden. Nach und nach wurde aus einem | |
Film über eine Vergangenheit, die wir verdrängt hatten, ein Film, der sich | |
immer mehr mit der Gegenwart zu befassen schien. Wir haben den Film dann | |
elliptisch bis 2014 verlängert, um zu verstehen, wie lange es dauerte, bis | |
die Demokratie nach Brasilien zurückkehrte und wie schnell wir sie in den | |
vier Jahren der Zerstörung beinahe wieder verloren hätten. | |
taz: Inwieweit kann „Für immer hier“ in Brasilien die Diktatur und ihre | |
Folgen wieder ins Bewusstsein rücken? | |
Salles: Ich bin fest davon überzeugt, dass Literatur und Kino Mittel gegen | |
das Vergessen sind. Filme ermöglichen eine genaue Reflexion der Zeit, in | |
der wir leben. Wenn ich mir das neorealistische Kino ansehe, habe ich eine | |
genaue Vorstellung davon, wie Italien am Ende des Faschismus und am Ende | |
des Zweiten Weltkriegs war. Ich sehe Rossellinis „Rom, offene Stadt“ und | |
verstehe das Gewicht der Besatzung. Und der Film hat eine breite Debatte | |
ausgelöst, auch wenn die extreme Rechte immer versucht, Dinge zu ignorieren | |
oder umzudeuten. Vor allem aber zeigt er, wie es ein Akt des Widerstands | |
sein kann, das Leben intensiv zu leben, mit Haltung und im Einklang mit den | |
eigenen Überzeugungen. | |
taz: Sie wechseln in Ihrem Film die Formate, nutzen Super-8-Aufnahmen als | |
eine Art Erinnerung der Familie an eine untergegangene Zeit. | |
Salles: Der Film handelt davon, was diese Familie hätte sein können und was | |
dieses Land hätte sein können. Ein Land, das an eine andere Form der | |
Bildung glaubte, das an Kultur glaubte, das an politischen Pluralismus | |
glaubte. All das wurde durch die Militärdiktatur und ihre Folgen | |
zunichtegemacht. Es geht am Ende also auch darum, was wir verloren haben, | |
persönlich und kollektiv. | |
taz: Ihr letzter [4][Spielfilm, die Jack Kerouac-Adaption „On the Road“], | |
liegt 13 Jahre zurück. Warum diese Leinwandpause? | |
Salles: Ich habe lange keinen Stoff gefunden, der diese Art von | |
menschlicher und politischer Komplexität aufweist. Um mich viele Jahre in | |
ein Projekt zu vertiefen, muss ich völlig davon überzeugt sein. Ich habe in | |
dieser Zeit Dokumentarfilme gemacht, aber auch viel geschrieben. Ein | |
weiteres Drehbuch ist fertig. Ich arbeite an einer Dokuserie über den | |
brasilianischen Fußballer Sócrates, lange Kapitän der Nationalmannschaft, | |
der in den 1970ern die Bewegung Democracia Corinthiana ins Leben gerufen | |
hat, die das Land zurück zur Demokratie führen sollte. Er brachte die | |
Politik in den Fußball und hat dadurch eine große Bedeutung für Brasilien. | |
Ich bin also gut beschäftigt, machen Sie sich keine Sorgen. | |
12 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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