| # taz.de -- Regisseur über Film „The Secret Agent“: „Ich wollte das Unsi… | |
| > Der Film „The Secret Agent“ von Kleber Mendonça Filho zeigt, wie es sich | |
| > anfühlt in einer Diktatur. Ein Gespräch mit dem Regisseur über autoritäre | |
| > Fantasien. | |
| Bild: Auf der Flucht: Marcelo (Walter Moura) in „The Secret Agent“ | |
| Mit „Aquarius“ und [1][„Bacurau“] wurde Kleber Mendonça Filho zu einer… | |
| markantesten Stimmen des brasilianischen Kinos. Sein neuer Film „The Secret | |
| Agent“ führt ihn zurück ins Jahr 1977 – in eine Zeit der Zensur, des | |
| autoritären Drucks und zugleich der kulturellen Kreativität. Zwischen | |
| persönlicher Erinnerung und politischer Analyse verwebt Mendonça Filho die | |
| Geschichte eines Mannes im Schatten der Diktatur zu einer Reflexion über | |
| Macht, Männlichkeit und das Kino selbst. Nun geht „The Secret Agent“ als | |
| Brasiliens Beitrag ins Oscar-Rennen. | |
| taz: Herr Mendonça Filho, Ihr neuer Film „The Secret Agent“ spielt 1977, | |
| mitten in der brasilianischen Militärdiktatur. Warum gerade dieses Jahr? | |
| Kleber Mendonça Filho: 1977 war ein entscheidendes Jahr – politisch und | |
| kulturell. Die Demokratie war praktisch abgeschafft, die Zensur | |
| allgegenwärtig. Viele Filme wurden verboten oder beschnitten, „A Clockwork | |
| Orange“ etwa durfte erst mit schwarzen Punkten über den Genitalien gezeigt | |
| werden. Diese grotesken Eingriffe sagen viel über das Klima jener Zeit. | |
| Mich interessierte diese Spannung: das Bedürfnis nach Ausdruck in einer | |
| Atmosphäre der Kontrolle. | |
| taz: War das auch eine persönliche Rückkehr? | |
| Mendonça Filho: Ja. Ich war damals ein Kind, meine Mutter war schwer krank, | |
| und wir gingen oft ins Kino. Diese Erinnerungen haben sich tief eingebrannt | |
| – Gerüche, Geräusche, das Licht im Saal. Beim Schreiben merkte ich, dass | |
| ich eigentlich auch über das heutige Brasilien schreibe. Die Mechanismen | |
| der Angst und der Macht sind dieselben geblieben, nur die Sprache hat sich | |
| verändert. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Mendonça Filho: In den letzten Jahren hat Brasilien eine dramatische | |
| Rechtsverschiebung erlebt. Viele sehnen sich nach den „guten alten Zeiten“ | |
| der Diktatur, was grotesk ist. Daraus entstand der Bolsonarismus: die | |
| Rückkehr autoritärer Fantasien, maskiert als Ordnung und Patriotismus. „The | |
| Secret Agent“ spielt 1977, aber er erzählt von 2025. | |
| taz: Sie haben während Bolsonaros Amtszeit mit dem Schreiben begonnen. Wie | |
| war das möglich? | |
| Mendonça Filho: Schwierig. [2][Das Kulturministerium wurde abgeschafft], | |
| die Filmförderung praktisch lahmgelegt. Ich hatte etwas Geld übrig von | |
| meinem vorherigen Film und schrieb weiter, auch um nicht verrückt zu | |
| werden. Erst mit Lulas Rückkehr kam wieder Struktur in die Kulturpolitik. | |
| Heute funktioniert das System wieder, wenn auch unter schwierigen | |
| Bedingungen. | |
| taz: Ihr Film wirkt politisch, aber nie plakativ. Sehen Sie sich als | |
| politischen Filmemacher? | |
| Mendonça Filho: Ich vermeide solche Etiketten. Ich bin kein Oliver Stone. | |
| Meine Filme entstehen aus Alltagsbeobachtungen, aus Stimmen und | |
| Atmosphären. Vielleicht sind sie politisch, weil sie ehrlich sind gegenüber | |
| der Gesellschaft, in der ich lebe. Aber ich schreibe nie mit einer | |
| Botschaft, eher mit einer Haltung. | |
| taz: Welche Haltung meinen Sie? | |
| Mendonça Filho: Eine, die sich weigert, Zynismus als Normalität zu | |
| akzeptieren. In Brasilien wurde Männlichkeit in den letzten Jahren zu einem | |
| politischen Werkzeug. Bolsonaro prahlte damit, nur Söhne zu haben, weil | |
| sein Sperma „stark“ sei – und dass seine Tochter der Moment seiner Schwä… | |
| gewesen sei. Diese obszöne Symbolik zieht sich durch das gesellschaftliche | |
| Denken. „The Secret Agent“ erzählt auch davon: von Vätern, Söhnen, | |
| Autorität und Angst. | |
| taz: Sie waren zu der Zeit, in der der Film spielt, neun Jahre alt. Wie | |
| erinnern Sie sich an diese Zeit? | |
| Mendonça Filho: Sehr genau. Wir mussten in der Schule marschieren, obwohl | |
| es keine Militärschule war. Diese Gesten des Gehorsams waren überall. Ich | |
| wollte das körperlich im Film spürbar machen – nicht als historische | |
| Rekonstruktion, sondern als Erinnerung, die sich in die Haut eingeschrieben | |
| hat. | |
| taz: Wie haben Sie das Brasilien von 1977 rekonstruiert? | |
| Mendonça Filho: Ich kenne Recife in- und auswendig. Ich fotografiere die | |
| Stadt seit meiner Jugend. Es war eine Art Spiel: „Diese Straße | |
| funktioniert, aber nur aus diesem Winkel.“ Vieles ist verschwunden, aber | |
| manchmal genügt ein Blick, ein altes Auto, ein Schatten. Wir sammelten | |
| Familienfotos aus den 70ern, keine Modeaufnahmen, sondern echte Bilder. So | |
| entstand Authentizität – wie Menschen wirklich aussahen, nicht, wie sie | |
| sich darstellen wollten. | |
| taz: Ihre Heimatstadt Recife taucht in fast all Ihren Filmen auf. Warum? | |
| Mendonça Filho: Weil sie ein Universum ist. Niemand fragt Scorsese, warum | |
| er immer New York filmt. Recife ist widersprüchlich, linkspolitisch, | |
| poetisch – und filmisch unerschöpflich. Es verändert sich ständig, aber | |
| seine Seele bleibt gleich. Ich weiß, von welcher Straßenseite eine | |
| Einstellung nach 1977 aussieht – und von welcher nach heute. | |
| taz: Die Diktatur ist im Film ständig spürbar, aber nie direkt zu sehen. | |
| Warum? | |
| Mendonça Filho: Ich wollte das Unsichtbare erzählen. Viele Filme über die | |
| Diktatur zeigen Folter, Gewalt, Überwachung. Mich interessiert, was | |
| darunter liegt – das, was man riecht, ohne es zu sehen. Angst, Schweigen, | |
| kleine Gesten der Anpassung. Das Unsichtbare ist mächtiger als das | |
| Sichtbare. Kino ist Erinnerung. Es ist das Archiv unserer Emotionen. Wir | |
| vergessen leicht, wie schnell Gesellschaften in alte Muster zurückfallen. | |
| Das Kino erinnert uns daran, ob wir wollen oder nicht. | |
| taz: Sie haben die Hauptrolle für Wagner Moura geschrieben. Warum er? | |
| Mendonça Filho: Weil er Intelligenz und Wärme verbindet. Ich wusste, dass | |
| er in diesem Film keine Waffe ziehen und niemandem hinterherlaufen würde. | |
| Er trägt die Spannung mit seiner Präsenz. Es war das erste Mal, dass ich | |
| eine Rolle für einen bestimmten Schauspieler geschrieben habe. | |
| taz: Sie waren selbst lange Filmkritiker. Schauen Sie heute noch so viele | |
| Filme? | |
| Mendonça Filho: Ja, aber anders. Früher sah ich alles, heute nur noch das, | |
| was mich wirklich interessiert. Was ich vermisse, ist die Überraschung. Als | |
| Kritiker wurde ich oft von Filmen überrascht, die ich gar nicht sehen | |
| wollte. Heute passiert das seltener. | |
| taz: Ihr Film wirkt wie eine Liebeserklärung an das Kino selbst. | |
| Mendonça Filho: Das Kino war mein Zufluchtsort. Ich erinnere mich an meine | |
| Kindheit über Filme – Carpenter, De Palma, Scorsese, Spielberg. Ich wuchs | |
| mit Werken auf, die Haltung hatten, nicht nur Stil. Vielleicht versuche | |
| ich, dieses Gefühl wiederzufinden. | |
| taz: Zur Weltpremiere im Mai in Cannes war auch die Kulturministerin | |
| anwesend – ein starkes Zeichen. Wie sehen Sie die aktuelle Lage in | |
| Brasilien? | |
| Mendonça Filho: Es ist eine Zeit des Wiederaufbaus. Unter Bolsonaro war die | |
| Kultur verachtet, Förderungen wurden blockiert. Meine Produzentin – und | |
| Lebenspartnerin – musste die Regierung verklagen, um an zugesagtes Geld zu | |
| kommen. Jetzt, mit Lula, gibt es wieder Strukturen. Margareth Menezes, | |
| unsere Kulturministerin, ist schwarze Musikerin, Popikone – vor wenigen | |
| Jahren noch undenkbar. Lula ist kein Zauberer, aber er versteht Kultur als | |
| Lebensnerv einer Demokratie. Und nun vertreten wir Brasilien sogar ganz | |
| offiziell bei den Oscars. | |
| taz: Was meinen Sie, wäre „The Secret Agent“ unter der vorherigen Regierung | |
| möglich gewesen? | |
| Mendonça Filho: Nein. Diese Leute hassten Kunst. Sie konnten die | |
| Kulturförderung nicht abschaffen, also sabotierten sie sie. Heute kann man | |
| wieder Filme machen – nicht einfacher, aber es ist wieder möglich. | |
| 2 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
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