| # taz.de -- Betreuung in Niedersachsens Kitas: Aus Krise wird Kollaps | |
| > Immer mehr Kommunen in Niedersachsen verkürzen die Kernzeiten ihrer | |
| > Kitas. Doch gelöst werden damit die Probleme bei der Kinderbetreuung | |
| > nicht. | |
| Bild: Benötigt Zeit und Personal: Betreuung in Kitas | |
| Hannover taz | Die Steigerung von Krise heißt Kollaps. Man kann es ja auch | |
| kaum noch hören: Vor allem in den Wintermonaten, als die Grippe- und | |
| Erkältungswellen durch die Kindergärten fegten, klagten täglich Eltern, die | |
| ihre Kinder früher abholen oder gleich ganz zu Hause betreuen mussten. | |
| Doch die kurzfristigen Ausfälle sind nur das eine. Immer mehr Kommunen und | |
| freie Träger in Niedersachsen kürzen die Betreuungszeiten oder denken | |
| zumindest darüber nach. In den letzten Wochen waren es die Städte Gehrden | |
| und Laatzen, in der Region Hannover sind sie damit – je nach Zählung – die | |
| dritte oder vierte Kommune, bei der die Betreuung standardmäßig nur noch | |
| von 8 bis 14 Uhr reicht. Darüber, wie viele es im ganzen Land sind, hat | |
| niemand einen Überblick. | |
| Die Szenen häufen sich jedenfalls: Draußen vor dem Rathaus protestieren | |
| erschöpfte, wütende, verzweifelte Eltern, drinnen ziehen Kommunalpolitiker | |
| und Verwaltungsfachleute unbehaglich die Schultern hoch. Wir würden es gern | |
| anders machen, aber uns bleibt ja nichts anderes übrig, heißt es fast | |
| überall. [1][Wir haben einfach keine Leute.] | |
| Wobei diese Reduktion der Kernzeiten nicht bedeutet, dass es überhaupt | |
| keine Nachmittagsbetreuung mehr gibt – was man den aufgeschreckten Eltern | |
| aber erst einmal erklären muss. Was hier zum Tragen kommt, ist eine Option, | |
| die das niedersächsische Kita-Gesetz schon seit 2021 möglich macht: Die | |
| Unterscheidung zwischen Kern- und Randzeiten ist sozusagen der Trick, der | |
| helfen soll, einen schwer lösbaren Zielkonflikt in den Kitas auszutarieren. | |
| ## Konkurrierende Ansprüche | |
| Da ist zum einen der hohe Anspruch an frühkindliche Bildung, der vor allem | |
| dann hochgehalten wird, wenn die [2][Pisa-Ergebnisse] mal wieder desaströs | |
| ausgefallen sind – und auf der anderen Seite der Anspruch der Eltern, | |
| Familie und Beruf irgendwie unter einen Hut zu bekommen. | |
| Kernzeiten sind die, in denen der Bildungsauftrag realisiert werden soll – | |
| mit festen Gruppen und Bezugserziehern. Randzeiten sind die, in denen eher | |
| betreut wird. Nur in den Randzeiten dürfen die Kinder aus unterschiedlichen | |
| Gruppen zusammengeführt werden und in Einzelfällen sogar von weniger | |
| Fachkräften betreut werden. Wie lang die Kernzeit ist und wann die Randzeit | |
| beginnt, kann für jede Einrichtung einzeln definiert werden. | |
| Die Hoffnung, die sich für Kommunen mit der Reduktion der Kernzeiten | |
| verbindet, ist: Man kann das [3][kostbare Fachpersonal auf diese Stunden | |
| konzentrieren und bessere Arbeitsbedingungen bieten] – damit diese | |
| Erzieherinnen nicht auch noch ausbrennen, krank werden oder hinwerfen. | |
| Gleichzeitig versucht man, den tatsächlichen Bedarf, vor allem in den | |
| Nachmittagsstunden, realistischer zu kalkulieren, sagt Kerstin Schlüter, | |
| Leiterin des Fachbereich für Kinder, Jugendliche und Familien bei der Stadt | |
| Osnabrück. Die Erfahrung habe nämlich gezeigt, dass viele Eltern zwar | |
| Ganztagsplätze buchen, aber nicht voll in Anspruch nehmen. Das ist eine | |
| Folge der schon 2018 eingeführten Beitragsfreiheit. | |
| Osnabrück gehörte in Niedersachsen zu den ersten Städten, die die Kernzeit | |
| konsequent auf 8 bis 14 Uhr für Kita-Kinder und 8 bis 14.30 Uhr für | |
| Krippen-Kinder beschränkt haben und den Bedarf, der darüber hinaus geht, | |
| systematisch abfragen. Gleichzeitig legt die Stadt Wert darauf zu betonen, | |
| das es vor allem um eine bedarfsgerechte Steuerung geht. | |
| Es reicht, den Bedarf anzumelden, umständliche Nachweise werden nicht | |
| verlangt. Und auch die Kinder mit besonderem Förderbedarf habe man in den | |
| Einrichtungen genau im Blick und biete den Eltern entsprechende | |
| Betreuungszeiten an, sagt Schlüter. | |
| Das ist allerdings nicht überall so. Manche Kommunen verlangen | |
| Bescheinigungen vom Arbeitgeber inklusive der Arbeitszeiten oder andere | |
| Nachweise über Ausbildungs-, Studien- und Pflegeverpflichtungen. Andere | |
| denken sich komplizierte Punktesysteme aus, um die knappen Ressourcen zu | |
| verteilen. Förderbedürftigkeit taucht darin nicht zwingend auf. | |
| Beschwerden von Arbeitgebern habe er noch nicht gehört, sagt Gehrdens | |
| Bürgermeister Malte Losert. Allerdings merke er in seiner eigenen | |
| Verwaltung die Auswirkungen: „Da möchten Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten | |
| anpassen, weil sie ihr Kind früher aus der Kita holen müssen.“ | |
| Er würde sich vor allem flexiblere Regelungen beim Einsatz der bestehenden | |
| Kräfte wünschen: „Wir hatten gerade den Fall, dass in einer Krippengruppe | |
| eine Erzieherin Ende August gekündigt hat und die Neueinstellung erst zum | |
| 1. Oktober gelang“, berichtet er. | |
| „Da standen zwei erfahrene Sozialassistentinnen bereit, die mit den Kindern | |
| vertraut waren und die diesen einen Monat hätten überbrücken können. Das | |
| haben wir aber nicht genehmigt bekommen. Wir mussten die Gruppe für den | |
| gesamten September schließen beziehungsweise die Betreuungszeiten massiv | |
| einschränken.“ Kürzlich musste man in Gehrden sogar Integrationskindern den | |
| Platz kündigen, weil eine heilpädagogische Fachkraft fehlt. | |
| ## Hürden bei der Ausbildung | |
| Auch der Weg in den Beruf sei reformbedürftig, findet Bürgermeister | |
| Gehrdens. Er habe erst neulich mit Neuntklässlerinnen nach ihrem | |
| Berufspraktikum gesprochen. „Von der Arbeit in der Kita sind die | |
| begeistert, aber die lange Ausbildung ohne Vergütung schreckt sie ab“, sagt | |
| er. | |
| Auf die duale Ausbildung hatten viele Elternvertreter und Fachverbände | |
| große Hoffnungen gesetzt, aber in Niedersachsen scheint sie nicht recht vom | |
| Fleck zu kommen. Städte wie Osnabrück und Lingen, die dicht an der Grenze | |
| liegen, weichen deshalb schon nach Nordrhein-Westfalen aus. Dort gibt es | |
| das Modell PiA – praxisintegrierte Ausbildung –, mit dem innerhalb von drei | |
| Jahren Erzieher ausgebildet werden, die schon während ihrer Ausbildung jede | |
| Woche zwei Tage in der Kita verbringen. | |
| In Niedersachsen gibt es das nur vereinzelt. Die Stadt Burgwedel fährt mit | |
| der Pestalozzi-Stiftung ein ähnliches Modell. Generell setzt das Land eher | |
| auf ein zweistufiges Modell, das erst zur Sozialassistentin und dann zur | |
| Erzieherin ausbildet und in x Varianten möglich ist, im Extremfall aber | |
| auch fünf Jahre dauert. | |
| „Ich würde mir manchmal wünschen, ich könnte jungen Menschen einfach sagen, | |
| schick mir deine Bewerbung, den Rest machen wir“, sagt die Osnabrücker | |
| Fachbereichsleiterin Schlüter. Aber das geht eben nicht. Die Bewerber | |
| müssen sich beim Träger und bei einer Berufsfachschule bewerben, können die | |
| Ausbildung berufsbegleitend oder in Vollzeit absolvieren, bezahlt, | |
| teilweise bezahlt oder mit Bafög-Anspruch. | |
| ## Landeselternrat tritt zurück | |
| „Wir haben wirklich Fortschritte gemacht bei der Ausbildung von | |
| Quereinsteigern, die sich mit einem Jahr Ausbildungszeit zum | |
| sozialpädagogischen Assistenten ausbilden lassen können“, berichtet | |
| Schlüter. „Aber danach hapert’s.“ Viele verharrten auf dieser Stufe, weil | |
| sich ihr Einkommen erst einmal reduziere, wenn sie weitermachten. „Und das | |
| ist vor allem für Berufstätige, die nicht mehr Anfang 20 sind, schwierig“, | |
| sagt Schlüter. | |
| Auch was die Bedarfsprognosen angeht, sind die Praktiker in den Kommunen | |
| skeptisch. Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) | |
| hatte sich jüngst zu der Äußerung hinreisen lassen, ab 2028 würden sich die | |
| verstärkten Ausbildungsbemühungen bemerkbar machen. | |
| Aber der höheren Anzahl an Absolventen und den sinkenden Geburtenraten | |
| stehen eben ein paar gegenläufige Trends gegenüber: Da ist der steigende | |
| Betreuungsumfang, der von den Eltern nachgefragt wird, die anstehende | |
| Einführung der dritten Fachkraft in den Kita-Gruppen und der versprochene | |
| Ausbau der Ganztagsbetreuung an den Grundschulen. Die kommunalen | |
| Spitzenverbände mahnen deshalb schon seit Langem, das sei alles nicht zu | |
| stemmen, man habe den Eltern schlicht zu viel versprochen. | |
| Ausgerechnet in dieser Situation ist nun auch noch der [4][Landeselternrat] | |
| für den Kita-Bereich zurückgetreten. Vorausgegangen war ein langer Streit | |
| darum, wie dessen Arbeit finanziert wird. Die ehrenamtlich engagierten | |
| Eltern hätten gern wenigstens Reisekosten und sonstige Aufwendungen | |
| erstattet bekommen – das ist bisher aber nicht vorgesehen. „Ich habe den | |
| Eindruck, dass der Dialog mit den Eltern nicht wirklich gewünscht ist, | |
| schon gar nicht, wenn es kritisch wird“, sagt die ehemalige Vorsitzende | |
| Christine Heymann-Splinter. | |
| 15 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fruehkindliche-Bildung/!5976817 | |
| [2] /Neue-Pisa-Studie/!5976104 | |
| [3] /Fachkraeftemangel-in-Kitas/!5989241 | |
| [4] https://ler-nds.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Nadine Conti | |
| ## TAGS | |
| Niedersachsen | |
| Kitas | |
| Erziehung | |
| Betreuung | |
| Gewalt in der Schule | |
| Schule und Corona | |
| Bremen | |
| Sascha Aulepp | |
| Schleswig-Holstein | |
| Studie | |
| Bildungssystem | |
| Niedersachsen | |
| Arbeitskampf | |
| Longread | |
| Kitas | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Umgang mit Schulvermeidern: Willie will’s nicht wissen | |
| Niedersachsen pflegt die Wegsperrkultur: Schulvermeider bekommen häufiger | |
| Arrest als anderswo. Die Kultusministerin könnte das ändern. Wenn sie | |
| wollte. | |
| Jugendarrest für Schulvermeider: Niedersachsen bleibt Wegsperrmeister | |
| Auch wenn's viel kostet und niemand weiß, ob es jemandem nutzt: In | |
| Niedersachsen landen Schulvermeider oft im Arrest. Anders als in | |
| Schleswig-Holstein. | |
| Expertin über kollabierende Kitas: „Lügen wir uns nicht weiter in die Tasch… | |
| Die Bremer Kita-Expertin Ilse Wehrmann fordert angesichts des | |
| Fachkräftemangels, ältere Kinder zu priorisieren anstatt alle schlecht zu | |
| versorgen. | |
| Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas: Der Gärtner und die Yogalehrerin soll… | |
| Gegen den Kitaplatzmangel in Bremen setzt die Bildungssenatorin auf | |
| unqualifizierte Betreuer: Sie schlägt Zeiten ganz ohne pädagogisches | |
| Personal vor. | |
| KInderbetreuung in Schleswig-Holstein: Millionenloch im Kita-System | |
| In Kiel demonstrierten Eltern und Beschäftigte für ein besseres Kita-Gesetz | |
| und mehr Geld. Derzeit vorgeschriebene Standards führten zu Schließungen. | |
| Studie über Kitas in Deutschland: Es hapert bei der Sprachförderung | |
| Der Deutsche Kitaleitungskongress hat seine Studie zu Kitas vorgestellt. | |
| Vor allem die Sprachförderung steht im Vordergrund. | |
| Berliner Kita-Krise: Eltern in Nöten | |
| Eine Elterninitiative fordert in einer Petition Maßnahmen gegen die | |
| Kita-Krise. Vor dem Abgeordnetenhaus protestieren sie für bessere | |
| Bedingungen. | |
| Einschränkung der Kita-Betreuungszeiten: Personalmangel pflanzt sich fort | |
| Eltern, deren Kinder nicht betreut werden, fallen als Fachkräfte anderswo | |
| aus. Schon deshalb müssen die Wege in den Erzieherberuf überdacht werden. | |
| Fachkräftemangel in Kitas: Entlastung gegen Burnout | |
| Gegen die anhaltende Krise fordert Verdi einen Entlastungstarifvertrag. | |
| Eine Befragung der Beschäftigten soll den Anfang machen. | |
| Fehlende Plätze in Kitas: Und raus bist du! | |
| In Deutschland fehlen hunderttausende Kita-Plätze, besonders für die ganz | |
| Kleinen. Wie gehen Betreuer:innen mit der angespannten Lage um? | |
| Streikende Erzieher:innen bei Verdi: „Kita-Kleber“ wollen mehr Lohn | |
| Erzieher:innen bei Verdi haben in Berlin eine „Mahnwache gegen den | |
| Kita-Notstand“ abgehalten. Der nächste Warnstreik steht bevor. |