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# taz.de -- Jugendarrest für Schulvermeider: Niedersachsen bleibt Wegsperrmeis…
> Auch wenn's viel kostet und niemand weiß, ob es jemandem nutzt: In
> Niedersachsen landen Schulvermeider oft im Arrest. Anders als in
> Schleswig-Holstein.
Bild: Das öffentliche Bild von Absentismus ist eher verzerrt: Blick in ein jug…
BREMEN taz | Niedersachsen sperrt weg. Nicht flächendeckend, nicht
systematisch, aber die Wahrscheinlichkeit, dort wegen Schulweigerung in
Jugendarrest zu kommen, ist allen bekannten Zahlen zufolge [1][zehnmal so
hoch wie in Hamburg]: Jährlich werden zwischen Göttingen und Norderney im
Schnitt gut 400 Jugendliche deshalb eingesperrt.
In Schleswig-Holstein wiederum scheint es diese Praxis gar nicht zu geben.
Das dortige Bildungsministerium beteuert, von keinerlei Arrestfällen
Kenntnis zu haben. Stichproben auf Kreisebene erhärten diese Einschätzung.
Ganz sicher kann man aber nicht sein. Denn mit den Zahlen zu
Schulabsentismus ist das so eine Sache. „Die Datenlage in Deutschland ist
unbefriedigend“, so Heinrich Ricking.
Der Pädagoge war von 2014 bis 2022 Professor in Oldenburg. Mittlerweile ist
er an die Uni Leipzig gewechselt, erforscht aber weiterhin schulisches
Scheitern – und wie es sich vermeiden lässt.
## Ungezählte Ängste
Aber anders als in Großbritannien oder den Niederlanden „wissen wir in
Deutschland noch nicht einmal, ob, geschweige denn wie sich die Fehlzeiten
seit Corona entwickelt haben“, so Ricking. Zusammen mit der Flensburger
Professorin Marie-Christine Vierbuchen [2][sucht er gegenwärtig in
Schleswig-Holstein im Auftrag des Bildungsministeriums] nach Ursachen für
dauerhaftes Fernbleiben vom Unterricht. Die sind vielfältig. Angst vor
Institution oder Mitschüler*innen wird in der Literatur häufig als ein
Grund angeführt.
Der erste Schritt zum Verständnis eines Phänomens ist, es zu
quantifizieren: Auch in Schleswig-Holstein gibt es bislang keine
entsprechenden Statistiken. Zuletzt hatte Kiel im März 2023 eine Zahl zu
Schulverweigerung veröffentlicht, in einer Antwort auf eine
parlamentarische Anfrage.
Die Rede ist darin von 2.324 Schüler*innen, die im vorhergehenden
Schulhalbjahr auf mehr als 40 Fehltage gekommen seien. Allerdings waren das
nur die Werte von 394 der 795 Schulen des Landes. Insofern dürfte die
Gesamtzahl etwa doppelt so hoch gelegen haben – also rund 1,2 Prozent der
Schüler*innen des Landes betreffen. In Hamburg waren im gleichen
Zeitraum Schulpflichtverletzungen [3][von rund 0,8 Prozent der
Schüler*innen] erfasst worden.
## Schwammige Auskünfte
Schwammiger sind die Auskünfte aus Kiel zu den so genannten
Verwaltungsvollzugsverfahren: Auch Schulämter können in Schleswig-Holstein
ein Zwangsgeld verhängen, gegen die Eltern, im Zweifel aber auch gegen
Schüler*innen: Das kommt offenbar fast nie vor.
Gar keine Auskunft gibt es über Ordnungswidrigkeitsverfahren: Die lägen
schließlich ganz in kommunaler Hand, bei Landrät*innen oder den
Bürgermeister*innen. Wie oft sie Bußgelder in diesem Sinne verhängt haben,
„wird nicht statistisch erfasst“, heißt es in der Landtagsdrucksache von
2023. Zwei Jahre später ist darüber nicht mehr bekannt.
Das aber ist der Weg, über den Schulvermeidung in Niedersachsen in den
Jugendarrest führt: Dort hatte der Landesrechnungshof [4][(LRH) für den im
September vorgelegten Kommunalbericht] auch untersucht, wie mit
Schulpflichtverletzungen im Lande umgegangen wird. Anlass: ein vermuteter
Zusammenhang zwischen Absentismus und fehlenden Abschlüssen.
## Bußgelder wegen ständigen Fehlens
„Bei Schulpflichtverletzungen“, so die nicht näher begründete ideologische
Prämisse der Erhebung, sei es „wichtig, konsequent sowohl pädagogische
Maßnahmen als auch ordnungsrechtliche Verfahren einzuleiten“.
Das lässt sich aus den Zahlen nicht ableiten. Die sind aber für sich
genommen beeindruckend: Die laut LRH repräsentative Stichprobe des
Kommunalberichts erfasst fast zehn Prozent der weiterführenden
allgemeinbildenden Schulen.
Im letzten Jahr der Untersuchung waren sie zuständig für etwa 8,5 Prozent
der niedersächsischen Schüler*innen der Sekundarstufen, nämlich 48.711.
Allein im Jahr 2022 haben diese Jugendlichen 1.126
Ordnungswidrigkeitsanzeigen wegen Schulpflichtverletzungen erhalten – also
Bußgelder wegen ständigen Fehlens. Das entspricht einer Quote von 2,3
Prozent.
## Keine Statistik über Fehlzeiten
Mehr als ein Fünftel der betroffenen Schüler*innen sei, „anstatt das
ihnen auferlegte Bußgeld zu bezahlen“, so der LRH, „in den Jugendarrest
gegangen“. Allem Anschein nach hat Schulvermeidung seither noch deutlich
[5][zugenommen]. Das zeigt [6][eine Auswertung] niedersächsischer
[7][Lokalzeitungen] – in [8][denen] oft verniedlichend von [9][Schwänzen]
die Rede ist.
Eine unausrottbare Fehlbezeichnung, die sogar, wenn auch in
Anführungszeichen, der Sprecher des niedersächsischen Kultusministeriums,
Ulrich Schubert, nutzt. Man habe keine eigenen Zahlen, lässt er wissen.
„Statistische Daten über Fehlzeiten von Schülerinnen und Schülern werden
vom Kultusministerium nicht erhoben.“ Und schon gar nicht, wie oft die
kommunalen Behörden dann bei Schüler*innen oder Erziehungsberechtigten
Schulpflichtverletzungen ahnden: „Angaben dazu, wie oft und in welcher Form
Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet werden, werden von uns nicht
erfasst“, teilt Schubert mit.
## Keine Ahnung, wie Arreste wirken
Ohne das lässt sich aber auch über Erfolg oder Misserfolg [10][dieser recht
teuren Maßnahme] nichts sagen: „Wie das wirkt, wissen wir nicht“, muss
entsprechend Forscher Ricking in Bezug auf Arreste feststellen. „Da haben
wir keine Ahnung.“ Er nennt den Jugendarrest „aus pädagogischer Sicht und
in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel eine zweifelhafte
Maßnahme.“
Zudem sorgen regionale Gefälle für Ungerechtigkeit: Landkreise und Städte
verfahren je nach ihrer Fasson, was sich auch darin abzeichnet, dass die
tatsächlichen, vom Justizministerium erhobenen Arrest-Zahlen deutlich
niedriger liegen, als eine Hochrechnung aufgrund des LRH-Kommunalberichts
erwarten ließe: „Was auf meinen Absentismus als Schüler passiert, hängt im
Einzelfall mehr davon ab, wo ich wohne, als von dem, was ich getan habe“,
sagt Ricking.
Offenbar schreibt sich dabei eine Tradition fort: Schon vor zehn Jahren war
Niedersachsen mit damals 945 wegen Schulvermeidung arrestierten
Jugendlichen deutscher Wegsperrmeister. [11][Damals hatte die
Justizministerin versprochen, etwas dagegen zu tun].
Der Erfolg ist mäßig: Noch 2019, im letzten vorpandemischen Schuljahr waren
in Niedersachsen 641-mal Jugendliche wegen Absentismus weggesperrt worden –
für insgesamt 3.565 Tage. Danach gab es ein paar Schwankungen.
So sei es zum Beispiel „aufgrund von Coronaauflagen“ in dieser Zeit zur
„Nichtvollstreckung einiger Jugendarreste“ gekommen, erläutert ein Sprecher
des niedersächsischen Justizministeriums. Die Zahl sank auf unter 300. Doch
diese kurze Entspannung war schon 2023 wieder vorbei: Da waren 371-mal
Schüler*innen infolge des Fernbleibens vom Unterricht 1.601 Tage
verknackt worden.
11 Feb 2025
## LINKS
[1] /Volksinitiative-Bildung-ohne-Zwang/!5963893
[2] https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoerden/…
[3] https://www.linksfraktion-hamburg.de/schulabsentismus-linken-anfrage-enthue…
[4] https://www.lrh.niedersachsen.de/startseite/presse/pressemitteilungen/press…
[5] https://www.braunschweiger-zeitung.de/niedersachsen/braunschweig/article407…
[6] https://www.haz.de/lokales/hannover/in-hannover-gibt-es-so-viele-schulschwa…
[7] https://www.nwzonline.de/friesland/bussgeldbescheide-gegen-schulschwaenzer-…
[8] https://www.braunschweiger-zeitung.de/niedersachsen/peine/article407922841/…
[9] https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/seit-corona-schwaenzen-…
[10] https://www.iww.de/ve/aktuelle-gesetzgebung/haftkosten-neue-haftkostenbeit…
[11] https://tuttle.taz.de/!5223744&s=Niewisch+lennartz+arrest&SuchRahm…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schule und Corona
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