| # taz.de -- Expertin über kollabierende Kitas: „Lügen wir uns nicht weiter … | |
| > Die Bremer Kita-Expertin Ilse Wehrmann fordert angesichts des | |
| > Fachkräftemangels, ältere Kinder zu priorisieren anstatt alle schlecht zu | |
| > versorgen. | |
| Bild: Brauchen viel Betreuung: Kleinkinder beim Händewaschen in einer Kita | |
| taz: Frau Wehrmann, Eltern und Erzieher:innen warnen vor dem | |
| Kita-Kollaps, so heißt auch Ihr Buch. Aber [1][die Probleme bestehen seit | |
| Jahrzehnten]. Steckt der Fehler im System? | |
| Ilse Wehrmann: Ich glaube, die Einstellung zu Kindern muss sich ändern. Wir | |
| hinterlassen ihnen eine kaputte Umwelt und einen Schuldenberg, sind aber | |
| [2][nicht in der Lage, gute Kindergärten für sie zu schaffen]. | |
| taz: Sind Kindergärten ein Ausdruck dieser Einstellung? Sie wurden ja nicht | |
| für Kinder geschaffen, sondern für Eltern. | |
| Wehrmann: Die Bosch-Stiftung hat mich vor 20 Jahren um die Welt geschickt, | |
| damit ich mir Kitas anschaue, von denen wir uns etwas abgucken können. | |
| Jede, die ich gesehen habe, wäre bei uns sofort geschlossen worden. Aber | |
| die Haltung zu Kindern, die hat gestimmt. | |
| taz: Warum wären sie geschlossen worden? | |
| Wehrmann: Wegen der Sicherheitsbestimmungen. Wir legen viel Wert darauf, | |
| wie viel Abstände Steckdosen haben. | |
| taz: Warum sind Steckdosenabstände wichtiger als Kinder? | |
| Wehrmann: Das habe ich mich auch gefragt, und das in meiner Promotion | |
| untersucht. Grob gesagt haben sich Länder wie Neuseeland, Australien und | |
| Kanada Anfang der 90er auf den Weg gemacht mit einer Bildungs- und | |
| Ausbildungsreform. Da waren wir mit der Wiedervereinigung beschäftigt. | |
| Heute haben wir 16 Bildungspläne in den Bundesländern, im Umfang von bis zu | |
| 400 Seiten. Für Schweden gibt es einen: 35 Seiten. | |
| taz: Erzieher:innen haben keine Zeit, sie umzusetzen. | |
| Wehrmann: Die haben nicht mal Zeit, sie zu lesen! Sie werden völlig alleine | |
| gelassen. Ich habe noch nie so viel Frustration von Pädagogen erlebt wie im | |
| Moment. Viele sind so überfordert, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht | |
| mehr gerecht werden können, rigoros werden gegenüber Kindern. Und wir reden | |
| nicht mit ihnen, hören ihnen nicht zu. | |
| taz: Bremen will die Not lindern, indem Kinder am frühen Morgen und späten | |
| Nachmittag [3][von Ungelernten betreut werden]. So wie wir früher: Eltern, | |
| Großeltern, Nachbarinnen hatten auch keine Ausbildung. | |
| Wehrmann: Wir brauchen diese Zusatzkräfte, und ich finde es gut, wenn die | |
| Kinder von jemand lernen können, der mal einen anderen Beruf hatte. Aber | |
| ihre Eignung muss mit Assessments geprüft werden. Und sie brauchen | |
| Fortbildung und Beratung. | |
| taz: Das gilt auch für Fachkräfte: Ausbildung garantiert keine Eignung, und | |
| Haltung vermittelt kein Bildungsplan. | |
| Wehrmann: Entscheidend ist, dass ich ein Kind beobachte, ihm zuhöre und da | |
| abhole, wo es gerade ist, auch im Selbstständigwerden. Und ich muss selbst | |
| etwas im Kopf haben, um Zusammenhänge erklären zu können. | |
| taz: Müsste man in Zeiten so großen Fachkräftemangels die Betreuung älterer | |
| Kinder priorisieren? Sie profitieren vom Zusammensein mit anderen Kindern, | |
| [4][für die Ein- und Zweijährigen sind vertraute Erwachsene das | |
| Wichtigste]. Damit sie keinen Schaden nehmen, braucht es nach Einschätzung | |
| von Expert:innen [5][eine Fachkraft für drei Kleinkinder]. | |
| Wehrmann: Ich wäre immer dafür, Kinder, so lange es geht, zu Hause zu | |
| betreuen, vielleicht stundenweise außerhalb, um Eltern zu entlasten. Die | |
| große Wissbegierde und Neugier auf andere Kinder setzt ja erst ab etwa | |
| zweieinhalb Jahren ein. Aber dann müssten wir ihnen mindestens zwei Jahre | |
| vor der Schule den Kita-Besuch garantieren. | |
| taz: Verlässliche Betreuung für Ältere statt Stress für alle? | |
| Wehrmann: Ja. Aber wenn Mütter mehrere Jahre raus sind aus ihrem Beruf, | |
| haben sie häufig keine Chance, wieder reinzukommen. Und wir müssten auch | |
| ans Unterhaltsrecht ran. | |
| taz: Es müssen ja nicht nur Mütter zu Hause bleiben! Nach [6][einer | |
| aktuellen Umfrage] arbeiten Väter mehr, als sie selbst für ideal halten, | |
| und Mütter weniger. Dabei hatten Arbeitnehmer:innen noch nie eine so | |
| gute Verhandlungsposition. | |
| Wehrmann: Wir müssen auf jeden Fall alle an einen Tisch holen, Arbeitgeber, | |
| Gewerkschaften, Berufsverbände, Politik. Und vielleicht müssen wir wirklich | |
| den Mut haben zu sagen, wir erfüllen den Rechtsanspruch ab einem Jahr | |
| nicht, wir brauchen eine Gesetzesänderung. Aktuell haben 400.000 Kinder | |
| keinen Platz, weder die Qualität noch der zeitliche Umfang ist einklagbar. | |
| Und je kleiner die Kinder sind, umso besser muss die Einrichtung sein. Und | |
| das sind zu wenige. Also lügen wir uns nicht weiter in die Tasche. Dann | |
| möchte ich aber für die älteren Kinder Pädagogen haben, die auf | |
| internationalem Niveau aus- und weitergebildet werden, die Kindern Appetit | |
| machen auf den Kindergarten. | |
| taz: Die SPD glaubt, viele Kinder seien in Institutionen per se besser | |
| aufgehoben. | |
| Wehrmann: Ich habe damals für Platz-Sharing gekämpft, damit Krippenkinder | |
| nur für zwei oder drei Tage kommen können. Mir wurde Kindeswohlgefährdung | |
| vorgeworfen! Dabei müssen sich Kinder in erster Linie zu Hause wohlfühlen | |
| können, Kita ist familienergänzend. Wichtig ist, dass Eltern entspannt sind | |
| zu Hause, dann können sie auch souverän den Kindern gegenüber sein. | |
| taz: Die Weichen für den späteren Schulerfolg werden offenbar [7][im ersten | |
| Lebensjahr gestellt]. Müssen Familien mehr zu Hause unterstützt werden? | |
| Wehrmann: Ja. In China habe ich mir so etwas angeschaut. Vielleicht müsste | |
| man eine Debatte über das Kindergeld in Deutschland führen, ob das nicht | |
| besser in Unterstützungssysteme fließen sollte. Wir haben das höchste | |
| Kindergeld, aber die schlechteste Infrastruktur. | |
| taz: Oder eine über Beitragsfreiheit. | |
| Wehrmann: Grundsätzlich muss Bildung beitragsfrei sein. Aber im Moment | |
| haben wir andere Probleme zu lösen, wir können uns keine generelle | |
| Beitragsfreiheit leisten. | |
| taz: Müssen Eltern auch umdenken? Nicht alle nagen am Hungertuch, wenn sie | |
| weniger arbeiten würden. | |
| Wehrmann: Kastanien sammeln ist entspannter als teure Urlaube. Eltern | |
| müssen Kinder wieder mehr in ihren Alltag hineinnehmen und ihnen auch | |
| Aufgaben geben. Da muss die ganze Gesellschaft umdenken. Wir sind so satt | |
| und gut versorgt … In der Zukunft werden wir uns vieles nicht mehr leisten | |
| können. Darin liegt auch eine Chance. Wir werden wieder mehr improvisieren, | |
| fantasievoller werden. Es muss nicht immer alles geregelt und perfekt sein. | |
| 26 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rechtsanspruch-Kita-Platz/!5106026 | |
| [2] /Arbeitsbedingungen-in-Kitas/!6038948 | |
| [3] /Verzicht-auf-Paedagogen-in-Bremer-Kitas/!6045735 | |
| [4] https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/betreuung-von-kleinkindern-… | |
| [5] https://www.laendermonitor.de/de/vergleich-bundeslaender-daten/personal-und… | |
| [6] https://www.bib.bund.de/Publikation/2024/pdf/Bevoelkerungsforschung-Aktuell… | |
| [7] https://www.zeit.de/2023/11/brise-bremen-fruehkindliche-entwicklung/komplet… | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
| ## TAGS | |
| Kita | |
| Frühkindliche Bildung | |
| Erzieherinnen und Erzieher | |
| Fachkräftemangel | |
| Bremen | |
| Social-Auswahl | |
| Kitas | |
| Kita-Qualitätsgesetz | |
| R2G Bremen | |
| Niedersachsen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kitakrise in Deutschland: Ein Desaster – für alle | |
| Es mangelt an Kitaplätzen, Personal und Kompetenz. So geht das nicht | |
| weiter. Es müssen endlich genug Plätze und Erzieher:innen her. | |
| Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas: Der Gärtner und die Yogalehrerin soll… | |
| Gegen den Kitaplatzmangel in Bremen setzt die Bildungssenatorin auf | |
| unqualifizierte Betreuer: Sie schlägt Zeiten ganz ohne pädagogisches | |
| Personal vor. | |
| Zu wenig Kita-Plätze in Bremen: Mehr und mehr und noch nicht genug | |
| Bremens Betreuungslücke für Kleinkinder bleibt: Trotz 1.000 | |
| Erzieher*innen in Ausbildung sollen mehr Nicht-Fachkräfte das Problem | |
| lösen. | |
| Betreuung in Niedersachsens Kitas: Aus Krise wird Kollaps | |
| Immer mehr Kommunen in Niedersachsen verkürzen die Kernzeiten ihrer Kitas. | |
| Doch gelöst werden damit die Probleme bei der Kinderbetreuung nicht. |