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# taz.de -- Fehlende Plätze in Kitas: Und raus bist du!
> In Deutschland fehlen hunderttausende Kita-Plätze, besonders für die ganz
> Kleinen. Wie gehen Betreuer:innen mit der angespannten Lage um?
Bild: Spielend lernen die Kinder in der Kita
Die Kinder haben klare Zuständigkeiten: Es gibt einen Dirigenten, der das
Morgenritual leitet. Einen Tischdienst. Einen Zahnputzchef. An diesem
Montagmorgen darf Ly, ein Mädchen mit einem langen Zopf, die Dienste
einteilen. Sie läuft zur Wand, an der 22 Namen stehen. Ajala, Jack, Zeynep,
Lisa, Jakub. Ly überlegt kurz, dann greift sie zu einem Schild, auf dem Cem
steht.
Den ernennt sie zum Dirigenten. Johannes Hauenstein, der Erwachsene in der
Runde, nickt. „Jetzt noch die anderen Dienste“, sagt er. Nach dem
Stuhlkreis beginnt der Erzieher einer Kita im Berliner Westen mit seiner
eigentlichen Arbeit: der „Vorschule“. Hauenstein meint damit das
Bildungsangebot für die 22 Kinder.
Offiziell gibt es keine Vorschulen mehr in Berlin. Vor knapp zwanzig Jahren
hat der Senat sie abgeschafft. Bis heute ist der Ansatz umstritten, die
Kita-Kinder ab fünf Jahren spielerisch ans Lernen und an die schulische
Disziplin heranzuführen. Nur Hamburg bietet noch Vorschulen im letzten
Kita-Jahr an.
Doch inzwischen werden die Rufe nach mehr Förderung in der Kita wieder
lauter – seit offensichtlich ist, dass sich die Grundschulen zunehmend
schwertun, [1][allen Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen
beizubringen]. Mittlerweile scheitern sie damit bundesweit im Schnitt bei
jedem dritten bis vierten Kind – Tendenz stark steigend. Wie die
[2][jüngste Pisa-Studie] zeigt, holen die Schüler:innen diese Rückstände
in höheren Klassen meist nicht mehr auf.
## Der Lernhunger verpufft
Entsprechend planen mehrere Bundesländer Fördermaßnahmen in der Kita,
darunter Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg. Auch in Berlin sollen die
Deutschkenntnisse durch ein verpflichtendes „Kita-Chancenjahr“ steigen.
Johannes Hauenstein ist dafür. Seit den 70er Jahren arbeitet er als
Erzieher in Berlin. Er hat unterschiedliche pädagogische Ansätze
kennengelernt: Abenteuerspielplatz, Kinderläden, Ganztagsbetreuung an einer
Grundschule. Auch an einer Kita in staatlicher Trägerschaft hat er
gearbeitet. Heute überwiege in der frühkindlichen Bildung der „offene
Ansatz“, sagt Hauenstein.
Also die Vorstellung, dass das Kind seinen Wissensdrang mehr oder weniger
von alleine stillt. Doch das, meint er, funktioniere nicht. Ohne klare
Struktur verpuffe der Lernhunger der Kinder. Und ohne gezielte
Konzentrationsübungen falle vielen der Wechsel an die vergleichsweise
strenge Grundschule schwer.
Deshalb trainiert Hauenstein an diesem Morgen das Hörverständnis seiner
Vorschulgruppe. „Ist in Wiese ein 'i’?“ Jedes Kind nimmt er reihum mit
einer Frage dran. Das genaue Zuhören ist Teil einer festen Wochenstruktur.
Jeden Tag werden Sprach- und Schreibübungen gemacht. Dazu kommt, dass die
Kinder am Dienstag selbst Experimente durchführen dürfen. Am Mittwoch ist
A-Capella-Tag, am Donnerstag dann dürfen sie Parks und Museen erkunden.
Auch die „Hausaufgaben“, die abgeheftet werden, gehören zum Ritual. Es
handelt sich dabei um Mal- und Schreibübungen, die den Kindern helfen
sollen, sich selbst zu strukturieren.
Vor zehn Jahren haben Hauenstein und eine Kollegin das Programm entwickelt
und seither an verschiedenen Kitas in Berlin erprobt. In einem sozialen
Brennpunkt im Wedding, im Ost-Berliner Bezirk Pankow und nun im
bürgerlichen Charlottenburg. Überall hätten sie damit gute Erfahrungen
gemacht. Vor allem hätten sie Kinder zum Lernen motiviert. Auch die, die
kein oder wenig Deutsch konnten. „Die allermeisten konnten wir guten
Gewissens in die Schule schicken“.
Bildungsforscher:innen betonen schon länger, wie wichtig
Vorschulbildung ist. „Wir brauchen eine systematische, bedarfsgerechte
Förderung von Kindern bereits im Vorschulalter“, mahnt die nationale
Pisa-Projektleiterin Doris Lewalter. Die Kita soll heute nicht mehr nur die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf garantieren – sie soll Kinder fördern
und allen die gleichen Bildungschancen bieten. Oder zumindest die Defizite
verringern, die Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern mitbringen.
Dass Kitas dazu in der Lage sind, zeigt eine in Deutschland einzigartige
Langzeit-Bildungsstudie. Seit 2012 begleiten Forscher:innen vom
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg rund 3.400
zufällig ausgewählte Kleinkinder. Der erste „Test“ erfolgte bereits nach
sechs bis acht Monaten über eine aufwendige Videodokumentation und
Elternbefragung.
Mit drei Jahren dann untersuchten die Forscher:innen unter anderem, wie
gut das Kind Logikaufgaben bewältigt. Mit vier sein mathematisches
Verständnis. Mit fünf seinen Wortschatz und sein soziales Verhalten. Eine
internationale Gruppe von Forscher:innen hat die vollständig
vorliegenden Daten von 992 Kindern nun auf zwei Aspekte hin untersucht: Wie
entwickelten sich die einzelnen Kinder je nach sozialer Herkunft? Und
welche Rolle spielte es, ob das Kind dabei eine Kita besuchte oder nicht?
Mitte Januar [3][wurden die Ergebnisse dieser Studie veröffentlicht]. Aus
Sicht der stellvertretenden LIfBi-Direktorin und Mitautorin Corinna
Kleinert sind die Langzeitdaten eindeutig: „Vor allem Kinder aus Familien
mit niedrigem sozioökonomischen Status profitieren vom Kita-Besuch.“
Während es bei den besser gestellten Kindern keinen so großen Unterschied
mache, ob sie in eine Kita gehen oder nicht (außer im sozialen Verhalten!),
lernten benachteiligte Kinder dort deutlich mehr Wörter und hatten ein
besseres mathematisches Verständnis. „Die Kita kann soziale Ungleichheiten
absenken“, sagt Kleinert.
Allerdings zeigen ihre Daten auch: Ausgerechnet die Kinder, die am meisten
von der Kita profitieren würden, nehmen die Betreuung deutlich seltener in
Anspruch.
Woran genau das liegt, ist wenig erforscht. Eine Studie des Bundesinstituts
für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt jedoch, dass der [4][ungleiche Zugang
zu Kita-Plätzen] bis heute unverändert hoch ist. Sozial schwächer gestellte
Familien haben bei der Kita-Platzvergabe nur etwa halb so gute Chancen wie
besser gestellte – obwohl beide Gruppen einen gleich hohen Bedarf angeben.
Corinna Kleinert vom LIfBi hält deshalb einen weiteren Ausbau der
Kita-Plätze für dringend notwendig, um gleiche Bildungschancen für alle
Kinder zu gewährleisten.
Tatsächlich fehlen zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruches auf
einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr immer noch hunderttausende
Plätze. Vor allem bei den unter Dreijährigen klaffen Bedarf und Angebot
auseinander. Trotz des massiven Ausbaus der Betreuungsangebote durch Bund
und Länder kann heute nur etwa jedes dritte Kind unter drei eine Kita
besuchen: laut einer Untersuchung des Kölner Instituts der deutschen
Wirtschaft gab es im März 2023 Kita-Plätze für rund 857.000 Kinder. Jedoch
hatten die Eltern von 1,16 Millionen Kindern Bedarf.
Bei den älteren Kindern ist die Situation zwar deutlich entspannter – 92
Prozent besuchen bundesweit eine Kita – einen Betreuungswunsch geben jedoch
97 Prozent der Eltern an. Die [5][neue Präsidentin der
Kultusministerkonferenz] (KMK), Christine Streichert-Clivot, erklärt den
Dauermangel so: „Wir merken, dass die Nachfrage steigt, wenn wir das
Angebot ausbauen und die Eltern von den Gebühren befreien.“
Allein in Berlin fehlen nach Angaben der Bertelsmann Stiftung 17.000
Plätze. Auch die Kita, an der Johannes Hauenstein arbeitet, musste in
diesem Jahr wieder viele Eltern abweisen. Dabei könnte die Einrichtung
prinzipiell ein paar Kinder mehr aufnehmen als die aktuell 75, aber es
fehlt das Personal. „Die Vorgaben des Senats verbieten uns, noch mehr
Kinder aufzunehmen, wenn dann der Personalschlüssel nicht mehr stimmt“,
sagt Charlotte Yılmaz. Die Leiterin von Hauensteins Kita hat die taz
eingeladen, sich ein Bild vom dem Arbeitsalltag in ihrer Einrichtung zu
machen, vorausgesetzt, die Namen der Kinder und auch ihrer werden
anonymisiert.
Zu ihren Aussagen aber steht sie: „Die Ansprüche an die Kitas sind enorm
gestiegen. Vor allem die Dokumentation ist sehr umfangreich“.
Sprachstandserhebungen, Sprachlerntagebücher, Lerndokumentation,
Beobachtungsbögen, Entwicklungsgespräche mit den Eltern. Alles schreibe die
Bildungsverwaltung vor, sagt Yılmaz. Im Arbeitsalltag sei das kaum zu
bewältigen. Mehrmals musste ihr Kita-Träger schon eine Zeitarbeitsfirma
beauftragen, um kurzfristig einen qualifizierten Ersatz zu gewinnen.
Für Erzieher Hauenstein sind die Arbeitsbedingungen auf dem Papier gut. Für
die 22 Kinder sind 4 Fachkräfte zuständig. In der Praxis sind sie wegen
Urlaub, Krankheit, Teilzeit, Verwaltungsarbeit meist zu zweit. Vor allem
aber wünscht sich Hauenstein mehr Zeit, um seine Bildungsangebote gut vor-
und nachbereiten zu können. Um nicht auszubrennen, hat der Erzieher seine
Stunden reduziert – auf 22 die Woche.
„Ich liebe meine Arbeit. Aber acht Stunden Bildungsarbeit am Tag gehen
einfach nicht“. Ideal seien drei oder vier Stunden. Das entspreche in etwa
der Zeit, die Grundschullehrer:innen mit dem Unterrichten verbringen.
Die restlichen Wochenstunden hätten die Zeit für Elterngespräche,
Vorbereitung, Recherche. So eine Aufteilung hätte Hauenstein als Erzieher
auch gerne.
Doch wie das gehen soll, wenn an allen Enden Fachkräfte fehlen, kann er
nicht beantworten. Allein um die Betreuungswünsche aller Eltern zu
erfüllen, müssten die Kitas aktuell 100.000 Erzieher:innen zusätzlich
einstellen, [6][zeigt der aktuelle Kita-Fachkräfteradar] der Bertelsmann
Stiftung. Deren Bildungsexpertin Anette Stein sieht noch ein weiteres
Problem: „Selbst wenn all diese Erzieher:innen da wären, wären wir weit
entfernt von einer kindgerechten Betreuung“. Stein versteht darunter, dass
eine Fachkraft rechnerisch nicht mehr als 3 Krippen- oder 7,5 ältere Kinder
alleine betreut.
In der überwiegenden Mehrheit der Kita-Gruppen in Deutschland ist diese
Empfehlung jedoch reines Wunschdenken – vor allem in den ostdeutschen
Bundesländern. Dort liegen die Personalschlüssel teilweise fast doppelt so
hoch. Hinzu kommt: Verwaltungsaufgaben, Urlaubs- und Krankheitstage
verringern die Zeit, in der Erzieher:innen die Kinder pädagogisch
betreuen können.
Wozu das führt, konnte man im November in Berlin beobachten. Rund 2.600
Erzieher:innen der landeseigenen Kita-Betriebe haben wegen des hohen
Personalmangels beim Senat eine „kollektive Gefährdungsanzeige“ erstattet.
Dabei hat das Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung bereits in
der Vergangenheit mehrfach Alarm geschlagen. „Auf Grund von personellen
Engpässen können zum Teil pädagogische Aufgaben nicht erfüllt werden“,
heißt es etwa in einem Bericht von 2022.
## Standards werden gesenkt
Das Beispiel zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Um der Personalkrise
etwas entgegenzusetzen, senken viele Bundesländer mittlerweile die
Standards. In Rheinland-Pfalz etwa können Fachkräfte bereits nach 20 Tagen
„Basisqualifizierung“ in einer Kita arbeiten. Hessen hat die Gruppe an
Ausbildungsberufen erweitert, die nun als Kita-Fachkräfte in Frage kommen.
Und in Brandenburg dürfen bis zu 20 Prozent aller Mitarbeiter:innen
neuerdings komplett ohne pädagogische Ausbildung an Kitas arbeiten. Viele
Länder haben zudem schon den Weg für den Quereinstieg in die Kita geebnet,
auch Berlin.
Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung beobachtet diese Entwicklung mit
Sorge. „Das Kita-System steht heute bereits vor dem Kollaps“. Viele hätten
Probleme, die Öffnungszeiten aufrechtzuerhalten. Jetzt noch die Ansprüche
an die Qualität zu senken, wäre aus ihrer Sicht verheerend. Statt mehr
unqualifiziertes Personal einzustellen, empfiehlt sie, die Öffnungszeiten
vorübergehend einzuschränken – und die frei werdenden Ressourcen für mehr
Plätze zu nutzen.
Langfristig könne die Qualität nur gewährleistet bleiben, wenn der Bund
auch über 2025 hinaus in die Kita-Qualität investiere und die Länder die
Personalschlüssel anpassen. Optimistisch stimmt Stein lediglich, dass
einige Länder mittlerweile auf eine praxisorientierte und vergütete
Ausbildung setzen. Das mache zumindest den Einstieg in den Beruf
attraktiver.
Das alleine wird jedoch nicht reichen. Ab 2026 führt der Bund einen
weiteren Rechtsanspruch ein: den auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen.
Auch der ist wichtig. Zum einen für die Chancengerechtigkeit. Zum anderen
für berufstätige Frauen, die häufig unfreiwillig auf Teilzeit reduzieren,
wenn die Kinder in die Schule kommen, weil sie nachmittags nicht betreut
sind.
Für die Kitas jedenfalls sind die Pläne ein Prüfstein: Verbessern sich die
Arbeitsbedingungen bis dahin nicht deutlich, könnte ihr Personal Richtung
Grundschulen abwandern.
Für Johannes Hauenstein kommt ein Wechsel aber nicht in Frage. An seiner
Kita werde er für seine Bildungsarbeit wertgeschätzt, sagt er. In der
Grundschule, so hat er das erlebt, nähmen die Lehrkräfte seine Arbeit
hingegen nicht ernst.
## „Ich will nicht nur verwalten“
Katrin Schmidt-Sailer, 57, leitete ein Kita-Zentrum
„Mein Frust kam in Wellen und die Abstände wurden immer kürzer. Für mich
ist wichtig zu erkennen, dass sich was bewegt. Aber ich drehte mich auf der
Stelle. Also bin ich ausgestiegen.
Mein Slogan war immer: Ich möchte gestalten, nicht verwalten. Klopapier,
Möbel oder Spielbedarf bestellen – darum haben sich früher Kolleg*innen
aus der Verwaltung gekümmert. Heute muss ich für all das drei Angebote
einholen. Mit der Zeit hatte ich immer weniger Kapazitäten für das, wofür
ich eigentlich angetreten bin.
Immer wieder an der Realität zu scheitern, frustriert auf Dauer. Wer im
pädagogischen Bereich arbeitet, ist Gestalter*in und möchte kreativ die
Ideen der Kinder aufgreifen und umsetzen. Wenn ein Kind erzählt, es war im
Zoo und hat eine Babygiraffe gesehen und möchte sie allen zeigen, dann
wäre es logisch, einen Ausflug zu organisieren. Aber das ist schwer
umzusetzen.
Die Fragen, denen wir uns stets zuerst widmen müssen, sind: Wie viele sind
heute da? Wer kann was machen? Wie viele Kinder muss wer im Blick haben?
Die Kinder spüren unseren Stress und reagieren entsprechend darauf. Die
Zahl der Kinder, die wir als herausfordernd empfinden, hat zudem
zugenommen.
In meinen 17 Jahren als Leitung eines Kita-Zentrums in Karlsruhe hat sich
einiges entwickelt. Zum einen ist der Bedarf an Betreuung für Kinder unter
drei immer weiter gestiegen. Zum anderen arbeiten mehr Erzieher*innen
in Teilzeit. Man braucht also mehr Personal und entsprechend mehr
Kapazitäten für Führungsarbeit. Für Teamarbeit waren weiterhin zwei Stunden
vorgesehen, egal ob wir 20 oder 40 Leute waren. Da hat mein Träger keinen
Unterschied gemacht. Aber ich würde behaupten, auch mein Träger ist immer
mehr in Not gekommen, weil Verwaltungsvorschriften dazukamen und auch der
Personalmangel verwaltet werden muss.
Ich bin Gewerkschafterin und denke: Mehr Gehalt ist nicht das Zünglein an
der Waage. Es braucht vor allem bessere Arbeitsbedingungen. Denn durch den
Stress werden auch wir kränker. Ich hatte viele Ideen, aber die verpufften.
Jetzt gebe ich selbstständig Schulungen zur gewaltfreien Kommunikation und
arbeite mit pädagogischen Fachkräften. Bedarf ist da, denn die aktuelle
Lage belastet viele Teams.“ Protokoll: Adefunmi Olanigan
## „Das ist ein enormer Druck“
Anonym, 36, Erzieherin in einer Krippe im Allgäu
„Normalerweise besteht eine Gruppe aus zwölf Kindern und drei bis vier
Erzieher*innen. Ich bin seit mehreren Monaten die einzige Vollzeitkraft.
Eine weitere Kollegin ist drei Tage die Woche bis mittags da. Ich trage die
komplette Verantwortung für die Kinder und die Organisation in der Gruppe.
Das ist ein enormer Druck, denn die Kleinen sind alle auf mich fixiert.
Wenn ich den Raum verlasse, dann stehen zwei, drei Kinder an der Scheibe
zum Gang und weinen.
Ich arbeite seit zehn Jahren als ausgebildete Erzieherin in der selben
Kita. Seit neun Jahren bin ich in der Krippe, wo wir besonders kleine
Kinder betreuen. Von 8 Uhr bis 15.30 Uhr sind sie bei uns. Es gibt
Frühstück, Mittagessen und eine Brotzeit am Nachmittag, die ich vorbereite.
Dazwischen haben die Kinder freie Zeit zum spielen, ich wechsle Windeln,
lege die Kinder zum Mittagsschlaf hin, ziehe sie danach um. Die
Organisationsaufgaben, wie Elterngespräche oder die Portfolios, die die
Fortschritte der Kinder zeigen, bleiben oftmals liegen.
Manchmal mache ich Überstunden am Samstag für das Organisatorische,
vorausgesetzt, ich finde einen Babysitter für meine eigenen zwei Kinder.
Seit September schreiben wir Stellen für meine Gruppe aus, drei Personen
haben sich beworben. Eine hat sich für eine andere Kita entschieden, die
anderen beiden haben pädagogisch nicht gepasst. Mir ist es wichtig, dass
die Kinder in guten Händen sind.
Wenn genug Personal da wäre, würde ich gern die Gruppe aufteilen und mich
konzentriert um die Größeren kümmern. Ich würde mit ihnen spielen oder ein
Buch vorlesen, um danach über die Geschichte zu reden. Wir könnten besser
an motorischen Fähigkeiten arbeiten, mal in Ruhe Formen aus Papier
ausschneiden, ohne dass ein kleines Kind dazwischen geht. In der Realität
freue ich mich, wenn ich den Tag überlebe.
Seit meiner zweiten Erziehungspause während der Pandemie hat sich die Lage
bei uns in der Kita verschlimmert. Ich rede immer häufiger mit Kolleginnen,
die zu Bosch gehen und lieber Schichtarbeit am Band machen, weil es besser
bezahlt ist. Ich liebe meinen Job und gehe gern zur Arbeit, aber ob ich
meinem 17-jährigen Ich nochmal dazu raten würde, weiß ich nicht.“
Protokoll: Anastasia Zejneli
## „Geld fehlt an allen Ecken“
Martin Daub, 59, hat nach 20 Jahren als Kitaleiter in Pforzheim gekündigt
„Die Zusammenarbeit mit den Eltern fällt bei der Arbeit in der Kita meist
als erstes hinten runter. Keine Institution ist so dicht an den Familien
dran wie die Kitas. Aber das verpufft. Übrig bleiben nur noch
Krisengespräche mit Eltern von Kindern, die aus dem System fallen.
Und dann macht man das, was als Pädagoge oder Pädagogin eigentlich ein Tabu
ist: Man kümmert sich überwiegend um die herausfordernden Kinder und nicht
mehr um alle. Das allerdings signalisiert den sozial angepassten Kindern,
dass sie auffällig werden müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist
völliger Wahnsinn.
Wir haben zwei Probleme, die sich überschneiden: zu wenig Personal und zu
wenig Kita-Plätze. Geld fehlt auch an allen Ecken. Das beißt sich. Ich
kenne keine Kita, die in den letzten drei Jahren nicht in der Situation
war, dass man Angebote verkürzen oder ganz streichen musste. Ich hatte als
Leitung oft das Gefühl, nur noch den Mangel zu verwalten. Toleranz,
Inklusion, Selbstverwirklichung und Menschlichkeit – ich bin dafür
angetreten, diese Werte und Normen in der Kita zu leben. Aber darum konnte
ich mich nicht mehr groß kümmern.
Es ging nur noch darum, den Tag rumzukriegen, ohne dass etwas passiert. Das
hieß, die Öffnungszeiten abzudecken und der Aufsichtspflicht nachzukommen,
so dass am Ende des Tages alle gesund nach Hause gehen können. Solche Tage
nahmen immer mehr zu. Oft war ich abends total kaputt.
Sich anstrengen zu müssen, mal ein paar Stunden länger bleiben, das ist
kein Problem. Aber wenn das Gefühl anhält, dass man immer mehr arbeitet,
und doch kommt dabei immer weniger raus, das frustriert.
Ich bin gegangen, weil mir das Licht am Horizont fehlte. Es fehlt eine
politische Idee und der politische Wille, der Situation und dem
Fachkräftemangel zu begegnen. Mir scheint, es werden vor allem die
Anforderungen an den Beruf, heruntergesetzt. Bloß schafft das wieder neue
Probleme. So wird mit der Möglichkeit des Quereinstiegs zwar dem
Personalmangel begegnet. Aber dadurch muss in den Kitas viel
Ausbildungsarbeit stattfinden.
Zum Beispiel muss die Elternarbeit mit den Quereinsteigenden geübt werden,
oder der Umgang mit herausfordernden Kindern. Diese Arbeit ist bei weniger
Personal, vielen Ausfällen, höheren Anforderungen eine zusätzliche
Belastung. Es ist eine Last, die den gut ausgebildeten Erzieherinnen und
Erziehern aufgebürdet wird. Und die können sie irgendwann nicht mehr
tragen.“ Protokoll: Adefunmi Olanigan
## „Wir priorisieren dann“
Anonym, 50, ist Erzieherin in einer Kita in München
„Wir betreuen in unserem Kindergarten etwa 50 Kinder. Mal sind die Eltern
Akademiker, andere beziehen Sozialhilfe. Es ist alles da. Das funktioniert
ganz gut, weil wir nicht so krisengeplagt sind wie viele andere Kitas: Wir
haben gerade mal so genug Personal – alle sind gut ausgebildet, meine
Chefin hat eine Zusatzausbildung als Psychologin. Sie hält unser Team
zusammen, auch wenn wir gestresst sind. Und wir haben einige
Praktikant*innen, ohne die, das muss ich wirklich sagen, würde es nicht
laufen.
In der Praxis heißt das: Wir können uns mit den Kindern beschäftigen, wo
bei anderen Kitas nur noch beaufsichtigt wird. Wir setzen uns mit den
Kindern an den Tisch, basteln, machen unseren Morgenkreis. Die Kinder
singen meine Lieder mit Freude hoch und runter und ich singe bei ihnen
Quatsch mit ohne Ende. Das macht uns allen Spaß.
Gerade haben wir das Thema Kalender und sprechen darüber, warum wir
Silvester feiern. Ich habe erklärt, dass jetzt die Erde einmal um die Sonne
gekreist ist. Sie haben den Globus genommen, die Sonne genommen und haben
das nachgespielt. Diese Dinge passieren abseits von der Routine.
Aber auch wir kämpfen mit dem Fachkräftemangel. Wir achten streng darauf,
dass nie eine Erzieherin allein mit einer Gruppe ist. Wenn aber ein Kind
besonders hohen Förderbedarf hat, braucht es schon eine Person, die nur bei
ihm bleibt.
Wir haben zum Beispiel einen Jungen in der Gruppe, der zuhause Zugang zu
Filmen und Spielen bekommt, die nicht seinem Alter entsprechen. Der lebt
das im Kindergarten aus. Wir schauen, wenn er mit anderen spielt, dass da
nicht die Fäuste fliegen. Letzte Woche waren wir zu zweit, da ist zuerst
meine Kollegin mal rausgegangen und dann ich. Weil wir es nicht mehr
gepackt haben. Zu Mittag sind wir da alle schon ziemlich fertig.
Vor allem bräuchten wir auch Personal für die Verwaltung; die wurde in den
letzten Jahren immer mehr aufgebläht. Wir sind mehr im Büro und weniger bei
den Kindern. Wir priorisieren dann: Was ist gerade wichtig, was unwichtig?
Damit wir, wenn es nötig ist, für die Kinder und deren Eltern da sein
können. Denen machen wir nicht die Tür vor der Nase zu. Aber es ist
durchaus so, dass wir deshalb nach Feierabend auch mal ein oder zwei
Stunden dranhängen.
Wir haben es eben mit Einzelschicksalen zu tun, das darf man nicht
vergessen. Die Kinder, die dringend Hilfe brauchen, die, die schreien oder
die, die ganz still sind, denen fehlt oft das Rüstzeug zur Resilienz. Es
geht nicht nur darum, mit ihnen die Farben oder Jahreszeiten zu lernen.
Wenn wir ihnen beibringen, mit schwierigen Situationen umzugehen, nein zu
sagen, Grenzen zu zeigen – dann würde das auch der Gesellschaft viel
bringen.“ Protokoll: Alena Wacenovsky
28 Jan 2024
## LINKS
[1] /Schule-und-jede-Menge-Fragen/!5887426
[2] /Pisa-Schock-fuer-deutsche-Schuelerinnen/!5974146
[3] https://www.lifbi.de/de-de/Start/Aktuelles-Medien/Neuigkeiten?details=kita-…
[4] /!5971431/
[5] /SPD-Politikerin-ueber-Bildung-und-Kultur/!5982364
[6] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/fachkr…
## AUTOREN
Ralf Pauli
Adefunmi Olanigan
Alena Wacenovsky
Anastasia Zejneli
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