| # taz.de -- Frühkindliche Bildung: Kitas in der Kritik | |
| > Die Unzufriedenheit ist in der frühkindlichen Bildung hoch. Es ist ein | |
| > Signal an die Politik, die Qualität der Vorschuleinrichtungen auszubauen. | |
| Bild: Die Unzufriedenheit in der frühkindlichen Bildung ist groß | |
| Für alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft gibt es systematische | |
| Überprüfungen. In der Politik wird durch Wahlen immer wieder festgestellt, | |
| welche Stärken und Schwächen die Parteien haben. In der Wirtschaft gibt es | |
| den Fachrat von Wirtschaftsweisen und verschiedene Indizes für die | |
| Konjunktur. Auch im Gesundheitswesen hat sich mit „Weißen Listen“ und | |
| anderen Beurteilungsplattformen ein Rückmeldeverfahren etabliert. | |
| Das Bildungssystem ist von mindestens ebenso elementarer Bedeutung – bisher | |
| aber gibt es nur sehr wenige kritische Meldesysteme. Diese Lücke haben wir | |
| durch einen neuartigen Bildungsindex gefüllt. Die Idee dabei: Niemand ist | |
| besser geeignet, das Bildungssystem zu bewerten, als die in diesem Bereich | |
| selbst tätigen Menschen. Sie wissen aus eigener Erfahrung genau, wo die | |
| Stärken und die Schwächen des Bildungssystems liegen. | |
| In diesem Sinne hat [1][das FiBS-Forschungsinstitut für Bildungs- und | |
| Sozialökonomie] den Plan entwickelt, [2][250 Expert:innen aus allen | |
| Bereichen des Bildungssystems um ihre Einschätzung zu bitten]. Ziel ist es, | |
| von ihnen spontane und persönliche Einschätzungen zu unterschiedlichen | |
| Facetten von Bildung zu erhalten. Weil sie täglich in unterschiedlichen | |
| Rollen mit Bildung zu tun haben, besitzen sie eine tiefe Kenntnis des | |
| Systems. Ihre Einschätzung ist vom Typus her persönlich und subjektiv, aber | |
| durch ihre unmittelbare Beziehung und tägliche Erfahrung ist sie | |
| authentisch und differenziert. | |
| ## Zufriedenheit hält sich in Grenzen | |
| Das Expert:innenpanel wurde aus Personen gebildet, die im deutschen | |
| Bildungssystem auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen. Denn es | |
| braucht den Blick auf das Ganze. Es braucht den Blick auf das lebenslange | |
| Lernen – von der frühkindlichen Bildung über die schulische Bildung, die | |
| berufliche Ausbildung, die Hochschule bis hin zur Weiterbildung, auch im | |
| hohen Alter. | |
| Zu oft geraten die ineinandergreifenden Zahnrädchen aus den Augen, verliert | |
| das Systemische des Systems an Aufmerksamkeit. Entsprechend haben wir die | |
| 250 Expert:innen so ausgewählt, dass sie nicht nur die fünf Bereiche des | |
| lebenslangen Lernens abdecken, sondern auch unterschiedliche Perspektiven | |
| haben: Die Lernenden sind genauso vertreten wie die Lehrkräfte und | |
| Ausbildenden, die Elternvertretungen, das Kitapersonal, die | |
| Leitungspersonen, politisch Verantwortliche sowie Fachleute aus | |
| Bildungsverwaltung und Bildungsforschung. | |
| Wie nicht anders zu erwarten, hält sich die generelle Zufriedenheit mit dem | |
| Bildungssystem in Deutschland bei den Expert:innen in Grenzen. Gerade | |
| einmal knapp eine von fünf befragten Personen zeigt sich ansatzweise | |
| zufrieden. Dagegen äußert sich ein Drittel eher unzufrieden, fast jede | |
| zehnte Person ist sogar sehr unzufrieden. Die generelle Zufriedenheit ist | |
| unter den Befragten aus der frühkindlichen Bildung – also Kitas und | |
| Vorschulen – am geringsten (acht Prozent); die aus der Hochschulbildung | |
| fast viermal so hoch (29 Prozent). | |
| Dabei zeigt sich die Unzufriedenheit der Expert:innen aus der | |
| frühkindlichen Bildung vor allem in drei Bereichen: beim Thema | |
| Chancengleichheit (78 Prozent), bei der Personalausstattung (74 Prozent) | |
| und der Kompetenzvermittlung (54 Prozent). In anderen Worten: Knapp 8 von | |
| 10 Befragten aus dem frühkindlichen Bereich sind unzufrieden mit dem, was | |
| das Bildungssystem für die Chancengleichheit leistet, knapp 3 von 4 sagen, | |
| dass die Personalausstattung vorne und hinten nicht reicht, und über die | |
| Hälfte ist der Meinung, dass die Kompetenzvermittlung, eine, wenn nicht die | |
| Kernaufgabe des Bildungssystems, nicht zufriedenstellend gelingt. | |
| Besonders auffällig: Die 250 Befragten sind sich über alle Bildungsbereiche | |
| hinweg einig, [3][dass in die frühkindliche Bildung am meisten investiert | |
| werden muss], um die Grundlage für die weitere Bildungslaufbahn zu stärken. | |
| Wären sie Bildungsminister:in und hätten mehr Geld zu verteilen, | |
| würden 41 Prozent der Befragten diese in die frühkindliche Bildung stecken. | |
| ## Es gibt auch Hoffnung | |
| Diese starke Beachtung des frühkindlichen Bildungsbereichs ist | |
| bemerkenswert. Sie kann als ein deutlicher Hinweis für die Politik | |
| verstanden werden, in diesen Bereich stärker zu investieren. Entsprechend | |
| wichtig wird es, in den nächsten Jahren die Qualität der | |
| Vorschuleinrichtungen auszubauen und ausreichend Personal durch gute | |
| fachliche Aus- und Weiterbildung zu gewinnen und zu halten. | |
| Hoffnungsvolle Botschaften gibt es auch: Mit der Vermittlung demokratischer | |
| Grundwerte zeigten sich im Herbst 2023 insgesamt mehr Expert:innen | |
| zufrieden als unzufrieden. Angesichts von wachsendem Rechtsextremismus in | |
| Politik und Gesellschaft ist das allerdings kein Grund, sich auszuruhen, | |
| denn Demokratie will gelernt werden, von der Pike an bis ins hohe Alter. Ob | |
| ein Bildungssystem demokratische Werte auch lebt, zeigt sich dann nicht nur | |
| am Wahlverhalten, im gesellschaftlichen Miteinander, sondern auch im | |
| Beitrag des Systems zu mehr Chancengleichheit und Teilhabe, zu | |
| Möglichkeiten der Mitbestimmung. | |
| Es sind die Lernenden, die sich generell am unzufriedensten mit dem | |
| Bildungssystem äußern: Über die Hälfte ist unzufrieden, nur 10 Prozent sind | |
| ansatzweise zufrieden. Zum Vergleich: Aus der Bildungspolitik ist knapp | |
| jede:r Vierte eher zufrieden. Hier ist die Politik gefragt, bei denen | |
| genauer hinzuhören, die vom Bildungssystem profitieren sollen, und die | |
| politische Zuversicht so in die Praxis zu bringen, dass sie auch bei den | |
| Lernenden ankommt. | |
| Insgesamt ist es eine nüchterne Bewertung des deutschen Bildungssystems, | |
| die aber zugleich den Finger in die Wunde legt und deutliche Hinweise für | |
| politische Ansätze formuliert. Die wichtigsten sind: die stärkere | |
| Berücksichtigung des frühkindlichen Bereiches und eine stärkere Beteiligung | |
| der Lernenden an der Gestaltung von Inhalten und Abläufen. So gesehen zeigt | |
| der Bildungsindex auf, was jetzt dringend zu tun ist. | |
| Sarah Fichtner arbeitet als Senior Researcher und Projektleiterin am | |
| FiBS-Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin. Klaus | |
| Hurrelmann, Sozial- und Bildungsforscher, ist Senior Expert am | |
| FiBS-Forschungsinstitut. | |
| 1 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.fibs.eu/ | |
| [2] https://www.cornelsen.de/bildungsindex | |
| [3] /SPD-Politikerin-ueber-Bildung-und-Kultur/!5982364 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hurrelmann | |
| Sarah Fichtner | |
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