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# taz.de -- Bericht eines Opfers der Judenverfolgung: Das andere Tagebuch
> Yitskhok Rudashevski starb 15-jährig 1943 im deutsch besetzten Litauen.
> Sein Tagebuch gibt Zeugnis über die Vernichtung der Juden in Osteuropa
> ab.
Bild: Gedenken an einem Shoa-Denkmal in Vilnius
Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wird nicht
verblassen, das ist sicher. Doch diese Erinnerung ist bis heute
zweigeteilt. Auch wenn inzwischen eine große Zahl wissenschaftlicher
Studien über den Holocaust und weitere [1][Massenverbrechen in Osteuropa]
publiziert worden ist, so bleibt das Gedenken in der Bundesrepublik doch
weiterhin primär den mörderischen Taten in Deutschland selbst und in West-
und Mitteleuropa verhaftet.
Das [2][Massaker im französischen Oradour-sur-Glane] im Juni 1944 ist dafür
ein Beispiel, während niemand der Hunderten verbrannter Dörfer in
Weißrussland gedenkt. Die Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar und
Majdanek auf besetztem polnischen Gebiet sind präsent, Maly Trostinez bei
Minsk ist dagegen kaum jemandem ein Begriff.
Und natürlich lernt fast jeder Schüler das Amsterdamer [3][Tagebuch der
Anne Frank] als ein Beispiel für das verzweifelte Leben einer jüdischen
Familie im Versteck kennen. Das ist auch gut so.
Aber es gab bisher kein entsprechendes Äquivalent aus den Ghettos in
Osteuropa. Jede Erinnerung an die Zeit der Verfolgung und des Mordens ist
individuell, jede trägt autobiografische Züge und jedes dieser Zeugnisse
unterscheidet sich in der Darstellung der Bedrohung, weil diese oft höchst
unterschiedlich ausfiel. Insofern verbietet sich ein Vergleich zwischen
diesen hinterlassenen Schriften der Opfer.
## Die Mordmaschine
Diese Schriften sind auch deshalb so wichtig, weil sie die unfassbaren
Opferzahlen an einem einzelnen Menschen sichtbar machen und weil sie
vermitteln können, unter welchen Bedingungen die Verfolgten dahinvegetieren
mussten, bis ein großer Teil von ihnen der Mordmaschine der Nazis zum Opfer
fiel. Sie vermitteln individuelles Leben und Leiden, das den Leser anders
berührt, als wenn er die Eichmann’schen Todesstatistiken studiert.
77 Jahre nach seinem Tod sind nun die Erinnerungen von Yitskhok Rudashevski
erstmals in deutscher Sprache erschienen. Sie stammen aus dem [4][Ghetto
von Wilna (Vilnius)] in Litauen und geben Zeugnis davon ab, was dort
geschehen ist. Der Autor hat nicht überlebt, sein Versteck wurde entdeckt,
er starb vermutlich Ende 1943 in Ponar, ursprünglich ein naher Ausflugsort,
wo die SS in Gruben etwa 80.000 Juden erschoss. Yitskhok Rudashevski ist
nur 15 Jahre alt geworden.
Sein Tagebuch setzt 1941 ein, kurz vor der Einrichtung des jüdischen
Ghettos durch die Nazis und ihre litauischen Helfer.
Rudashevski schreibt: „Im Haus wird gepackt. Die Frauen laufen hin und her.
Sie ringen die Hände beim Anblick des Hauses, das aussieht wie nach einem
Pogrom. Ich gehe mit trüben Augen zwischen den Bündeln umher, ich sehe, wie
wir über Nacht aus unserem Heim geworfen werden. Bald zeigt sich uns der
erste Anblick vom Umzug ins Ghetto, ein Bild aus dem Mittelalter: Eine
grau-schwarze Masse läuft wie angeschirrt vor großem Gepäck. Wir verstehen,
dass wir bald an der Reihe sein werden.“
## Alltag im Ghetto
Yitskhok Rudashevski beschreibt den Alltag im Ghetto, die ständige Suche
nach Essbarem, den gefährlichen Schmuggel dorthin, die Kälte und das
fehlende Heizmaterial, die Transporte der Todgeweihten, der Kampf um die
vorläufig rettenden Arbeitsausweise. Er nennt Namen der verhassten
Deutschen, aber spart auch nicht mit Kritik an der jüdischen
Ghetto-Polizei, die ihm als unmenschlicher Helfer der Nazis erscheint.
Dabei ist Rudashevski nicht nur ein Chronist des Ghettolebens, sondern auch
darum bemüht, den Verfolgungen selbst etwas entgegenzusetzen. Mit seiner
Geschichtsgruppe erforscht er die Lebensverhältnisse der eingesperrten
Juden. Der Junge ist „Pionier“ einer illegalen kommunistischen
Jugendgruppe, er verfolgt atemlos die Offensive der Sowjets, will
Widerstand leisten.
Sein Tagebuch sprüht vor intellektuellem Geist. Dies ist kein Junge, der
einfach nur das Gesehene niederschreibt. Rudashevski reflektiert über die
Geschehnisse, bildet sich Urteile.
Und er verfasst dies in einer sachlichen Art und Weise, die erschaudern
lässt: „In meinem alltäglichen Ghettoleben scheint es mir, dass ich normal
lebe, aber häufig habe ich tiefe Zweifel. Sicherlich könnte ich besser
gelebt haben. Muss ich Tag für Tag dieses vermauerte Ghettotor sehen, muss
ich in meinen besten Jahren nur diese eine Gasse sehen, diese wenigen
stickigen Höfe?“
## In den Trümmern der Häuser
Im September 1943 liquidieren die Nazis das Ghetto von Wilna. Yitskhok
Rudashevski und seine Familie gehören zu den wenigen, die sich in den
Trümmern der Häuser verstecken können. Am 5. oder 7. Oktober 1943 wird ihr
Versteck entdeckt.
Rudashevskis Tagebuch endet schon zuvor, am 7. April 1943. Der letzte Satz
lautet: „Uns kann das Schlimmste geschehen.“ Fast alle der 70.000 Juden von
Wilna wurden umgebracht.
Eine überlebende Verwandte fand das Tagebuch nach der Befreiung auf dem
Dachboden des Hauses, in dem sich Yitskhok Rudashevskis Familie zuletzt
versteckt gehalten hatte. Sie übergab es dem Jüdischen Museum in Vilnius.
Von dort gelangte es über Umwege in den jungen Staat Israel, wo eine – um
die kommunistischen Sympathien des Jungen bereinigte – jiddische Ausgabe
1953 erschien. Es folgten Übersetzungen ins Hebräische, Englische und
Französische.
Wolf Kaiser, der Herausgeber der deutschen Ausgabe, hat das Tagebuch mit
einem einführenden Vorwort ergänzt und die klugen Anmerkungen zum Text
verbessert. Es ist nur ein schmaler Band, leicht zu übersehen, erschienen
in einem kleinen Verlag, der zwischen anderen Neuerscheinungen und in der
Coronapandemie unterzugehen droht.
Lest Yitskhok Rudashevski! Bringt es in die Schulklassen, stellt es in die
Schaufenster der Buchhandlungen. Erinnert euch daran, was zwischen 1941 und
1943 in Wilna geschehen ist.
10 Jan 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
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