# taz.de -- Wissen, dass man nichts weiß: Sprachreise ins jiddische Stedtl | |
> Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln oder "aus akademischem Interesse" | |
> lernen Menschen aus aller Welt im einstigen Wilna Jiddisch | |
Bild: Sie kommen aus aller Welt | |
Vilnius, Litauen. Sie kommen aus Kanada, den USA, aus Argentinien, Israel, | |
aus Hamburg oder aus der Nachbarschaft. Im litauischen Vilnius, dem | |
einstigen Wilna, lernen sie am Rande des ehemaligen jüdischen Ghettos eine | |
sterbend geglaubte Sprache: Jiddisch. | |
In rabbinischem Singsang rezitiert Dov-Ber Kerler alte Maises (Geschichten) | |
auf Jiddisch aus einer untergegangenen Welt: den Stedtl Osteuropas. | |
Vierzehn Schüler aus sechs Ländern saugen jedes seiner in den langen | |
Rauschebart genuschelten Worte auf, als seien sie ihnen heilig. Nur selten | |
unterbricht der Dozent seinen Monolog, um eine Frage zu stellen. Die | |
Antworten kommen prompt, wenn auch mit starkem amerikanischen, | |
französischem oder spanischem Akzent. Viele schreiben mit, die meisten in | |
hebräischen Buchstaben. Hier sitzen die Fortgeschrittenen – Level 4 der | |
Yiddish Summer School an der Universität von Vilnius, der Hauptstadt | |
Litauens, Kulturhauptstadt Europas 2009 und einstigen Metropole der | |
jüdischen Aufklärung. | |
"Ech hob gemeint, ech weiß, aber jetzt weiß ich, dass ech gur nischt weiß", | |
erzählt eine Kursteilnehmerin, die nach sieben Jahren in Israel nun wieder | |
in ihrer Heimatstadt Vilnius lebt. Am Yiddish Institute lernt die alte Dame | |
ihre Mameloschn, ihre Muttersprache. Als Kind habe sie nur Jiddisch | |
gesprochen. Die damalige Amtssprache Russisch lernte sie erst in der | |
Schule. "Wenn die Eltern hobn gestorbn, hob ich aufgehert zi rejdn | |
Jiddisch." | |
"Viele Überlebende des Holocaust haben versucht ihre Herkunft zu | |
verdrängen", weiß die stellvertretende Direktorin des Instituts Ruta | |
Puisyte. Sie wollten sich möglichst schnell ihrer neuen Umgebung anpassen. | |
Jetzt sind es ihre Kinder und Enkel, die mehr über die Geschichte ihrer | |
Familien erfahren möchten, Fragen stellen und die Sprache ihrer Vorfahren | |
lernen. | |
Auch Barbara aus Virginia lernt in Vilnius ihre Muttersprache. Rechtzeitig | |
vor dem Holocaust sind ihre Eltern nach Amerika ausgewandert, wo sie 1939 | |
zur Welt kam. Zu Hause hat sie mit ihren Eltern Jiddisch gesprochen. Wie | |
viele sucht sie im Jiddischkurs auch nach ihren jüdisch-europäischen | |
Wurzeln. | |
Diese liegen gleich hinter den meterdicken Mauern der Vilniuser | |
Universität. Die um 13 Innenhöfe vor fast 500 Jahren im Renaissancestil | |
erbaute Hochschule grenzt an das einstige jüdische Ghetto. Tausende von | |
Menschen haben die Nazis in der inzwischen zum Weltkulturerbe zählenden | |
Vilniuser Altstadt zusammengepfercht. Seit dem deutschen Einmarsch 1941 zog | |
sich der Ring der Vernichtung immer enger um das einst blühende jüdische | |
Viertel.Am23. September 1943 ließen die Mörder das Ghetto schließlich | |
"liquidieren". Wer bis dahin nicht geflohen war, wurde von SS-Männern und | |
ihren litauischen Helfern aus der Stadt getrieben, unterwegs erschossen | |
oder in einem der Vernichtungslagern vergast. | |
Der heute 86-jährigen Fania Brancovskaja gelang die Flucht in letzter | |
Minute. Sie schloss sich den Partisanen an, die in den Wäldern mit | |
sowjetischer Unterstützung gegen den braunen Terror kämpften. In fließendem | |
Jiddisch erzählt sie ihre Geschichte. Nach dem Krieg kam sie zurück. Von | |
den einst etwa 200.000 Litauer Juden, den Litwern, hat nicht einmal jeder | |
Zwanzigste den Holocaust überlebt. | |
Fanja, die in Vilnius geblieben ist, organisiert die Bibliothek des | |
Jiddisch-Instituts und führt die Kursteilnehmer auf den Spuren des einst | |
blühenden jüdischen Lebens durch die Stadt. Seit dem 18. Jahrhundert galt | |
das damalige Wilna mit seinen zahlreichen prächtigen Synagogen und | |
Religionsschulen als Jerusalem des Nordens. Als die Deutschen 1941 | |
einmarschierten, waren mehr als ein Drittel der Einwohner Juden. Viele | |
berühmte jüdische Gelehrte wie der "Gaon von Wilna" hatten die Stadt über | |
zwei Jahrhunderte geprägt. Entstanden war die jüdische Gemeinde im späten | |
Mittelalter, als der Großfürst des damals mächtigen polnisch-litauischen | |
Großreichs verfolgten Juden vor allem aus Deutschland die Grenzen öffnete. | |
Die meisten heute angeblich typisch jüdischen Namen wie Goldstein oder | |
Rosental brachten die Flüchtlinge damals aus Deutschland mit. Auch ihre | |
Sprache hat sich in Polen, Litauen, der Ukraine und Russland erhalten: eine | |
Art Mittelhochdeutsch mit zahlreichen hebräischen Wörtern. Außerdem hatten | |
Juden, die vor der Inquisition aus Spanien geflohen waren, sehr viele | |
altspanische Worte mitgebracht. In Osteuropa kamen russische und polnische | |
Begriffe dazu. | |
Als Germanistin beschäftigt sich Annika wissenschaftlich mit der Sprache. | |
In Hamburg studiert die mit 25 Jahren jüngste Jiddischschülerin | |
Germanistik. Als Deutsche ohne jüdische Wurzeln ist sie mit einem unguten | |
Gefühl angereist. "Ich habe mich schon gefragt, wie die anderen auf mich | |
reagieren würden", erzählt sie und war dann "sehr erleichtert, dass sie | |
ganz offen und herzlich aufgenommen wurde". Als Schülerin hatte sich Annika | |
in einem Unterrichtsprojekt mit dem jüdischen Friedhof ihrer Heimatstadt | |
und der Geschichte des Holocaust beschäftigt. Am authentischen Ort in | |
Vilnius lernt sie nun Jiddisch viel intensiver, als in Hamburg, wo sie an | |
der Universität ebenfalls Jiddischkurse belegt hat. | |
Jahrzehnte lang war der Holocaust in Litauen wie in der ganzen Sowjetunion | |
nur ein Randthema. Auch seit der Unabhängigkeit 1990 stellt sich das | |
offizielle Litauen nur zögernd seiner Mitverantwortung für den Massenmord | |
an den Juden. Schon in den Zwanzigerjahren habe es im unabhängigen Litauen | |
Pogrome gegen Juden gegeben. Natürlich hätten ihre Landsleute "Juden an die | |
Deutschen ausgeliefert", sagt Ruta Puisyte, die Leiterin des Yiddish | |
Institute. "Litauer haben die Dreckarbeit gemacht." | |
Das in ganz Vilnius ausgeschilderte "Genozidmuseum" in bester | |
Innenstadtlage präsentiert detailreich die Verbrechen der Sowjets im Lande | |
und widmet sich ausführlich dem Schicksal der vielen nach Sibirien | |
deportierten Litauer. Anders als das internationale Völkerrecht definiert | |
das litauische Gesetz die sowjetischen Deportationen als Völkermord. | |
Über die Nazibesatzung von 1941 bis 1944 und den Massenmord an den Juden im | |
Lande erfahren die Museumsbesucher so gut wie nichts. Das kleine jüdische | |
Holocaustmuseum fristet ein Schattendasein in einem Park am Rande der | |
Innenstadt. Wer es sehen will, muss lange danach suchen. Fotos und | |
Dokumente zeigen dort, wie zum Beispiel in Kaunas christliche Litauer ihre | |
jüdischen Nachbarn erschlugen, nur weil sie Juden waren. Ein deutscher | |
SS-Offizier meldet in die Heimat, dass es "nach anfänglichen | |
Schwierigkeiten" gut gelungen sei, Pogrome gegen die Juden anzuheizen. Ohne | |
die zahlreichen einheimischen Helfer hätten die Deutschen oft gar nicht | |
feststellen können, wer Jude war. | |
Vilnius Yiddish Institute, Universiteto 7, Vilnius 01513, Litauen, Tel.: | |
(00 37 05) 2 68 71 87, [1][www.judaicvilnius.com] | |
24 Sep 2008 | |
## LINKS | |
[1] http://www.judaicvilnius.com | |
## AUTOREN | |
Robert B. Fishman | |
## TAGS | |
Shoah | |
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