# taz.de -- Autor Sergio Ramírez über Nicaragua: „Es herrscht die nackte An… | |
> In Nicaragua wird die Luft für Oppositionelle und Künstler immer dünner. | |
> Der frühere Vizepräsident und Schriftsteller Sergio Ramírez über das | |
> Regime Ortega und sein Exil. | |
Bild: Der nicaraguanische Autor Sergio Ramírez bei der Vorstellung seines neue… | |
taz: Herr Ramírez, Sie mussten jetzt zum zweiten Mal ins Exil gehen. 1977, | |
noch unter der alten, der Somoza-Diktatur mussten Sie schon einmal | |
Nicaragua verlassen. Nun, 42 Jahre nach der sandinistischen Revolution von | |
1979, hat Sie der Bannstrahl des Ortega-Regimes ereilt. Wie kam es dazu? | |
Sergio Ramírez: Ich war im Juni aus gesundheitlichen Gründen in den USA. | |
Dann wurden in Nicaragua die Oppositionspolitiker der Reihe nach | |
festgenommen. Als auch Dora María Téllez und Hugo Torres verhaftet wurden, | |
habe ich beschlossen, lieber nicht nach Nicaragua zurückzukehren sondern | |
nach Costa Rica zu gehen. Hier lebe ich jetzt seit Juni. | |
Haftbefehl und Durchsuchungsbeschluss hatten Sie also schon kommen sehen? | |
Mir war klar, dass sie früher oder später auch hinter mir her sein würden. | |
Das Regime nimmt keine Rücksichten mehr, auch die internationale Reputation | |
ist ihnen egal. Sie haben die Vorkandidaten der Opposition für die | |
Präsidentschaftswahl festnehmen lassen, sie pfeifen auf die internationale | |
Anerkennung der Wahlen am 7. November. Obwohl ich mit den Wahlen nichts zu | |
tun habe, werfen sie mir dieselben Verbrechen vor, wie den jetzt | |
inhaftierten Oppositionellen. | |
Also Vaterlandsverrat nach dem neuen Gesetz 1055? | |
Richtig. Und auch noch Geldwäsche. | |
Weil Sie Geld von der Violeta-Barrios-de-Chamorro-Stiftung für | |
Pressefreiheit (FVBCh) angenommen haben? | |
Genau. Wir haben damit Journalismusseminare finanziert. Das Absurde ist, | |
dass eine Verfolgung nach dem Geldwäschegesetz voraussetzen würde, dass die | |
Gelder illegal erworben wurden. Nur dann kann man sie waschen. Die Stiftung | |
für Pressefreiheit erhielt aber ihre völlig legale Unterstützung aus der | |
EU, aus den USA oder von der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Der | |
tatsächliche Grund für den Haftbefehl gegen mich liegt woanders. Es geht um | |
die Veröffentlichung meines neuen Romans, den ich gerade in Spanien, in | |
Madrid, präsentiert habe. Die nicaraguanischen Behörden haben die Lieferung | |
des spanischen Verlags am Zoll blockieren lassen. | |
Ist dies die erste Bücherzensur seit Sturz der Somoza-Diktatur und | |
sandinistischer Revolution? | |
Diktator Somoza hat nie ein Buch verboten, soweit ich mich erinnern kann. | |
Als ich vor der Revolution Herausgeber eines Verlags in Costa Rica war, | |
haben wir einmal die Biografie des nicaraguanischen Befreiungshelden | |
Sandino von Neill MacAulay, „The Sandino Affair“, übersetzen, drucken und | |
nach Nicaragua schicken lassen. Die Bücher lagen zwei Wochen am Zoll, bis | |
Somoza das Embargo aufheben hat lassen. Eine systematische Bücherzensur gab | |
es nicht. | |
Besonders effektiv ist die Zensurversuch jetzt wohl auch nicht. Ich habe | |
Ihr Buch in einer digitalen Version gelesen. | |
Ja, das Buch zirkuliert über die sozialen Medien. Streng genommen ist es | |
ein Akt der Produktpiraterie, gegen die ein Verlag machtlos ist. Ich sehe | |
dies aber als eine Form des Widerstands gegen die Diktatur. Durch die | |
Zensur hat sich die Nachfrage erhöht. In Nicaragua kann man das Buch jetzt | |
am Handy lesen und in Spanien wird bereits die zweite Auflage gedruckt. | |
Dieser Roman, „Tongolele no sabía bailar“, handelt vom Volksaufstand gegen | |
Ortega im Jahr 2018. Gut nachvollziehbar, dass er Daniel Ortega nicht | |
gefällt. | |
Er wird das Buch wohl kaum gelesen haben. Irgendein Bürokrat wird ihm | |
gesagt haben, worum es darin geht und daraufhin wurde die Einfuhr verboten. | |
Lustigerweise haben sie vom Verlag am Zoll eine Zusammenfassung des Inhalts | |
verlangt, was schon ziemlich absurd ist. Jetzt behaupten sie, es würden | |
irgendwelche Unterschriften oder Stempel fehlen. | |
Ich habe in dem Roman viele Szenen gefunden, die sich während der Rebellion | |
ziemlich genau so zutrugen. Zum Teil habe ich das ja vor Ort als Journalist | |
beobachtet. Wie nahe ist Ihre Erzählung am faktischen Geschehen? | |
Ursprünglich wollte ich ein Reportagebuch schreiben und habe dafür Material | |
gesammelt. [1][Doch ein Roman schien mir geeigneter], um die jüngste | |
blutige Geschichte zu verarbeiten. Was in Nicaragua geschieht, erzähle ich | |
anhand von fiktiven Personen aus der zweiten Reihe, von Polizei und | |
Geheimdiensten. Vieles hat sich wirklich so abgespielt. Etwa die Attacke | |
auf die Kirche zur Barmherzigkeit oder die Brandstiftung in der | |
Matratzenfabrik. Die Ereignisse sind durch Amateurvideos dokumentiert. | |
Genauso, dass Scharfschützen mit ihren Dragunow-Gewehren unbewaffneten | |
Demonstranten in Hals und Kopf schießen. | |
Stellenweise klingt es grob überzeichnet. | |
Je unglaublicher die Ereignisse umso authentischer sind sie, leider. Die | |
Wirklichkeit übertrifft die Fantasie. Wie eine Familie mit ihren kleinen | |
Kindern in den Flammen umkommt, wurde auf Video festgehalten. Über den | |
Angriff auf die Kirche legten Dutzende Überlebende Zeugnis ab. | |
Was mich überrascht hat, war, wie Sie die Rolle von Edén Pastora schildern. | |
Der frühere sandinistische Revolutionsheld und spätere Contra-Führer genoss | |
bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr wieder die Gunst von Daniel Ortega. | |
Er hat die blutige Niederschlagung des Aufstands verteidigt. Ich wusste | |
aber nicht, dass er so direkt beteiligt war, wie in „Tongolele“ | |
geschildert. | |
Ich nenne ihn nicht Pastora. Aber Silverio Pérez, alias Leónidas, ist nach | |
seinem Vorbild gestaltet. Für den normalen Leser ist es einfach eine | |
Romanfigur. „Tongolele“ hat auch nicht existiert, nur Personen, die ihm | |
ähnlich sind. Pastora hat aber tatsächlich die paramilitärischen Trupps | |
organisiert. | |
Während der Revolution in den 1980er Jahren war Nicaragua eine Art Mekka | |
für Kulturschaffende. Wie muss man sich das kulturelle Leben im heutigen | |
Nicaragua vorstellen? | |
Es gibt praktisch keines. Die Regierung investiert nichts in das | |
Kulturschaffen. Es herrscht die nackte Angst. Die [2][Kultur kann aber nur | |
Hand in Hand mit der Freiheit gehen]. | |
Gibt es diese Freiheit für unabhängige Kulturinitiativen denn nicht? | |
Klar, wenn du eine Ausstellung mit unpolitischen Bildern machst, legt man | |
dir keine Hindernisse in den Weg. Aber [3][wer die Ereignisse vom April | |
2018 künstlerisch aufarbeiten will], bekäme schnell Besuch von der Polizei. | |
Die hat ja auch [4][das Redaktionsgebäude der einzigen gedruckten Zeitung | |
La Prensa besetzt]. | |
Kann sich so etwas wie der April 2018 wiederholen? Drei Monate lang war das | |
halbe Land im Aufstand gegen das Regime gewesen. | |
Eine dicke Decke der Angst liegt über dem Land. Viele der Beteiligten von | |
damals sitzen im Gefängnis, Tausende sind ins Exil geflüchtet. Allein seit | |
vergangenem Juni haben 40.000 Menschen in Costa Rica Zuflucht gesucht. Aber | |
eine Diktatur kann sich nicht ewig durch Repression an der Macht halten. | |
Irgendwann explodiert die Sache wieder und die Leute sind auf der Straße. | |
Die zuletzt gefangenen Oppositionellen sind in U-Haft. Können sie hoffen, | |
nach den „Wahlen“ am 7. November freizukommen? | |
Ich denke, ein paar weniger wichtige Personen werden freigelassen und die | |
bedeutenderen werden einbehalten. [5][Nicaragua steuert auf das System der | |
Einheitspartei zu.] Nicht so wie in Kuba, sondern wie in der DDR, als es | |
Systemparteien gab, die zugelassen waren. Oder ähnlich wie in Putins | |
Russland. | |
Rechnen Sie mit einem langen Exil? | |
Ich wäre gerne im Januar wieder zu Hause. Aber für sehr wahrscheinlich | |
halte ich das nicht. | |
12 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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