# taz.de -- Künstlerin über die Proteste in Nicaragua: „Alle fühlen den gl… | |
> Patricia Belli zeigt ihre Installationen auf der Berlin Biennale. Die | |
> Proteste gegen das Ortega-Regime zuhause in Nicaragua spiegeln sich auch | |
> darin. | |
Bild: Patricia Belli will Hoffnung haben – trotz allem | |
Patricia Belli ist aus Managua angereist. Sie gehört zu den 47 | |
Künstler*innen, deren Arbeiten auf der diesjährigen Berlin Biennale | |
präsentiert werden. Zum Gespräch treffen wir uns vor der am Rande des | |
Tiergartens gelegenen Akademie der Künste in Berlin. Beschienen von der | |
Morgensonne, erscheinen dort die ersten Ausstellungsbesucher. Währenddessen | |
spitzen sich 9.500 Kilometer Luftlinie entfernt im mittelamerikanischen | |
Nicaragua die Konflikte weiter zu. Seit Wochen protestiert eine breite | |
Bewegung gegen das autokratische Regime Daniel Ortegas. Bei den | |
Auseinandersetzungen der letzten zwei Monate kamen bis Mitte Juni über 150 | |
Menschen ums Leben. Auf der 10. Biennale in Berlin zeigt Patricia Belli | |
derzeit neben drei älteren Arbeiten eine Toninstallation, die sie | |
kurzfristig fertiggestellt hat. Für diese hat sie mehrere modellierte Köpfe | |
auf dem Boden verteilt. Bewegt man sie mit der Fußspitze, beginnen sie zu | |
„sprechen“. In „Desequilibradas“ mischt Belli Geräusche eines Sturms m… | |
Fragmenten einer hasserfüllten Rede der Vizepräsidentin Murillo sowie den | |
Namen der seit dem 18. April in Nicaragua Getöteten. | |
taz am wochenende: Patricia Belli, wie ist die Auswahl der vier Kunstwerke | |
für die Berlin Biennale zustande gekommen? | |
Patricia Belli: Die verschiedenen Arbeiten zusammenzubringen war eine | |
kuratorische Entscheidung von Gabi Ngcobo. Die schon Ende der 1990er Jahre | |
entstandenen Textilarbeiten wurden eigentlich erst 2017 durch „Equilibrio y | |
colapso“ (dt.: Gleichgewicht und Kollaps) bekannt. Die Retrospektive war in | |
Costa Rica, Guatemala und Nicaragua zu sehen. Der Kurator Miguel López hat | |
sich sehr um Aufmerksamkeit für meine frühen Werke bemüht. Und die | |
Kuratorin der Biennale war interessiert. Sie wollte auch wissen, was ich | |
heute mache, und ich habe ihr „Desequilibradas“ vorgeschlagen – genau die | |
Köpfe, die man jetzt in der Ausstellung sieht. Aber der Ton war ein | |
anderer. Es gab bereits die Geräusche von Unwettern und Beben, aber auch | |
Ausschnitte aus Interviews, die von emotionalen wie körperlichen | |
Erfahrungen von Ungleichgewicht handelten. Die Arbeit hatte ich für die | |
Biennale vorbereitet, jedoch noch nicht verschickt. Während ich auf die | |
Zollabwicklung für Berlin wartete, begannen die Konflikte in Nicaragua und | |
verschärften sich mit unglaublicher Geschwindigkeit | |
Also verzögerte sich auch der Transport Ihrer Arbeiten nach Berlin? | |
Ja, er verzögerte sich, während die ersten Menschen bei den Protesten | |
starben. Schon sehr bald hatte ich das Gefühl, dass die ursprünglich | |
vorgesehene Arbeit von Dingen sprach, die jetzt keine Bedeutung mehr | |
hatten. | |
Was hatte sich verändert? | |
Ich kann mir vorstellen, dass man aus der Distanz die Ereignisse in | |
Nicaragua mit Empathie beobachtet und versteht. Aber wenn du mittendrin | |
bist, ist diese Realität invasiv. Du schläfst nicht mehr, stehst mitten in | |
der Nacht auf, um zu sehen, was passiert ist. Denn während du schläfst, | |
sterben Menschen. Natürlich kannst du das nicht verhindern, wenn du wach | |
bleibst, aber du bist näher dran an dem, was passiert. Die Trauer, die man | |
empfindet, ist nicht individuell. Alle fühlen den gleichen Schmerz – deine | |
Mutter, deine Schwester, dein Sohn. Man schafft es nicht, sich davon zu | |
lösen. Du bist die ganze Zeit in Bewegung, um Medikamente oder Lebensmittel | |
zu besorgen und Informationen zu sortieren. Es zirkulieren unglaublich | |
viele Falschmeldungen. | |
Was sind denn die Kanäle, über die man derzeit in Nicaragua Informationen | |
erhält? | |
Den offiziellen Medien kann man sehr wenig Glauben schenken. Es gibt aber | |
noch einige Publikationen, die auf der Seite des Widerstands sind. Einige | |
Quellen sind zuverlässig, andere weniger. Aber immer gibt es eine | |
politische Agenda dahinter. Die Informationen zirkulieren vor allem über | |
die sozialen Netzwerke – Neuigkeiten, die entweder von deiner Nachbarin, | |
von Verwandten oder irgendwoher stammen. Es können auch Bilder aus einem | |
anderen Land oder Aufnahmen aus einem Studio sein, um Chaos zu stiften. | |
Immer muss man die Informationen auf ihre Zuverlässigkeit überprüfen. Das | |
ist zur Zeit vielleicht das Schwierigste: zu entscheiden, was ist wahr, was | |
ist wichtig und was dringend. | |
Waren Sie von [1][dem Ausmaß der Proteste] überrascht? | |
Ich habe zunächst nicht gedacht, dass sich am System schnell etwas ändern | |
würde. Mein Unglaube war so groß. An einen Rücktritt des Präsidenten habe | |
ich nicht gedacht. Doch dann ging alles sehr schnell. Am fünften Tag gab es | |
eine riesige Demonstration, die größte, die ich jemals in meinem Leben | |
gesehen habe. Auf Plakaten, Transparenten und in Sprechchören forderten die | |
Leute die Regierung auf, zu gehen. Ab da wusste ich, dass sie wirklich | |
gehen müssen. Und seitdem habe ich auch das Vertrauen, dass es passieren | |
wird. | |
War es in dieser Situation schwierig für Sie, Managua zu verlassen, um zur | |
Eröffnung der Biennale nach Berlin zu reisen? | |
Das war schrecklich. Mein Sohn ist 24 Jahre alt und homosexuell, also eine | |
willkommene Zielscheibe. Aber ich vertraue ihm, jetzt vernünftig genug zu | |
sein, sich nicht zu sehr zu exponieren. Was nicht heißen soll, dass andere, | |
die sich in die erste Reihe stellen, unvernünftig wären. | |
Sind es nicht vor allem die Jungen seiner Generation, die den Widerstand | |
gegen die Regierung in Nicaragua anführen? | |
Nicht mehr ausschließlich. Inzwischen haben sich die verschiedensten Leute | |
zusammengeschlossen – die Landarbeiter mit den Studenten und einem Teil der | |
privaten Unternehmer. Haben Sie die Bilder von der Demonstration am 30. | |
Mai, dem Marsch der Mütter, gesehen? Das war grandios. Diese Empörung hat | |
eine kollektive Kraft, und man fühlt auch die Macht, die sie hat. | |
In welchem Moment hat auch die ältere Generation ihre Verbundenheit mit dem | |
Erbe der sandinistischen Revolution aufgekündigt? | |
Mit den ersten Toten. Tote hat es die ganzen Jahre über schon gegeben, aber | |
unter der Landbevölkerung, also weit weg. Doch plötzlich gibt es Tote „in | |
deinem eigenen Haus“. Mit den Protesten begonnen haben die Studenten. In | |
Nicaragua fängt man schon mit 16, 17 Jahren an zu studieren und beendet die | |
Universität sehr jung – vier, fünf Jahre später. Die Revolution ist für d… | |
Jugendlichen Geschichte. Viele Freiheiten, obwohl es keine absolute | |
Meinungsfreiheit gibt, sind für sie selbstverständlich. Den Bruch mit der | |
Revolution, der mir schwerfällt, diese Loyalität kennen sie nicht. | |
In welchem Kontext entstanden 1996 und 1997 die textilen Arbeiten „Bodas de | |
trapo“ (dt.: Lumpenhochzeiten) und „Nidos de lágrimas“ (dt.: Tränennest… | |
die nun ebenfalls auf der Berlin Biennale zu sehen sind? | |
Damals begann Nicaragua, Altkleider in Ballen aus den USA zu importieren, | |
die extrem erschwinglich waren. Für mich bot das Material sehr vielfältige | |
Möglichkeiten mit Referenzen an den Körper und die Haut. Damals | |
beschäftigte ich mich mit Wunden und Narben. Die Kleidung konnte man | |
zerstören und wieder zusammennähen. Außerdem besaß jedes dieser Teile, | |
durch die Person, die es getragen hatte, schon eine Geschichte. Aber es | |
gibt auch Assoziationen auf einer ökonomischen Ebene. Was bedeutet es, wenn | |
ein Land sich in den abgelegten Sachen eines anderen kleidet? „Nidos de | |
lágrimas“, eine der letzten textilen Arbeiten, die ich gemacht habe, und | |
eine sehr narrative, entstand nach einer Fehlgeburt, die ich hatte. Ich | |
finde, diese Arbeit bekommt nun eine zusätzliche Lesart, dass aus der | |
Trauer und dem Schmerz etwas Neues entstehen wird. Nun, ich will Hoffnung | |
haben. | |
24 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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