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# taz.de -- Opposition in Nicaragua: Die Kinder fressen die Revolution
> María Berríos kämpfte einst für die Sandinisten. Das ist lange her. Heute
> heuern die Machthaber Schlägerbanden an, um Proteste blutig zu ersticken.
Bild: Gegen das System Ortega: Demonstrant in Managua
Managua/Masaya taz | María Berríos steht vor den verkohlten Trümmern ihrer
Existenz. Die zierliche 52-Jährige, die ihre langen dunklen Haare zu einem
Rossschweif zusammengebunden hat, betrieb auf dem Kunsthandwerksmarkt von
Masaya ein Restaurant. Es war eines dieser landestypischen
palmstrohgedeckten „Ranchos“, dessen Seiten offen sind, damit der Wind
natürliche Kühlung verschaffen kann. Hier wurde viel Bier und reichlich Rum
getrunken und man bekam alle Kombinationen von Fleisch, Bohnen und Reis
serviert. Fast zwanzig Jahre lang hat María Berríos hier Zeit und Geld
investiert, um sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Jetzt ist alles
verbrannt. Zahlt die Versicherung? Berríos antwortet mit einem
sarkastischen Lachen. „Hier ist niemand versichert. Selbst wenn, würde die
Versicherung nicht zahlen, denn das gilt als Vandalismus.“
Über das, was am 12. Mai auf dem Markt von Masaya geschehen ist, gibt es
keine offizielle Darstellung. Es war ein Samstag, die Regenzeit hatte noch
nicht eingesetzt und in den Straßen der rund 150.000 Einwohner zählenden
Stadt, keine 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Managua, begannen Menschen
protestierend durch die Straßen zu ziehen. „Ortega raus!“, skandierten sie,
und „Ortega, du Mörder!“ An einzelnen Straßenkreuzungen wurde das Pflaster
aufgerissen. Die achteckigen Pflastersteine eignen sich hervorragend für
die Errichtung von Barrikaden. Im Jahr 1978, vor vierzig Jahren, hatte eine
Volkserhebung in Masaya einen monatelangen Befreiungskampf ausgelöst, der
am 19. Juli 1979 in den Sturz der Diktatur der Familie Somoza gipfelte.
Daniel Ortega, einer der Comandantes der Sandinistischen Befreiungsbewegung
(FSLN) saß danach einer revolutionären Junta vor. Im Jahr 1985 wurde der
Mann mit dem Schnurrbart zum Präsidenten.
Heute befindet sich der inzwischen 72-jährige Revolutionsveteran auf der
anderen Seite der Barrikade. Seine letzte Wiederwahl ist zwölf Jahre her.
Durch Verfassungstricks und Wahlbetrug hat sich Ortega eine ununterbrochene
Verlängerung seines Mandats verschafft. Er denkt nicht daran, dieses einmal
abzugeben. Mit einer Mischung aus antiimperialistischer Rhetorik
vergangener Jahrzehnte und neoliberaler Wirtschaftspolitik sichert er sich
die Rückendeckung einer Koalition aus Revolutionsnostalgikern und
Unternehmerschaft. Auch die mächtige katholische Kirche und die
erstarkenden evangelikalen Freikirchen sahen ihn lange Zeit als Garanten
für eine konservativ-christliche Politik, die in einem absoluten
Abtreibungsverbot gipfelte. Nicaragua galt in der von Gewalt geschüttelten
zentralamerikanischen Region als Oase des sozialen Friedens und wachsenden
Wohlstands auf bescheidenem Niveau. Bis vor gut einem Monat.
Mitte April entzündete sich die Protestwelle an einer geplanten Erhöhung
der Sozialversicherungsbeiträge. Vor allem die Rentner sollten zur Kasse
gebeten werden, um das heruntergewirtschaftete Sozialversicherungsinstitut
zu sanieren, von ihren mageren Einkünften sollten sie fünf Prozent abgeben.
Erste Proteste wurden mit ungewöhnlicher Brutalität niedergeschlagen,
friedlich demonstrierende Rentner verprügelt. Aber die bewährte Kombination
aus hochgerüsteten Polizeieinheiten und paramilitärischen Prügeltrupps
verfehlte dieses Mal ihre Wirkung. Erste Todesopfer lösten nicht nur
Furcht, sondern vor allem Empörung aus. Seitdem hat sich ein Dutzend Städte
erhoben, und obwohl auch in Matagalpa, Sébaco, Estelí, León und Bluefields
Blut geflossen ist, wollen diese Proteste nicht länger verstummen.
## Straßensperren machen in Managua Umwege nötig
Wer in diesen Tagen in den Straßen von Managua unterwegs ist, muss die
doppelte oder gar dreifache Wegzeit einkalkulieren. Wichtige
Durchgangsstraßen sind mit Barrikaden gesperrt. Vermummte Jugendliche
sitzen dahinter und halten die Stellung. Auf den Schleichwegen staut sich
der Verkehr, oft führt er über Wege, wo das Straßenpflaster für den
Barrikadenbau herausgerissen und nur notdürftig wieder eingesetzt worden
ist. Die staatliche Universität UNAN und die Polytechnische Universität
UPOLI sind verbarrikadiert. Selbst Ortskundige verfahren sich, wenn sie
durch die Umwege in unbekannte Stadtviertel geschleust werden. Bei jeder
Verabredung ist eine Verspätung einkalkuliert.
Henry Ruiz blickt nicht tadelnd auf die Uhr, als er das Eisengitter seines
Wohnhauses in Managua öffnet, um den verspäteten Gast in sein Haus zu
lassen. Ruiz, die schütteren Haare ergraut, aber sonst seit der letzten
Begegnung vor fünf Jahren nur unmerklich gealtert, setzt sich in einen
Schaukelstuhl in seinem weiträumigen Vorzimmer. Einziger Schmuck ist ein
Marmormosaik des 1934 ermordeten Befreiungshelden Augusto C. Sandino. Es
ist das Werk eines sowjetischen Künstlers, das ihm einst der
nicaraguanische Botschafter in Moskau geschenkt hat. Ruiz hat vor einem
halben Jahrhundert an der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau Wirtschaft
studiert. Sandino, der mit einem zähen Partisanenkampf die Okkupationsmacht
der USA aus dem Land vertrieb, war das Vorbild der sandinistischen
Guerilla, die drei Jahrzehnte später die rot-schwarze Fahne des Patrioten
aufnahm und gegen Diktator Anastasio Somoza ins Feld zog.
Als Comandante Modesto – „der Bescheidene“ – zählte Henry Ruiz zu den
Hardlinern. Er war einer der wenigen mit einer soliden marxistischen
Bildung, hielt wenig von Wahlen und bürgerlicher Demokratie und saß mit
Daniel Ortega lange Jahre im neunköpfigen Nationaldirektorium, dem
Zentralkomitee der FSLN.
Als Planungsminister hatte er wenig zu planen, sagt er heute, weil ständig
improvisiert werden musste und Daniel Ortega die Pläne wieder über den
Haufen warf. Als Minister für internationale Kooperation kümmerte er sich
dann um die Beziehungen zu Ländern, die bereit waren, Revolution und
Wiederaufbau in Nicaragua zu unterstützen. Doch seit mehr als zwanzig
Jahren hat er mit der Regierungspartei FSLN gebrochen.
## Der einstige Revolutionär unterstützt den Protest
Mittellos aber moralisch ungebrochen betätigt sich der bald 75-Jährige als
aktiver Beobachter der Politik. Zwar sei auch er von der Protestwelle
überrascht worden, so sagt er, doch er habe schon lange kommen sehen, dass
sich da etwas zusammenbraut. „Die Bauern begannen schon vor fünf Jahren zu
rebellieren“, erinnert er sich. Damals wandten diese sich gegen ein Gesetz,
das Enteignung für den Zweck eines Kanalbaus erlaubte. Der interozeanische
Kanal sollte so breit werden, dass auch die Frachter, für die der
erweiterte Panamakanal zu schmal ist, vom Atlantik in den Pazifik
geschleust werden könnten. Die Souveränität über den für den Bau
vorgesehenen Landstreifen überschrieb die Regierung für 50 Jahre an einen
chinesischen Investor, von dem nichts mehr zu hören ist, seit er bei einem
chinesischen Börsenkrach den Großteil seines Kapitals verloren haben soll.
Aber während Nicaragua im Falle der Nichterfüllung seiner Verpflichtungen
Strafzahlungen leisten muss, hat der Staat keinerlei Anspruch auf
Entschädigung, wenn die Gegenseite nicht liefert. Der Kanal wird nie gebaut
werden.
Trotzdem leben die Landeigentümer mit der ständigen Bedrohung, dass ihre
Lebensgrundlage in staatlichem Interesse enteignet wird – zu Preisen, die
der Käufer diktieren kann. „Das sind keine ungebildeten Landarbeiter, die
früher die Basis der Sandinisten waren“, sagt Ruiz. Die treibende Kraft der
jetzigen Proteste seien aber die Studenten, junge Frauen und Männer, die
die Revolution nicht oder nicht bewusst miterlebt haben.
Die Obrigkeit reagiert auf diese friedlichen Proteste, wie schon in den
Wochen zuvor: mit brutaler Gewalt. In Masaya, dort wo María Berríos ihr
Restaurant verloren hat, marschierte die Aufstandsbekämpfungspolizei auf.
Ein junger Mann wurde durch einen Kopfschuss getötet. Später sollte ein
zweiter Demonstrant an einer Schusswunde verbluten. Im Krankenhaus, so weiß
Berríos aus sicherer Quelle zu berichten, seien die Ärzte angewiesen
worden, Verletzten die Versorgung zu verweigern. In den sozialen Medien
zirkuliert die Botschaft eines Arztes, der versichert, er sei gezwungen
worden, ein Papier zu unterschreiben, in dem behauptet wird, wenn jemand
nicht versorgt worden sei, so liege das ausschließlich an den
Demonstranten. Wenige Tage später wurden in León, der zweitgrößten Stadt
des Landes, Medizinstudentinnen und -studenten, die sich um Verletzte
kümmern wollten, von Polizisten eine Nacht lang im Parteilokal der FSLN
festgehalten. Erst ein Pfarrer konnte ihre Freilassung erwirken.
## Die Feuerwehr durfte in Masaya nicht löschen
In Masaya verschanzte sich die Polizei im Kunsthandwerksmarkt, so als ob
die allenfalls mit Steinen bewaffneten Demonstranten eine feindliche Armee
wären. Der Markt liegt zwei Häuserblocks vom Hauptplatz entfernt.
Gleichzeitig marschierten schwarz vermummte Männer auf, um auf die
Demonstrierenden mit Eisenstangen einzudreschen. Und plötzlich stand ein
Teil des Marktes in Flammen. „Es hatte lange nicht geregnet“, sagt María
Berríos, „das Strohdach brannte wie Zunder.“ Die Feuerwehr wurde von den
Polizisten zunächst ebenso wenig hineingelassen wie besorgte Standbesitzer
oder Reporter.
Alejandro Cruz studiert Kommunikationswissenschaften in Managua. Er hängte
sich seinen Presseausweis um und begehrte Einlass. „Sie ließen mich nicht
rein“, sagt er. Dann habe er es an einem anderen Eingang probiert. Er
betreibe einen Stand am Markt und wolle nach dem Rechten sehen, behauptete
er. Tatsächlich besaß seine Schwester Scarlett dort eine kleine
Verkaufsbude, wo sie T-Shirts, Keramik und Holzarbeiten feilbot.
„Mindestens 5.000 Dollar an Waren: alles verbrannt“, sagt die junge Frau.
„Schon seltsam“, meint María Berríos, dass das Nachbarrestaurant, wo der
Bürgermeister oft seine Veranstaltungen abgehalten hat, vom Feuer verschont
blieb. Alejandro Cruz aber, der mit eigenen Augen gesehen hat, wie die
Polizei die Feuerwehr bei ihrer Arbeit behinderte, wurde festgehalten und
von einem Polizisten angeschossen.
Vizebürgermeisterin Janine Noguera kommt für ein Treffen mit den
Geschädigten in einen intakten Versammlungssaal auf dem Marktgelände. Sie
hört sich die Beschwerden an und wiegelt dann ab. Man werde untersuchen,
wer verantwortlich sei. Die Stadtverwaltung werde sich dafür stark machen,
dass die Betroffenen Kredite für den Wiederaufbau bekämen. Aber vonseiten
des Rathauses sei keine Hilfe zu erwarten. Man sei in den roten Zahlen.
„Kein Wunder“, sagt die geschädigte María Berríos, „wenn sie ihr Budget
dafür ausgegeben haben, Schlägertrupps zu bewaffnen.“ Ein ehemaliges
Mitglied der Sandinistischen Jugend hat in der Zeitung berichtet, dass er
und weitere Kollegen von der Regierung pro Tag 500 Córdoba (rund 20 Euro)
bekommen hätten, um Demonstranten zu verprügeln. Jetzt sei er ausgetreten
und habe sich der Protestbewegung angeschlossen.
Die Restaurantbesitzerin María Berríos hatte sich als Jugendliche am
Volksaufstand gegen Somoza beteiligt und wurde schließlich zum Studium nach
Moskau geschickt. Doch sie fand danach, die Konservativen hatten in Managua
damals das Ruder übernommen, keine Arbeit. Berríos jobbte eine Zeit lang in
einer Pizzeria, bevor sie mit ihrem Mann in das Restaurant investierte. Von
Politik hielt sie sich lange Zeit fern.
Ihre Tochter Gaby, eine burschikos wirkende 18-Jährige mit kurzen Haaren,
ist hingegen voll in der jugendlichen Bewegung aufgegangen. Sie fingert
kurz an ihrem Handy herum und zehn Minuten später kommt ein junger Mann auf
dem Moped vorbei. Er vermittelt den Kontakt zu einem der Anführer der
Bewegung 19. April, benannt nach den Todesopfern der ersten Proteste.
## Vaterlandsliebe und Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Yubrank Suázo ist 27 Jahre alt. Die sandinistische Revolution kennt er nur
aus Erzählungen. Als Treffpunkt wählt er eine Barrikade am Eingang zum
indianischen Stadtteil Monimbó, dort wo 1978 der Aufstand gegen Somoza
begonnen hatte. Monimbó ist auch jetzt wieder eine Art befreites
Territorium. Die Polizei kommt hier nicht durch. Auf dem Platz vor dem
Salesianerkolleg herrscht Volksfeststimmung. Frauen verkaufen gegrilltes
Fleisch und Süßigkeiten, daneben liegen blau-weiß-blaue Fahnen und T-Shirts
mit den neuen Slogans der Protestbewegung. Aus einem Lautsprecher dröhnen
Revolutionslieder: jene der 1980er Jahre und neue, die gerade erst
komponiert wurden.
Es klingt ein wenig pathetisch, wenn Yubrank Suázo vom Patriotismus als der
wichtigsten Waffe der Bewegung spricht, von Vaterlandsliebe und der
Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber Henry Ruiz, der alte Marxist, ist
begeistert von dieser Bewegung, die keine traditionell linken Forderungen
erhebt: „Es geht um Demokratie und Gerechtigkeit.“ Forderungen mit großer
Sprengkraft in Daniel Ortegas Nicaragua.
28 May 2018
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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