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# taz.de -- Sergio Ramírez über die Krise Nicaraguas: „Der Aufstand hat all…
> Der Autor und Ex-Vizepräsident Sergio Ramírez hält die neue
> Jugendbewegung gegen Präsident Ortega nicht für links. Aber auch er
> fordert: Die Regierung muss weg.
Bild: Nicaraguas Nationalfahne ist das Symbol des Protests
taz: Herr Ramírez, nach vier Runden ist der Dialog zwischen der Regierung
von Präsident Daniel Ortega und der Zivilgesellschaft zunächst einmal
abgebrochen. Woran liegt es?
Sergio Ramírez: Das ist kein Dialog, wo sich die Positionen annähern. Den
Bischöfen als Vermittlern ist es nicht gelungen, beide Seiten auf eine
gemeinsame Tagesordnung einzuschwören. Denn im Grunde geht es darum, Daniel
Ortega zu einer Demokratisierung zu verpflichten, die nicht nur vorgezogene
Wahlen sondern eine Veränderung der Spielregeln mit sich bringen würde.
Bisher leugnet die Regierung ja, dass es ein Problem mit der Demokratie
gibt.
Richtig. Am Tisch sitzen nicht zwei Parteien sondern zwei Welten. Die eine
ist total verschlossen und will nicht akzeptieren, dass es einen
tiefgreifenden Konflikt gibt. Aber das Kräfteverhältnis hat sich verändert.
Die große Mehrheit will Ortega loswerden.
Noch vor zwei Monaten hätte es niemand für möglich gehalten, dass es in
Nicaragua einen Aufstand gibt.
Bevor der Arabische Frühling ausbrach gab es auch keine Anzeichen in
Tunesien oder Ägypten. Hier gab es einen künstlichen Frieden, eine Art Pax
Romana. Kein Analytiker hatte erkannt, dass sich aus den aufgestauten
Frustrationen aus zehn Jahren etwas zusammenbraute. Der Ausbruch hat alle
überrascht. Es war die Jugend, die dafür sorgte. Und alle anderen folgen.
Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Mich hat überrascht, was ein Institut für digitale Information geschrieben
hat, nämlich dass in Nicaragua vier Millionen Smartphones existieren. Bei
einer Bevölkerung von sechs Millionen. Fast jeder Erwachsene und die
Jugendlichen haben ein Handy und 80 Prozent davon sind smart. Die Regierung
hat in Parks und an vielen öffentlichen Plätzen Hotspots eingerichtet, um
die Jugend zu gewinnen. Das war für die Rebellion von entscheidender
Bedeutung. Erstmals kann hier jedermann Journalist spielen. Hausangestellte
oder Taxifahrer haben mitgefilmt, wie die Polizei brutal gegen
Demonstranten vorgegangen ist.
Die Protestbewegung ist auf der Straße sehr sichtbar. Aber gibt es wirklich
eine Mehrheit gegen Ortega?
Die jüngste Umfrage von CID-Gallup, die Anfang Mai erhoben wurde, zeigt
eine Wende der öffentlichen Meinung oder macht vielleicht nur sichtbar, was
schon vorhanden war. Früher haben sich die Leute als unpolitisch deklariert
und angegeben, dass nicht einmal in der Familie über Politik diskutiert
wird. Jetzt haben sie keine Angst mehr. Sie zeigen ihr Gesicht und nennen
ihren Namen, wenn sie sagen: Diese Regierung muss weg. Früher war es so,
wenn fünf Personen mit einem Schild irgendwo protestiert haben, kamen
Schläger auf einem Motorrad und haben sie mit Prügeln und Ketten
auseinandergetrieben.
Die Barrikaden in den Straßen und die Slogans erinnern an den Volksaufstand
gegen den Diktator Somoza.
Das ist die Kultur des Widerstandes. Es werden die Revolutionslieder
gesungen. Selbst Lieder aus der Zeit der Unidad Popular von Salvador
Allende im Chile der 70er Jahre, Lieder die ich seit Ewigkeiten nicht mehr
gehört habe. Aber die Bewegung ist nicht links. Es geht um Freiheit und
Demokratie. Niemand hat gefordert, dass die Kapitalisten enteignet werden
oder die Bauern Land bekommen. Diese Generation kennt die Geschichte nicht.
Man hat ihnen beigebracht, zu vergessen. In Niquinohomo, wo der
Befreiungsheld Augusto César Sandino geboren wurde, haben sie einer Statue
von Sandino das rot-schwarze Halstuch abgenommen und durch ein Halstuch in
den Nationalfarben blau-weiß ersetzt. Die Fahne der Sandinistischen
Revolution wird als Symbol der Ortegas gesehen und ist zum Hassobjekt
geworden.
Ortega sieht hinter den Demonstranten eine lenkende Hand aus den USA. Ohne
Zweifel gibt es eine gewisse Übereinstimmung der Interessen. Oder nicht?
Ich bin mir da nicht so sicher. Trump hat wahrscheinlich keine Ahnung, was
in Nicaragua los ist. Vizepräsident Mike Pence hat nur einmal von Ortega
gesprochen. Aber die Agenda der USA ist nicht mehr dieselbe wie vor 30
Jahren. Es geht nicht mehr um den Einfluss von Kuba auf die Region, sondern
um Drogenhandel, Verhinderung von Migration und Terrorismus. In allen drei
Punkten hat Ortega brav kooperiert. Die nicaraguanischen Sicherheitskräfte
sind mit denen in den USA vernetzt. Migranten werden nicht durchgelassen.
Letztes Jahr wurde eine Lehrerin in Rivas, die einer Frau aus Nigeria
geholfen hat, wegen Schlepperei zu acht Jahren verurteilt. Also ich
zweifle, dass der „Imperialismus“ Ortega loswerden will.
Sollten die Proteste erfolgreich sein und mit dem Rücktritt von Ortega und
seiner Frau enden, wer könnte das Machtvakuum füllen?
Das ist eine gewagte Hypothese. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ortega
sagt: Ich wollte diesem Land dienen, leider ist vieles schiefgegangen, zum
Wohl des Landes gehe ich. Er hat keine Alternative zum Leben an der Macht.
Er hat viel Geld angehäuft, aber ihm geht es nicht um Reichtum, den er
irgendwo im Exil genießen will. Das Geld ist nur ein Instrument der Macht.
Er trägt seinen Reichtum nicht in Form von teuren Uhren zur Schau. Seine
Söhne schon. Aber Daniel ist ängstlich. Wenn er sein festungsartiges Haus
verlässt, lässt er sich von 400 Sicherheitsleuten begleiten. Ich glaube, es
gibt keinen anderen Staatschef, der eine vergleichbare Eskorte hat. Er kann
sich nicht vorstellen, in Kuba oder Russland im Exil zu leben. Aber eine
Lösung muss es geben. Vielleicht, wenn aus dem Ausland genügend Druck
aufgebaut wird.
Inwieweit ist die politische Krise in Nicaragua eine Folge der
Wirtschaftskrise in Venezuela?
Ortega ist durch den Wegfall der venezolanischen Öllieferungen das Geld
ausgegangen. Aus Venezuela gab es viele Geldflüsse, mit denen am
staatlichen Budget vorbei zahlreiche populistische Wohltaten finanziert
wurden: Subvention des Stromtarifs und der Treibstoffpreise,
Unterstützungen für Schulkinder, etc. Das musste letztes Jahr alles vom
Staatshaushalt geschultert werden, ca. 400 Millionen Dollar. Die Konsequenz
ist, dass jetzt in der Gesundheit und in den Schulen gespart wird. Und das
Sozialversicherungsinstitut, das sich mit größenwahnsinnigen Bauprojekten
verspekuliert hat, steht vor dem Kollaps. Deswegen hat der
Weltwährungsfonds eine Anzahl von Reformen empfohlen, von denen Ortega die
dümmsten ausgewählt hat. So begann der Aufstand.
25 May 2018
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Nicaragua
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