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# taz.de -- Politische Krise in Nicaragua: Regierung zunehmend isoliert
> Demonstranten und Polizisten liefern sich Straßenschlachten. Unternehmer
> und Militär rücken von Regierungschef Daniel Ortega ab.
Bild: Demonstranten in Monimbo haben sich verbarrikadiert
Wien taz | Monimbó, der indianische Bezirk der nicaraguanischen Stadt
Masaya, stand am Samstag in Flammen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn im
Kunsthandwerksmarkt brannte es und vor dem Haus der Vizebürgermeisterin
wurden deren Möbel abgefackelt. Auf den Straßen tobten Schlachten zwischen
Demonstranten einerseits und der Polizei, sekundiert durch Schlägertrupps,
andererseits.
Auch die Brandstifter werden in den Reihen der Provokateure vermutet, die
mit Eisenstangen und teils sogar scharfen Waffen auf die Protestierenden
losgehen. Mindestens ein Demonstrant wurde von einem Scharfschützen durch
Kopfschuss getötet.
Was sich derzeit in den Straßen von Nicaragua abspielt, erinnert an den
Volksaufstand von 1978/79, der zum Sturz des Diktatoren-Clans der Somoza
und zur sandinistischen Revolution führte. Barrikaden aus Pflastersteinen,
brennende Reifen, Heckenschützen, die offenbar wahllos auf Demonstranten
schießen. Ein Generalstreik legte am Freitag weite Teile des Landes lahm.
Dazu kommen über die sozialen Medien verbreitete Videos und Gerüchte, die
den Eindruck verstärken, dass das Regime von Daniel Ortega in den letzten
Zügen liegt.
So wurde am Wochenende unter Berufung auf Quellen am Flughafen gemeldet,
Ortega und seine Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo, hätten sich mit
allen Kindern und Enkelkindern nach Kuba abgesetzt. Bestätigt ist bisher
nur, dass die Enkel aus Sicherheitsgründen ins benachbarte Costa Rica
evakuiert wurden. Dass Daniel Ortega sich am Samstag nur via Telefon zu
Wort meldete, nährte Gerüchte, er sei außer Landes.
## Mindestens 50 Tote seit April
Über die gleichgeschalteten Radio- und TV-Stationen rief Ortega die
Bevölkerung auf, „Tod und Zerstörung zu beenden“. In seiner 93 Wörter
langen Botschaft betonte Ortega, „der Friede ist der Weg und die einzige
Tür zum Zusammenleben, für Ruhe und Sicherheit für alle“. Allerdings
kündigte er weder an, die brutalen Polizeieinsätze zu stoppen, noch seine
Schlägertrupps zurückzupfeifen, die die Radikalisierung der Proteste
provoziert hatten.
Seit April sind bei den Auseinandersetzungen mindestens 50 Menschen getötet
und eine unbekannte Anzahl verletzt worden. Demonstranten, die mehrere
Universitäten besetzt halten, haben zu Spenden von Verbandszeug und
Desinfektionsmitteln aufgerufen, da mehrere Krankenhäuser sich weigern,
Verletzte zu versorgen.
Die anfangs friedlichen Proteste, die am 18. April gegen eine Erhöhung der
Sozialversicherungsbeiträge begonnen hatten, sind inzwischen zu einer von
gewaltbereiten Studierenden getragenen [1][Aufstandsbewegung gegen die
Regierung] geworden. Daniel Ortega, der einen mit sozialrevolutionärer
Rhetorik verbrämten autoritären Kurs fährt und die Opposition schrittweise
fast völlig ausgeschaltet hat, sieht sich heute mit denselben Parolen
konfrontiert, mit denen er vor 40 Jahren gegen die Somoza-Diktatur
angetreten war. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hat er durch Tricks
und Verfassungsänderungen zwei Wiederwahlen durchgesetzt und zuletzt seine
Frau als Vizepräsidentin und präsumtive Nachfolgerin installiert.
Öllieferungen zu Vorzugsbedingungen aus Venezuela hatten ihm mehrere Jahre
wirtschaftlicher Prosperität und sozialen Frieden beschert. Damit ist es
jetzt vorbei. Das heruntergewirtschaftete Venezuela hat heute andere
Sorgen. Vor Kurzem kam sogar ein Bruder des 2013 verstorbenen Staatschefs
Hugo Chávez nach Nicaragua, um Schulden einzutreiben.
Dass Ortega die Reform der Sozialversicherung nach ersten blutigen
Protesten wieder zurücknahm, hat die Lage nicht beruhigt. Es geht längst um
das System Ortega an sich. Der Soziologe Óscar René Vargas, einst ein
Wegbegleiter Ortegas, wirft dem Staatschef Realitätsverweigerung vor: „Er
ist blind, weil er nicht sehen will, was passiert, und taub, weil er nicht
hört, was die Menschen sagen“. Statt die Repression zu verurteilen, habe er
eine Untersuchung angekündigt, „obwohl jeder genau weiß, wer schuld ist“,
so Vargas am Wochenende in der oppositionellen Tageszeitung La Prensa.
## Kritik von Kirche und Wirtschaft
Ortega hatte seine Politik an den Bedürfnissen der Privatwirtschaft und der
Kirche ausgerichtet: mit der Verankerung eines Dialogs mit den Unternehmern
in der Verfassung und einem strengen Abtreibungsverbot. Jetzt sieht sich
Ortega zunehmend isoliert: Sowohl der Unternehmerverband Cosep als auch die
Bischofskonferenz sind in einer realistischen Einschätzung der Verhältnisse
von der Regierung abgerückt, verurteilen jetzt mehr oder weniger offen die
Repression und fordern einen echten Dialog. Die Unternehmer gaben sogar am
Freitag all ihren Angestellten frei, die sich an Generalstreik und
Protestmarsch beteiligen wollten.
Auch die Armee will sich nicht für den Machterhalt der Ortegas einspannen
lassen. Armeechef Julio César Avilés hat Ortega wissen lassen, seine
Soldaten würden sich nicht dafür hergeben, Landsleute zu töten. Er solle
den Konflikt schleunigst politisch regeln. Auf Gerüchte, das Internet solle
abgeschaltet werden, weil die sozialen Medien den Funken des Aufstands
verbreiten, reagierten die Angestellten der Telecom-Behörde, sie würden den
Dienst am Bürger garantieren.
Die Protestbewegung, die inzwischen fast alle wichtigen Städte des Landes
ergriffen hat, entbehrt bisher einer echten Führung. Die von den Unis
ausgehenden Gruppen nennen sich autoconvocados, also Selbstorganisierte.
Inzwischen hat sich in Erinnerung an die Massaker mit mehr als zwei Dutzend
Toten vom 19. April eine „Bewegung 19. April“ formiert.
Weil auch die USA den Rücktritt Ortegas fordern, versucht das
Präsidentenpaar die Unruhen als vom Ausland gesteuerte Verschwörung
darzustellen. Der Soziologe Vargas, der in Frankreich studiert hat,
beschreibt die Ursache allerdings als „ras-le-bol“, die Leute hätten
einfach die Schnauze voll.
In den nächsten Tagen wird eine Delegation der Interamerikanischen
Menschenrechtskommission (CIDH) erwartet, die sich ein eigenes Bild von den
Ereignissen der letzten Wochen machen will.
14 May 2018
## LINKS
[1] /Politische-Krise-in-Nicaragua/!5500924
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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