# taz.de -- Fall Schabas Al-Aziz auf Berlin Biennale: Selbstjustiz oder Courage? | |
> Mario Pfeifer beleuchtet in „Again/Noch einmal“ den Fall eines | |
> Geflüchteten in Sachsen. Der Film ist eine Produktion der 10. Berlin | |
> Biennale. | |
Bild: Kühle Optik: Szene aus Mario Pfeifers „Again/Noch einmal“ | |
Mit den Ängsten und Sorgen unserer Zeit will sie sich auseinandersetzen, | |
die diesjährige Berlin Biennale. Einer der ausstellenden Künstler: Mario | |
Pfeifer. Bereits vor zwei Jahren sprach er für eine Einzelausstellung in | |
Leipzig mit neun Bürgern über Angst und Bildung, Enttäuschung und | |
Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen. Ihre Antworten stellte er | |
ungeschnitten aus, der Film lief über neun Stunden. Es war eine Anleitung | |
zum Zuhören. | |
Pfeifer, 1981 in Dresden geboren, lebt in Berlin und New York. Für die | |
Berlin Biennale hat er eine neue Arbeit entwickelt: „Again/Noch einmal“. | |
„Die Personen und Handlungen des Films sind nicht frei erfunden“, steht am | |
Beginn. Pfeifer greift den Fall von Schabas Al-Aziz auf, der vor zwei | |
Jahren bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatte: Beim mehrfachen Versuch, | |
in einem Nettomarkt im sächsischen Arnsdorf eine Telefonkarte umzutauschen, | |
gab es Verständigungsschwierigkeiten. | |
Beim dritten Versuch, am 21. Mai 2016, soll er laut Zeugenaussagen in Rage | |
geraten sein, eine Flasche Wein aus einem Regal genommen und damit die | |
Filialleiterin sowie eine weitere Mitarbeiterin bedroht haben. Ein im | |
Internet kursierendes Video setzt an dieser Stelle ein: Zu sehen ist, wie | |
vier Männer den Iraker umringen und unter Gewalteinwirkung aus dem Markt | |
bugsieren. Die Frau, die die Szene filmt, sagt: „Schon schade, dass man | |
eine Bürgerwehr braucht.“ Danach endet der Clip. Die Männer fesselten | |
Schabas Al-Aziz mit Kabelbindern an einen Baum, riefen die Polizei. | |
## Supermarkt als Kulisse für das Reenactment | |
Pfeifer lässt diese Szenen nachspielen, kommentiert von der in Äthiopien | |
geborenen Schauspielerin Dennenesch Zoudé und ihrem großen blonden Kollegen | |
Mark Waschke, der auch im Venedig-Film von Hito Steyerl mitspielte. Sie | |
mimen zwei anstrengende Moderatoren, die in „Morgenmagazin“-Manier in die | |
Thematik einführen: Selbstjustiz oder Zivilcourage? Zehn Zuschauer sitzen | |
auf Stühlen, vor ihnen der nachgebaute Supermarkt als Kulisse für das | |
Reenactment. | |
Erst spät wird man das Originalvideo aus dem Netz sehen. Bis dahin ist | |
Pfeifers Film von Multiperspektivität geprägt: von den Stimmen der Männer, | |
die wegen Freiheitsberaubung angeklagt wurden, von Fernsehausschnitten, von | |
Hintergrundinformationen. Ein Freund des 1995 im Irak geborenen Schabas | |
Al-Aziz tritt schließlich vor das anwesende Publikum, erzählt, dass Al-Aziz | |
an Epilepsie litt. Im April 2015 machte er sich auf nach Deutschland in der | |
Hoffnung, dass die Ärzte ihm hier helfen können. | |
Mario Pfeifer hat sich informiert in den Medien und im Netz, sich mit | |
Journalisten ausgetauscht. Auch mit taz-Autorin Steffi Unsleber. Sie hatte | |
im vergangenen Juli umfassend über den Fall berichtet, einzelne | |
Textabschnitte sind 1:1 ins Drehbuch geflossen. So erfahren wir, dass | |
Al-Aziz’ epileptische Anfälle in Deutschland zugenommen haben, er teilweise | |
in der Psychiatrie lebt, eine Krankenschwester verletzt. | |
Am 30. Januar 2017, gut acht Monate nach dem Vorfall im Supermarkt, wird er | |
als vermisst gemeldet. Am Ostermontag findet ein Jäger seine verweste | |
Leiche im Wald, 2,3 Kilometer von seiner Flüchtlingsunterkunft entfernt. | |
Die Obduktion ergibt: Tod durch Erfrieren. Am 24. April 2017 wird der | |
Prozess gegen die vier Männer aus dem Supermarkt eingestellt. Die Schuld | |
sei gering, es bestehe kein öffentliches Interesse, sagt der Richter. | |
Pfeifer verdeutlicht durch die Wahl seiner Mittel die Komplexität des Falls | |
und betont zugleich die Selektivität der medialen Berichterstattung wie der | |
eigenen Wahrnehmung. Der Film läuft auf zwei Leinwänden, die im Winkel | |
zueinander stehen – hier trifft die Dualität von gut und böse, von richtig | |
und falsch, von Opfer und Täter, von rechts und links auf den permanenten | |
Perspektivwechsel: Mal zeigt Pfeifer die gleiche Szene aus zwei | |
Einstellungen, mal stehen sich konträre Bilder gegenüber, deren | |
gleichzeitige Wahrnehmung unmöglich ist. | |
„Und: Wie hätten Sie sich verhalten?“, fragt Dennenesch Zoudé in die | |
Kamera. Warum sie sich dabei einen Schaumkuss in den Mund schiebt, bleibt | |
unklar. Andere Bilder funktionieren, gerade weil sie nicht dokumentarisch | |
sein können und wollen: das anonyme Setting in einem leeren Parkhaus. Der | |
Gefesselte an einem Ast, der zum Marterpfahl erklärt wurde. Sein Körper in | |
einer Gefriertruhe vor Supermarkt-Kulisse. | |
Pfeifer arbeitet hoch ästhetisch mit Brechts Verfremdungseffekt, appelliert | |
an eine distanzierte Betrachtung des Falls. Auch indem er ihn auf die Bühne | |
holt und nicht im Netto-Markt des Geschehens dreht. Er nutzt | |
journalistische Mittel und betont durch seine eigene Auswahl zugleich deren | |
Selektivität: So äußern sich die Bürger in den eingespielten originalen | |
Medienbeiträgen tendenziell ablehnend gegenüber Flüchtlingen, stehen auf | |
der Seite der vier Männer. | |
Die zehn Zuschauer in Pfeifers Film bewerten anschließend das Gesehene, | |
beziehen ihre eigene Lebenserfahrung mit ein. Unter ihnen sind ein | |
Russlanddeutscher und drei ehemalige DDR-Bürger, die in die BRD flüchteten. | |
„Das Kriterium war für mich, Menschen zu dem Fall zu befragen, die ihre | |
Heimat einst in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen haben“, | |
erklärt Pfeifer. „Das ist eine Perspektive, die ich nicht habe.“ | |
## „Ich bin erschüttert“ | |
Er hat seine Zuschauer in Vorbereitung zu Hause getroffen, eine Homepage | |
informiert über ihre Geschichten, die im Film nur anklingen. In ihren | |
Aussagen vermischen sich die eigenen Erlebnisse mit dem Gesehenen: „Ich bin | |
erschüttert, noch dazu komme ich aus der Ecke“, sagt eine Frau. „Wäre das | |
mit einem Deutschen auch passiert? Ich weiß es nicht.“ | |
Pfeifer befragt in „Again/Noch einmal“ reale Personen zu seiner subjektiven | |
künstlerischen Rekonstruktion des Falls. Das ist zugleich logische Schwäche | |
wie inhaltliche Stärke des Films, der eben nicht dokumentarisch, sondern | |
letztlich ein Abbild dessen ist, wie individuelle Meinungen zustande | |
kommen: Indem sich medienvermittelte Informationen und Bilder mit eigenen | |
Erfahrungen mischen. | |
17 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Sarah Alberti | |
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