# taz.de -- Arbeitsmigrant über Katar: „Ich werde die WM gucken“ | |
> Als Wachmann auf dem Bau hat der Kenianer Malcolm Bidali die schlimmen | |
> Arbeitsbedingungen in Katar selbst erlebt. Heute kämpft er für | |
> Verbesserungen. | |
Bild: Sie machen einen knüppelharten Job: Arbeiter in Doha, kurz vor dem WM-St… | |
wochentaz: Herr Bidali, was haben Sie am 20. November vor? | |
Malcolm Bidali: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich werde mich | |
wahrscheinlich nicht gut dabei fühlen, wenn ich die WM gucke – aber dass | |
ich nicht gucken würde, wäre eine Lüge. | |
Sie werden also die WM schauen? | |
Ja, letztendlich ist es eine Weltmeisterschaft. Sehen Sie, einerseits ist | |
das eine ausbeuterische Veranstaltung. Menschen wurden ihrer Freiheiten | |
beraubt, es gab Übergriffe, Diskriminierung, Menschen haben ihr Leben | |
verloren, ihre Gliedmaßen verloren. Andererseits hat diese WM Millionen von | |
migrantischen Arbeiter:innen Jobs verschafft. Sie hat geholfen, | |
Schuldgeld zu bezahlen, Arztrechnungen zu bezahlen. Ich kenne Leute, die | |
dank der Gelder aus Katar ein Haus gebaut haben oder ihren Bildungsweg | |
wieder aufnehmen konnten. Es ist nicht schwarz oder weiß. | |
In Deutschland wird die Debatte weniger differenziert geführt. Hier haben | |
[1][viele Menschen angekündigt, dass sie die WM nicht gucken werden]. Ist | |
das naiv? | |
Es wird keinen Unterschied machen. Wir sprechen hier über Katar, eines der | |
reichsten Länder der Welt. Denken Sie, ein paar Boykotts machen für die | |
einen finanziellen Unterschied? Europäische Firmen haben Sitze in Katar. | |
Katar hat auch in mein Heimatland Kenia investiert, leistet | |
Entwicklungshilfe. Als kenianischer Botschafter können Sie Katar nicht | |
kritisieren. [2][Ein Boykott hätte nach der Vergabe 2010 geholfen, als man | |
noch Investments abziehen konnte.] Zum jetzigen Zeitpunkt ist er Unsinn. | |
Sie waren einer von vielen Arbeitsmigrant:innen in Katar. Wann und | |
wieso sind Sie dorthin gegangen? | |
Im Januar 2016 war ich zum ersten Mal da. Es ging mir damals finanziell und | |
mental schlecht. Mein Nachbar hatte in Dubai gearbeitet und hat mir | |
geraten, am Golf mein Glück zu versuchen. Kenia ist hart. Wenn ich nicht | |
für Migrant:innenrechte kämpfen würde, stände ich jetzt in der | |
nächsten Vermittlungsagentur, würde nach Dubai gehen oder in den Oman. | |
Sie würden trotz allem wieder an den Golf gehen? | |
Ja, absolut. | |
In welchem Beruf haben Sie in Katar gearbeitet? | |
Als Wachmann. Auf Baustellen, aber auch in Hotels, in Büros, in | |
öffentlichen Parks und an Stränden. Mit Unterbrechungen war ich ungefähr | |
viereinhalb Jahre dort. | |
Welche Arbeitsbedingungen haben Sie dort erlebt? | |
Sie stopfen acht bis zwölf Leute in eine kleine Unterkunft, manchmal | |
funktioniert die Klimaanlage nicht, es gibt Bettwanzen und Schimmel an den | |
Wänden. Die meisten Firmen suchen das billigste, schlechteste Essen aus. | |
Wir mussten zwölf bis vierzehn Stunden am Tag arbeiten, obwohl das | |
katarische Arbeitsrecht nur acht Stunden erlaubt. Wir waren völlig | |
erschöpft, aber wir sind ja nach Katar gekommen, um zu arbeiten, also tut | |
man das. Manchmal im Sommer, direkt in der Sonne, werden es über 50 Grad | |
bei unglaublicher Feuchtigkeit. Ich kenne Leute, die ohnmächtig geworden | |
sind, auch mein Aufseher ist einmal kollabiert. Männliche und weibliche | |
Arbeiter:innen leben getrennt, das macht es noch schwerer, Bündnisse zu | |
schließen. All das ist ein Rezept für psychische Probleme. Viele greifen zu | |
Alkohol und anderen Drogen, manche nehmen sich das Leben. | |
Hätte dieses Turnier nach Katar vergeben werden dürfen? | |
Ich habe kein Problem damit, dass die WM in Katar stattfindet. Ich bin ein | |
großer Fan von differenzierter Betrachtung. Barack Obama war der erste | |
schwarze Präsident, und auch das hier ist ein erstes Mal – das erste | |
arabische Land, das die Fußballweltmeisterschaft ausrichtet. Ich habe | |
katarische Freunde, die wie Familie für mich sind. Die WM sollte für jeden | |
sein. Mein Problem sind die Bedingungen in Katar. Die Situation für | |
Migrant:innen hat sich absolut nicht verbessert. Darüber bin ich wütend. | |
Und ich verstehe nicht, warum Katar die Reformen nicht umsetzt. Es wäre ein | |
Win-win-win für alle. Sie wären ein Pionier im Nahen Osten, neue Firmen | |
würden kommen, Migrant:innen wären zufriedener. | |
Sie haben Ihre katarischen Freunde erwähnt. Was ist Ihr Eindruck von dieser | |
Gesellschaft? | |
Es wäre unklug von mir, eine ganze Gesellschaft in einen Topf zu stecken. | |
Es gibt coole Leute und Leute, die nicht cool sind. Es ist ein kleiner | |
Anteil der Bevölkerung, der all das Elend verursacht. Ich kenne sehr | |
liebenswerte Kataris, die Wasser und Essen für die Migrant:innen kaufen | |
und an sie verteilen. Es ist auch sehr gut möglich, als Migrant katarische | |
Freunde zu finden. Ich vermisse meine Freunde dort. | |
In vielen Berichten heißt es jedoch, dass es sich um systemische Ausbeutung | |
handelt. Viele Kataris haben zum Beispiel migrantische Hausangestellte. | |
Ja. Meine Kollegin hier in Kenia [3][war Hausangestellte am Golf, sie hat | |
schlimmste Dinge erlebt]. Gleichzeitig wissen Leute in Europa oft nicht, | |
dass viele Kataris sich kritisch äußern, auch auf Social Media. Sie haben | |
in den USA oder Europa studiert, kehren mit neuen Ideen zurück, haben ein | |
Verständnis dafür, wie Gerechtigkeit aussehen sollte. Wenn sie | |
Ungerechtigkeit sehen, haben sie keine Angst, den Mund aufzumachen. Je | |
prominenter ihre Familie in Katar ist, desto liberaler sind sie oft. Denn | |
wenn Sie ein Neffe des Königs sind, werden Sie nicht verhaftet. | |
Stichwort Verhaftung: Sie hatten angefangen, anonym über die | |
Arbeitsbedingungen zu bloggen. Was ist dann passiert? | |
Ich habe ein Jahr lang über Missstände gebloggt. Und es haben sich dadurch | |
wirklich Sachen verbessert. Ich dachte: Jetzt bin ich unbesiegbar. Wie | |
falsch ich lag! Ich glaube, das Regime wusste immer, dass ich | |
dahinterstecke. Aber weil ich keine Mitglieder der Königsfamilie angegangen | |
bin, haben sie mich machen lassen. Und dann habe ich über die Mutter des | |
Emir geschrieben, Sheikha Musa. | |
Wie kam es dazu? | |
Sheikha Musa hatte gesehen, wie gegen Arbeitsrecht verstoßen wurde, und hat | |
nichts unternommen. Als ich den Text veröffentlichen wollte, haben mir alle | |
gesagt: Tu das nicht, tu das nicht. Als ich es tat, haben sie mich | |
festgenommen. Ich wurde in Isolationshaft gebracht. | |
Wie ist es Ihnen dort ergangen? | |
Ehrlich gesagt, war es gar nicht so schlimm. Okay, die ersten drei Tage | |
schon. In der ersten Zelle hatte ich keine Fenster, nur eine Matratze auf | |
dem Boden. Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, und sie haben | |
regelmäßig die Klimaanlage manipuliert, mal war es brütend heiß, mal | |
eiskalt. Aber dann wurde ich in eine andere Haftanstalt verlegt. Und das | |
Essen, das ich dort bekommen habe, war besser als das, was ich als Arbeiter | |
bekam. Das sagt Ihnen alles darüber, welche Stellung Migrant:innen in | |
Katar haben. | |
Woher haben Sie den Mut genommen, all das zu riskieren? Es hätte sehr | |
schlecht für Sie ausgehen können. | |
Das war kein Mut. Das war Verzweiflung. Wenn Sie einen Menschen gegen die | |
Wand drücken, tut er eines von zwei Dingen: Entweder macht er sich klein | |
oder er wehrt sich. Und irgendwie habe ich es geschafft, die zweite Option | |
zu wählen. Ich bereue nichts, was ich getan habe. Ich würde es wieder tun. | |
Viele Dissident:innen verschwinden auf diese Weise. Wie kamen Sie aus | |
dem Gefängnis wieder raus? | |
Sie haben mir einen Anwalt verweigert, sie haben mir Telefonanrufe nach | |
draußen verweigert. Zwei Wochen galt ich als vermisst. Daraufhin haben | |
verschiedene internationale NGOs einen Beschwerdebrief verfasst. | |
Internationale Medien haben darauf reagiert, Botschaften haben reagiert. | |
Meine Mutter hat neben der kenianischen auch die britische | |
Staatsbürgerschaft, das hat geholfen. Und dann haben Student:innen der | |
Qatar Foundation, die meisten davon Kataris, einen offenen Protestbrief | |
verfasst. Es waren diese katarischen Student:innen, die mir Hoffnung | |
gegeben haben. Denn der Brief war gefährlich für sie, und sie haben es | |
trotzdem getan. | |
Also hat Ihnen am Ende eine katarische Opposition rausgeholfen? | |
Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen nicht erklären, warum ich letztlich rauskam. | |
Wenn sie mich hätten festhalten wollen, hätten sie keinen Hauch von Schaden | |
davongetragen. Schauen Sie auf den [4][Fall Khashoggi in Saudi-Arabien]. | |
Ein Land ordnet so einen Mord an und darf trotzdem weiter die Formel 1 | |
austragen. [5][Menschenrechte sind kein relevanter Faktor für Botschaften, | |
Verbände und Staaten.] Es geht um Ressourcen und Investments. | |
Wenn es nun keinen Unterschied macht, den Fernseher einzuschalten oder | |
nicht – was dann? | |
Bürger:innen in Europa sollten Druck auf ihre Regierungen ausüben, | |
ernsthafte Gespräche mit der katarischen Regierung zu führen. Solange keine | |
anderen Gesetze eingeführt und eingehalten werden, wird sich nichts ändern. | |
Fußballteams mit Trikots, auf denen „Human Rights“ steht, verändern nicht… | |
Wir müssen an die Leute in den Hinterzimmern ran. | |
Vor der WM hat es – auch durch den Druck von Artikeln und Protesten – | |
durchaus Veränderungen gegeben. Ein Mindestlohn wurde in Katar eingeführt, | |
Schlichtungsstellen gegründet, [6][das ausbeuterische „Kafala“-System] | |
aufgeweicht. Ist das nichts? | |
Auf dem Papier gab es große Schritte. Aber nichts von dem wird umgesetzt. | |
Immerhin führt es dazu, dass migrantische Arbeiter:innen vor Gericht | |
die Möglichkeit haben, sich darauf zu berufen. Und NGOs können sagen: Oh, | |
Katar, aber ihr habt gesagt, dass ihr dies und das tun würdet … [7][Das | |
hilft ein bisschen.] Es ist besser als nichts. | |
Sie sind nach Kenia zurückgekehrt. Wie sieht nun Ihre Zukunft aus? | |
Ich habe 2022 die [8][Organisation Migrant Defenders] mitgegründet. Sie | |
wird von ehemaligen migrantischen Arbeiter:innen geführt, um aktiven | |
Arbeiter:innen am Golf zu helfen. Wir wollen auch einen Schutzort für | |
migrantische Arbeiter:innen einrichten, die Trauma und Missbrauch | |
erlebt haben. Und wir möchten ein Zentrum gründen, wo sie sich weiterbilden | |
können. Es reicht nicht, jemanden zu retten, Sie müssen ihm auch eine | |
Perspektive geben. Aber es ist schwer. Unsere Infrastruktur reicht nicht, | |
um Fördergelder zu bekommen, was ironisch ist, denn wir brauchen | |
Fördergelder, um eine Infrastruktur überhaupt aufzubauen. Die großen | |
Organisationen kommen viel leichter an Gelder. Dabei sollten wir als | |
migrantische Arbeiter:innen dabei sein, wenn über uns gesprochen wird. | |
Sie waren auch in mehreren Städten in Deutschland auf Tour. Fühlen Sie sich | |
von hier unterstützt? | |
Von den Fans sehr, von einigen Organisationen und der Politik weniger. Ich | |
dachte, die Tour löst etwas aus, aber das ist bisher nicht passiert. Ich | |
habe das Gefühl, wenn die WM endet, werden die Leute sich sofort für das | |
nächste Ding interessieren. Die echte Arbeit fängt nach der WM an. | |
19 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ueber-Fussballliebe-und-Boykott/!5895807 | |
[2] /Initiative-fuer-Fan-Boykott-der-WM/!5731878 | |
[3] /Haushaltshilfen-in-Jordanien/!5877935 | |
[4] /Saudischer-Einfluss-im-US-Sport/!5619758 | |
[5] /Leichtathletik-WM-in-Katar/!5627750 | |
[6] /Ausbeutung-im-Libanon/!5689519 | |
[7] /Sylvia-Schenk-ueber-die-Fifa/!5517923 | |
[8] https://migrantdefenders.org/ | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
## TAGS | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Schwerpunkt Boykott Katar | |
Katar | |
Arbeitsmigranten | |
Arbeiterklasse | |
GNS | |
Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
Migration | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Schwerpunkt Boykott Katar | |
Schwerpunkt Boykott Katar | |
Kolumne Orient | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
FC St. Pauli | |
Fußball | |
Fußball-WM 2022 Katar | |
Fußball-WM 2022 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Arbeiter auf Olympia-Baustellen in Paris: Ein Stück Plastik für ihre Rechte | |
Für die Olympischen Spiele im Sommer baut Paris neue Stadien. Viele | |
Migranten arbeiten dort ohne Papiere. Doch sie wollen raus aus der | |
Illegalität. | |
Frauenfußball in Katar: Kein Fordern des Förderns | |
In Katar sind nur noch Spurenelemente des Frauenfußballs zu finden. Dabei | |
verlangt die Fifa dessen Förderung eigentlich. | |
WM-Boykott im Stresstest: Es sind doch nur neunzig Minuten! | |
Der Fußball kämpft sich zurück in die Wohnzimmer des Landes. Seine | |
politische Kraft kann die politische Kritik in die Knie zwingen. | |
Katar und seine Opfer (9): Aktivist in Gefahr | |
Abdullah al-Maliki hat für Menschenrechte in Katar demonstriert. Nun wird | |
er von der Justiz verfolgt – ihm droht die Todesstrafe. | |
Katar und seine Opfer (8): Wie Ruth hintergangen worden ist | |
Nach harten Monaten als moderne Sklavin in Katar gelingt der Kenianerin | |
endlich die Flucht. Heute stehe sie auf einer Schwarzen Liste, vermutet | |
sie. | |
Katar und seine Opfer (1): Sturz in den Tod | |
Mohammad Hamidul Malita aus Bangladesch starb auf einer Baustelle in Katar. | |
Auf eine Entschädigung aus dem Emirat wartet die Familie bis heute. | |
Katar und seine Opfer (2): Flucht aus dem goldenen Käfig | |
Die katarische Feministin Aisha Al-Qahtani wurde Opfer von häuslicher | |
Gewalt. Nach ihrer Flucht ruft sie die Frauen in Katar zur Revolution auf. | |
Mobilität im WM-Land: Ein Fahrrad, das wär’s jetzt | |
Es gibt ein paar Radwege in Doha, doch niemand ist darauf unterwegs. Die | |
Stadt steckt in der Idee von Mobilität aus dem 20. Jahrhundert fest. | |
Misslungener WM-Einstand von Katar: Krasse Unterlegenheit | |
Beim Auftakt der WM enttäuscht Gastgeber Katar gegen Ecuador. Das Publikum | |
wandert noch während der Partie in Scharen ab. | |
HSV-Fans machen WM-Alternativprogramm: Etwas Besseres als Katar | |
Die Supporters-Abteilung des HSV hat sich ein Gegenprogramm zur Wüsten-WM | |
ausgedacht. Beim Hamburger Futsal-Derby kamen die Fans auf ihre Kosten. | |
Zwei Wochen vor der WM in Katar: Der normale WM-Wahnsinn | |
Der Bundeskanzler lobt Katar und Nancy Faeser schafft es auf die Homepage | |
der Fifa. Die will endlich über Fußball reden und ermahnt die | |
WM-Teilnehmer. | |
Arbeiter über Zustände auf WM-Baustellen: „Über Menschenrechte sprechen“ | |
Krishna Shrestha hat als Wanderarbeiter in Katar gearbeitet und das Migrant | |
Workers Network gegründet. Für einen Vortrag kommt er ins | |
Millerntorstadion. | |
Aus Le Monde diplomatique: Die Leibeigenen von Katar | |
Südasiatische Migranten schuften auf den Baustellen für die Fußball-WM | |
2022. Sie arbeiten unter Lebensgefahr, für einen Hungerlohn und sind | |
rechtlos. |