# taz.de -- WM-Boykott im Stresstest: Es sind doch nur neunzig Minuten! | |
> Der Fußball kämpft sich zurück in die Wohnzimmer des Landes. Seine | |
> politische Kraft kann die politische Kritik in die Knie zwingen. | |
Bild: Vielleicht doch mal einen Blick riskieren? Wegschauen von der WM gelingt … | |
Kann sein, dass ich mich täusche, aber wenn ich mich so in meinem Sprengel | |
umgucke, dann habe ich den Eindruck, dass die Bereitschaft, [1][diese WM | |
aus politischen Gründen nicht zu gucken], ähnlich erodiert wie etwa der | |
Pazifismus. | |
Der Cartoonist Til Mette hat jüngst eine ähnliche Beobachtung hinreißend | |
gezeichnet. Eine Frau sagt zu einem Mann, der zum Fernseher möchte: „Aber | |
nur 90 Minuten, dann wird wieder boykottiert.“ Auch die Comedian Carolin | |
Kebekus hat einen Sketch inszeniert, wo sich Freunde zum Boykottdinner | |
treffen, um dann doch immer wieder auf den Balkon zu verschwinden, wo sie | |
per Handy die Resultate abfragen. | |
Das ist wohl die Macht des Fußballs, die offensichtlich mehr Einfluss hat, | |
als sich so mancher vorab eingestanden hat. Ein Leben ohne Viererketten, | |
Dribblings, Kopfballduelle im Strafraum oder Diskussionen über Abseits ist | |
möglich. Und vermutlich (so ganz sicher bin ich mir nicht) ist ein solches | |
Leben noch nicht einmal sinnlos, um auf die Schnelle eine Variation von | |
Loriots Mops-Gag zu ruinieren. | |
Es könnte sogar sein, dass die nächstmögliche Antwort, dass nämlich ein | |
Leben ohne Fußball immerhin keinen Spaß machte, auch falsch ist. | |
Tatsächlich gibt es ja außer Männerprofinationalmannschaftsfußball noch | |
mehr nette Sachen auf der Welt. Sogar mir fallen ein paar ein. | |
## Was ist dran am Fußball? | |
Aber wir sollten schon zugeben, dass von allen Angeboten, die die | |
Freizeitindustrie für uns bereithält, der Sport, genauer: der Fußball und | |
noch genauer: sogar das mit Milliardensummen aufgeblähte | |
Männerprofibusiness eine Attraktivität aufweist, an die weder | |
Restaurantbesuche, Kinoabende, private Partys, Konzerte, ja, noch nicht | |
einmal ein Alice-Schwarzer-Abend in der ARD heranreichen. | |
Irgendwas ist dran am Fußball. Er entfaltet eine politische Macht, die | |
partiell sogar [2][gute politische Kritik] in die Knie zu zwingen vermag. | |
Dabei kommen die Begründungen für den aufgegebenen Boykott ganz unpolitisch | |
daher: „nur mal das Ergebnis gucken“, „ganz kurz ins Spiel reinzappen“, | |
„ich will doch bloß die Schlussphase sehen“. Das klingt wie Suchtverhalten, | |
aber mir scheint, dass es das nicht ist. Mir kommt es vor, als ließe die | |
begründete Ahnung, man könne etwas Wichtiges verpassen, so manchen in | |
meinem Sprengel vom Boykott Abstand nehmen. Aber natürlich kann es sein, | |
dass ich mich irre. | |
1 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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