# taz.de -- Diskussion um Boykott: Wie umgehen mit der Katar-WM? | |
> Diese Frage hat auch die taz-Redaktion umgetrieben. Vier sehr | |
> unterschiedliche Einwürfe zum Turnierstart – auch das Schauen mit | |
> Gewissen ist dabei. | |
Bild: Wie nah soll man das Turnier an sich herankommen lassen? Bus der DFB-Elf … | |
## Wegguckerin | |
Die WM sollte alleine wegen ihren katastrophalen Klimaauswirkungen | |
eigentlich sofort abgeblasen werden. Ausgerechnet mit dem Ende der | |
[1][Weltklimakonferenz in Ägypten] beginnt in Katar das Weltturnier. | |
Angeblich ist es klimaneutral. Doch diese Behauptung ist absurd. | |
Sechs der acht Stadien wurden komplett neu gebaut – Klimaanlagen zur | |
Kühlung von Spielfeldern und Zuschauerrängen inklusive. Und weil klar ist, | |
dass diese danach nicht mehr gebraucht werden, hat Katar schon im | |
[2][Bewerbungsprozess 2010] versprochen, dass Baumodule recycelt werden, um | |
daraus 22 Stadien für ärmere Länder errichten zu können. Zwölf Jahre spät… | |
sind dafür immer noch keine konkreten Pläne bekannt. 1,2 Millionen | |
eingeflogene Gäste werden erwartet. Und weil nicht alle in Katar | |
untergebracht werden können, werden Fans während der Spiele täglich ein- | |
und ausgeflogen. | |
Nach offiziellen Angaben der Fifa verursacht das Turnier 3,6 Megatonnen | |
CO2-Äquivalente. Mehr als jede andere WM zuvor. Diese Emissionen will Katar | |
kompensieren, darauf basiert die Behauptung klimaneutral zu sein. Die | |
ohnehin umstrittene Idee von Klimakompensationen geht davon aus, dass | |
Emissionen dort eingespart werden sollen, wo es am einfachsten ist. Was ist | |
eigentlich überflüssiger als eine Fussball-WM in der Wüste? Für die | |
Umsetzung der Ausgleichsmaßnahmen ist übrigens eine Organisation zuständig, | |
die von Katar selbst gegründet worden ist. Unabhängige Kontrollen sind so | |
unmöglich. | |
Katar ist auf Gas gebaut. Wörtlich. Der kleine Golfstaat ist der größte | |
Flüssiggasexporteur der Welt. Und hat trotz seines enormen Potentials keine | |
nennenswerte Produktion von Solarenergie. Die Klimakrise wird Katar hart | |
treffen: Forscher gehen davon aus, dass das Land in 50 Jahre fast nicht | |
mehr bewohnbar ist. Doch anstatt etwas gegen die Katastrophe zu | |
unternehmen, versucht Katar sein Image mit einer angeblich klimaneutralen | |
WM aufzupolieren – und macht damit alles noch viel schlimmer. | |
Angesichts dieses Verbrechens an unser aller Zukunft wirkt ein Boykott | |
geradezu lächerlich nett. (Clara Vuillemin) | |
## Hingucker | |
Ja, ich weiß: Katar ist politisch in [3][beinahe jeder Hinsicht unter aller | |
Kanone]. Es hat seine Gastarbeiter tausendfach tödlich geschunden, um die | |
kleine Staatsfläche mit vielen Fußballstadien zu bebauen. Medien werden es | |
auch zur Fußball-WM nicht nur schwer haben, offen zu berichten, die | |
Restriktionen sind skandalös. | |
Es gibt viele Gründe, dieses Turnier zu boykottieren. Es kaum zur Kenntnis | |
zu nehmen. Aber das funktioniert bei mir nicht, bei Abermillionen | |
Menschen nicht. Livesport, Fußball und Olympische Spiele zumal, ist wie | |
eine Droge: Der Globus kommt zusammen – und sportelt spitzenmäßig. | |
2008, als die Sommerspiele in Peking stattfanden, oder 2014 in Sotschi bei | |
den Winterspielen: Zwei Tage dauerte mein Boykott, dann brauchte ich die | |
Droge, an der ich seit Kindertagen hänge, wieder: Live dabei sein per | |
Fernsehen. Schau- (und öfters Mitfieber-)Lust in reinster Form: Sehen und | |
hören, was passiert. Jetzt! | |
Wobei die Grade meiner Rückfälle unterschiedliche Qualität haben konnten: | |
Peking 2008 war mit der Illusion verbunden, das Land werde sich politisch | |
zum Besseren ändern. Diese Idee hatte ich vor acht Jahren in Sotschi keine | |
Sekunde: Das Regime würde lügen und betrügen, und das erwies sich als allzu | |
wahr. 1978, Fußball-WM in Argentinien: war schlimmer als fantasiert. Seoul | |
1988 hingegen waren Sommerspiele noch im zerbröselnden Modus der | |
Militärdiktatur, inzwischen ist das Land eine Musterdemokratie. | |
Und die Weltmeisterschaft in Katar? Millionen in der nichtwohlhabenden Welt | |
sind stolz, dass dieses Fußballturnier nicht bei den üblichen Verdächtigen | |
stattfindet. Und stimmt es nicht wenigstens ein bisschen, dass sich in | |
Katar politische Dinge geändert haben? Und weiter ändern könnten? So oder | |
so: Ich weiß um meine Droge, Abstinenz wäre trist. Und sinnlos. (Jan | |
Feddersen) | |
## Schauen mit Gewissen | |
„Also ich guck das auf keinen Fall!“, posaunen seit Wochen viele. Meist | |
folgt auf das Bekenntnis die unsichere und irgendwie hoffnungsvolle Frage | |
„Und du?“. So als suche man noch einen Ausweg aus der Boykottfalle. | |
Klar: [4][Nichts spricht für diese WM]. Eine frauen- und schwulenfeindliche | |
Ausbeuter-Diktatur als Gastgeber, das Ereignis vergeben durch die Mafifa. | |
Jede Tribüne könnte man, Sitz für Sitz, mit Gedenktafeln für die Todesopfer | |
unter den Bauarbeitern füllen. | |
Doch je näher die Weltmeisterschaft gerückt ist, desto zögerlicher wurden | |
die Boykott-Gelöbnisse. Rechtfertigungen ploppen auf: Ist es politisch | |
überhaupt sinnvoll, das Erlebnis WM von einer Diktatur vermiesen zu lassen? | |
Wertet man das Regime so nicht eher auf? Und überhaupt: Wer kriegt denn | |
mit, dass ich nicht gucke? Was bewirkt das überhaupt? | |
Dieses Mal machen wir es anders. Wir gucken! Und zahlen 5 Euro „Eintritt“ | |
pro Spiel an Amnesty International. Jugendliche bis 18 die Hälfte; man kann | |
das gern auch sozial weiter staffeln, auch nach oben: also FDP-Wähler*innen | |
und andere Gutverdiener*innen zahlen 10 Euro oder mehr – freiwillig. | |
Ersatzweise gibt es eine Flatrate für die vollends Fußballsüchtigen: Ganze | |
WM 150 Euro, Thema abgehakt. Da jubelt das betäubte Gewissen? Ja, aber | |
Amnesty eben auch. | |
Also: Mitmachen! Nachmachen! Und weitererzählen: im Kegelklub, in der | |
eigenen Fußballmannschaft, der Schulklasse, im Freundes*innenkreis! Bildet | |
Banden zum Abkassieren! Lasst Twitter und Facebook glühen von der Idee. | |
Wir sind uns da ganz sicher: Das bringt im Ergebnis mehr als bockiges | |
Nicht-Gucken. Zudem: Amnesty ist gerade in Sachen Katar keine schlechte | |
Spendenadresse. Und man verpasst den Sensationssieg von Costa Rica gegen | |
Spanien nicht. | |
Das Finale sei übrigens zahlungsfrei, als Verbeugung vor der eigenen | |
Fußballsucht, als Eigendank und weil ein Endspiel allgemein historische | |
Bedeutung hat. Zudem hilft die Ausnahme auch aus organisatorischen Gründen: | |
So kann bitte jede Gruppe, jedeR Einzelspender*in uns bis Samstagabend | |
vor dem Endspiel die gesammelte Summe mitteilen – an [email protected]. Gern | |
mit selbstlöblerischen, kritischen und wohlfeilen Hinweisen. Wir addieren | |
und geben das stattliche Ergebnis samt klügsten Kommentaren nach dem Finale | |
bekannt. (Oliver Domzalski/Bernd Müllender) | |
## Nicht eine Zeile! | |
Es muss gute Gründe geben, wenn Journalisten von sich aus entscheiden, | |
nicht über etwas Relevantes berichten zu wollen. Schließlich ist das unsere | |
ureigenste Aufgabe. Noch vorsichtiger sollten wir mit Boykottforderungen | |
umgehen. Im Fall der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar aber ist | |
ein Boykott der Berichterstattung der richtige und einzige Weg. Ich will – | |
und ich werde – keine Zeile über ein Spiel in der taz – oder anderswo – | |
lesen. Aus Überzeugung, als politische Haltung und Handlung. | |
Katar ist ein kleines Land: eine absolute Monarchie mit gerade mal 2,7 | |
Millionen Einwohnern, die ganz große Mehrheit davon | |
Arbeitsmigrant*innen ohne Pass und weitgehend ohne Rechte. Sie haben, | |
unter oft unmenschlichen Bedingungen, die Stadien und weitere Infrastruktur | |
für dieses Turnier in die Wüste gesetzt. Viele haben dafür mit ihrem Leben | |
bezahlt. | |
Das Regime ist mit seiner repressiven, reaktionären, homophoben, | |
frauenfeindlichen Politik und den verschwenderischen Umgang mit fossilen | |
Ressourcen – um nur einige Beispiele zu nennen – das Paradebeispiel für | |
einen politischen Bad Guy. Will die Menschheit das 21. Jahrhundert | |
überleben, will sie den moralischen Ansprüchen an die Gattung Mensch | |
erfüllen, muss sie in allen Bereichen so ziemlich genau das Gegenteil von | |
Katar tun. | |
Muss man also mehr über ein Land mit 300.000 Staatsbürger*innen wissen? | |
Nein. | |
Die Fußball-WM in Katar ist nicht zu vergleichen mit Sportgroßereignissen | |
etwa in Peking oder Sotschi. China und Russland sind zentrale | |
weltpolitische Akteure, die Einfluss haben in vielen Bereichen. Katar – | |
auch wenn sich Deutschland erniedrigt hat, sich von dort Gas liefern zu | |
lassen – ist nur ein Land, dass sich Aufmerksamkeit erkaufen will, wenn es | |
sein muss, auch mit Bestechung. Wir sollten ihm diese Aufmerksamkeit nicht | |
zugestehen, wir sollten nicht selbst käuflich werden. Ganz nebenbei trifft | |
ein Boykott der Spielberichterstattung auch die korrupte Fifa und damit | |
längst nicht die falschen. | |
Die Boykottbewegung ist groß geworden: Viele Fans, Eckkneipen, | |
Aktivist*innen, Institutionen teilen inzwischen diese Haltung. Die taz | |
als linke, ja einst radikale Zeitung darf dabei nicht fehlen. Sie muss sich | |
dem Spagat verweigern, der es bedeutet, um der Sportberichterstattung | |
willen zum Transporteur der Botschaften von Fifa und dem Herrscherhaus von | |
Katar zu werden. Letztere dürfen von keinem Cent aus dem stets zu kleinen | |
taz-Budget profitieren. | |
Im besten Sinne – so die Hoffnung – führen diese Spiele zu einem globalen | |
Umdenken, dass (sportliche) Großereignisse künftig ohne (allzu sichtbare) | |
Korruption vergeben werden und dass sie dann auch ökologische Standards | |
erfüllen müssen. Dafür muss aber klar sein und jeden Spieltag klar werden: | |
Die politische Bedeutung der WM ist um ein Vielfaches größer als die | |
sportliche. (Bert Schulz) | |
PS: Ein Katar-Boykott wäre übrigens nichts völlig Neues in der taz: Die | |
Redaktion der Leibesübungen berichtet aus Prinzip nicht über Motorsport. | |
18 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Klimakonferenz-in-Dubai/!t5018328 | |
[2] /Vor-der-Fussball-WM-in-der-Wueste/!5894077 | |
[3] /Ueber-Fussballliebe-und-Boykott/!5895807 | |
[4] /Zwei-Wochen-vor-der-WM-in-Katar/!5890142 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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