Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Leibeigenen von Katar
> Südasiatische Migranten schuften auf den Baustellen für die Fußball-WM
> 2022. Sie arbeiten unter Lebensgefahr, für einen Hungerlohn und sind
> rechtlos.
Bild: Hoffentlich überleben sie die Arbeit auf der WM-Baustelle
Unser Konvoi fährt heimlich los, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei zu
erregen – sie hat ein Auge auf Neugierige, die sich zu sehr für das
Schicksal der ausländischen Arbeitskräfte interessieren. An der Biegung
eines staubigen Wegs tauchen aus dem Dunkel Baracken auf. Mit den
unverputzten Fassaden und dem überall herumliegenden Schutt sieht das
„Arbeitercamp“ eher wie ein Slum aus. Hier in ar-Rayyan, der zweitgrößten
Stadt des Emirats Katar, sollen 2022 im Stadion Ahmed bin Ali mehrere
Spiele der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen werden.
Wir sind unterwegs mit einer Delegation der internationalen Bau- und
Holzarbeiter-Gewerkschaft (BHI). Im Camp werden wir von etwa einem Dutzend
indischer und nepalesischer Arbeiter empfangen, die auf dieser Baustelle
beschäftigt sind. In ihrer winzigen, neun Quadratmeter großen Unterkunft
stehen acht Stockbetten mit schmutzigen, durchgelegenen Matratzen. „Wir
haben seit vier Monaten keinen Lohn bekommen“, berichten sie. Da sie über
keine weiteren Mittel verfügen und ihre Grundbedürfnisse decken müssen,
verschulden sie sich zu Wucherzinsen bei den örtlichen
Lebensmittelhändlern, die ebenso skrupellos sind wie ihre Arbeitgeber.
Neben diesen Schulden müssen sie auch noch die Kredite zurückzahlen, die
sie aufgenommen haben, um die illegale „Vermittlungsgebühr“ zu bezahlen:
Die Agentur in ihrem Heimatland hat Geld verlangt, um den Kontakt zu den
Arbeitgebern am Golf vermitteln. Was an dann noch übrig bleibt, schicken
die Arbeiter an ihre Familien daheim.
Rajiv V. (die Vornamen wurden geändert, Anm. d. Red.) stammt aus dem
indischen Bundesstaat Westbengalen und arbeitet seit 15 Monaten in Katar.
Der etwa 30-jährige Zimmermann spart die Hälfte seines Monatslohns (300
Euro) für seine Ehefrau, die den gemeinsamen Sohn allein aufzieht. Nach
Angaben der katarischen Regierung sollen die Arbeitsmigranten im Emirat
allein im Jahr 2014 über 10,7 Milliarden Euro in ihre Heimatländer
zurücküberwiesen haben. Die wenigen Freizeitangebote können sie sich
ohnehin nicht leisten – oder ihnen ist der Zugang faktisch verboten: „In
vielen Teilen Dohas dürfen sich Wanderarbeitskräfte nicht aufhalten,
wodurch sie in ihrer Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt sind“,
[1][heißt es im neuesten Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbunds
(IGB)]. Diese als „Familienareale“ bezeichneten Tabuzonen seien auf den
Karten, die von der katarischen Regierung verteilt werden, genau
ausgewiesen.
Folgerichtig werden die Arbeiter in Randgebiete abgeschoben, die weit von
ihrem Arbeitsort entfernt liegen; inklusive Bustransfer sind sie 13 Stunden
am Tag auf den Beinen. Ihr Gemeinschaftsleben beschränkt sich auf
sporadische Treffen der jeweiligen Exilgemeinde: „Unsere Kollegen
organisieren jeweils am 18. Dezember, dem internationalen Tag der
Migranten, ein großes Fest der nepalesischen Gemeinde. So können wir unter
dem Deckmantel eines Kulturfestes alle Beschäftigten versammeln“, sagt
Binda Pandey, Leiterin des Dachverbands der nepalesischen Gewerkschaften
(Gefont) und Mitglied des Verwaltungsrats der Internationalen
Arbeitsorganisation (ILO). Wie in allen Golfstaaten – mit Ausnahme von
Kuwait und Bahrain – sind in Katar Gewerkschaften verboten.
## Keine Rechte, kein Pass
Die insgesamt 2 Millionen ausländischen Arbeitskräfte in Katar, die 90
Prozent der Bevölkerung ausmachen unterliegen dem Kafala-System, das die
Arbeitnehmer unter Kuratel eines „Paten“, also ihres Arbeitgebers, stellt.
Angewandt wird das Kafala-System auf der gesamten Arabischen Halbinsel, von
den Vereinigten Arabischen Emiraten über Kuwait bis Saudi-Arabien.
In Katar baut eine riesige Arbeiterarmee an sechs von sieben Wochentagen,
winters wie sommers, bei Temperaturen von bis zu 50 Grad, die Stadien für
die Fußballweltmeisterschaft 2022. Während ihres Aufenthalts in Katar sind
die ausländischen Arbeiter praktisch rechtlos: Ihr Lohn wird sehr spät oder
gar nicht ausgezahlt, ihre Wohnheime sind baufällig und unhygienisch, sie
dürfen ohne Zustimmung des Arbeitgebers nicht den Job wechseln, und ihr
Pass wird eingezogen; um das Land verlassen zu können, benötigen sie die
Erlaubnis ihres Chefs.
88 Arbeitsmigranten auf der Baustelle des Khalifa-Stadions in Doha
bestätigten in einer Umfrage von Amnesty International, dass sie nicht das
Recht haben, Katar zu verlassen. Sogar nach den Erdbeben im April und Mai
2015 wurden sieben Nepalesen daran gehindert, in ihr Heimatland
zurückzukehren, um nach ihren Angehörigen zu sehen. Das Verbot zur Ausreise
kam von der Arbeitsagentur Seven Hills, die unter anderem dem malaysischen
Konzern Eversendai billiges und grenzenlos einsatzfähiges Personal für die
Bauarbeiten am Khalifa-Stadion vermittelt.
Der IGB, ebenso wie Human Rights Watch und Amnesty International,
verurteilen das herrschende Arbeitsrecht im Emirat als
Quasileibeigenschaft. „Bis zum ersten Anpfiff bei der WM ist mit dem Tod
von über 7000 Wanderarbeitskräften zu rechnen“, warnt die
IGB-Generalsekretärin Sharam Burrow.
## Tod durch Verdursten
Von solch alarmierenden Zahlen will die katarische Regierung nichts wissen:
„Bis heute hat es keinen einzigen Todesfall in Zusammenhang mit den
Infrastrukturvorhaben für die Weltmeisterschaft gegeben“, hieß es in einer
offiziellen Stellungnahme vom Juni 2015. Das katarische
WM-Organisationskomitee hat jedoch erst jüngst zwei „natürliche
Todesfälle“ durch Herzversagen eingeräumt: Ein 52-jähriger Maler aus
Indien, der auf der Baustelle des Khalifa International Stadiums gearbeitet
hatte, sei im Oktober 2015 an einem Herzinfarkt gestorben. Anfang 2016 sei
zudem ein 55-jähriger Fahrer mit Herzproblemen, ebenfalls aus Indien, trotz
intensivmedizinischer Behandlung verstorben. Die Botschaften von Indien,
Bangladesch und Nepal haben im Verlauf der letzten zwei Jahre aber bereits
900 Todesfälle erfasst; bei der Hälfte davon wurden ein plötzlicher
Herzinfarkt oder unbekannte Gründe als Todesursache angegeben.
Ramachandra Kuntia, Vizepräsident der BHI und ehemaliger Abgeordneter der
indischen Kongresspartei, macht für diese Todesfälle die außergewöhnlich
harten Arbeitsbedingungen verantwortlich: „Zahlreiche Arbeitskräfte sind in
Privathaushalten beschäftigt, wo sie die Toilette nicht benutzen dürfen.
Auch bei extremer Hitze trinken sie deshalb von morgens bis abends keinen
Tropfen, und manche sterben an Dehydrierung. Der Arzt stellt dann einen
natürlichen Tod fest, und die Familie der Toten erhält keinerlei
Entschädigung.“
Als die Bilder aus den schmutzigen Arbeiterlagern öffentlich gemacht
wurden, war die katarische Regierung um ihren Ruf besorgt und versprach im
Mai 2014 erstmals, das Kafala-System zu reformieren. Am 27. Oktober 2015
erließ Emir Scheich Tamim bin Hamad al-Thani schließlich ein neues Gesetz,
das jedoch erst am 1. Januar 2017 in Kraft treten soll. Der Begriff „Pate“,
der inzwischen als Synonym für schlechte Behandlung steht, wurde durch den
unverfänglicheren Terminus „Arbeitgeber“ ersetzt.
Künftig braucht ein Arbeitnehmer keine Genehmigung des Arbeitgebers mehr,
wenn er das Land verlassen will – besonders diese Regelung hatte in
westlichen Medien für Aufregung gesorgt. Ein Ausreiseantrag soll künftig
als angenommen gelten, wenn der Chef nicht innerhalb von drei Tagen sein
Veto einlegt. „Die Einspruchsmöglichkeiten werden zwar etwas verstärkt“,
meint ein in Doha ansässiger europäischer Wirtschaftsanwalt. „Bei einem
derart einseitig an den Interessen der Arbeitgeber ausgerichteten
Arbeitsrecht wird die Ausbeutung aber so bald nicht aufhören.“
## Ohne Bankkonto keine Überweisung
Nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate sieht die Reform auch
ein System vor, das den Arbeitnehmern gewisse Garantien bietet, damit in
Zukunft alle ihren Lohn auch tatsächlich erhalten. Jede im Arbeitsvertrag
genannte Summe muss durch eine Überweisung belegt werden. „Dank dieser
Maßnahme werden die Beschäftigten der in Katar ansässigen Unternehmen ihren
Lohn per elektronischer Überweisung innerhalb von maximal sieben Tagen
erhalten“, erklärte das Presseamt der Regierung. Das Problem: Nur sehr
wenige Arbeitsmigranten besitzen überhaupt ein Bankkonto; nach Schätzungen
von NGOs und Gewerkschaften etwa ein Fünftel.
Die Zentralbank von Katar hat den Banken zwar Anweisung gegeben, Konten für
die ausländischen Arbeitskräfte zu eröffnen. Aber die Banken haben es damit
offenbar nicht eilig: „Sie wollen keine Horden von Arbeitern in ihren
Filialen haben und stellen lieber mobile Geldautomaten auf“, sagt der
Wirtschaftsanwalt. Die mittellosen „Horden“ sollen in ihren Behelfslagern
bleiben, fern von den luxuriösen Bankhäusern Dohas, in denen Katarer und
reiche Ausländer verkehren.
Ein weiterer zarter Versuch ist die Reform der
Unbedenklichkeitsbescheinigung (Non Objection Certificate, NOC), die laut
Regierung eine „größere Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer“ garantieren
soll. Wenn ein „Pate“ bislang die Unterschrift unter dieses Dokument
verweigerte, welches dem ausländischen Arbeitnehmer „beispielhaftes“
Verhalten attestiert, dann musste der Betreffende das Land für mindestens
zwei Jahre verlassen, bevor er wieder dort arbeiten durfte. Der kleine
Fortschritt: Wer das Ende seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit
erreicht hat, braucht diese Bescheinigung künftig nicht mehr vorzulegen,
wenn er weiterhin in Katar bleiben will.
Dasselbe gilt für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, die den
Arbeitgeber wechseln möchten; sie müssen jedoch weiterhin nachweisen, dass
sie bereits seit fünf Jahren für ein Unternehmen tätig sind.
Am 1. November 2015 eröffneten Katars Premierminister Abdullah bin Nasser
bin Khalifa al-Thani und Arbeitsminister Abdullah al-Khulaifi feierlich die
erste „Stadt der Arbeit“: eine Wohnsiedlung, in der 70 000 Arbeitsmigranten
zu angemessenen Bedingungen untergebracht werden sollen. Eine Woche nach
der offiziellen Einweihung treffen wir Jassim al-Thani, den Pressesprecher
der Regierung, zu einem persönlichen Besichtigungstermin. Der junge Mann
aus der Königsfamilie trägt eine elegante Dischdascha und fährt seinen SUV
mit weichen Ledersitzen selbst. Vor der bewachten Einfahrt zur „Stadt der
Arbeit“ treffen wir Zoher D., der uns herumführen soll. Der libanesische
Ingenieur war selbst am Bau der Anlage beteiligt.
## Die Arbeiterstadt der Zukunft
Die Siedlung, die noch zu drei Vierteln leer steht, ist in einen
Wohnbereich und einen Freizeit- und Konsumbereich unterteilt und ringsum
von hohen Mauern umschlossen. Von zwei Polizeiposten aus patrouillieren
regelmäßig Ordnungskräfte bis in den letzten Winkel der Siedlung. In jedem
Gebäude sitzt ein Wachmann in einem Überwachungsraum mit vier Bildschirmen,
die mit Kameras in den blitzblanken Gemeinschaftsräumen verbunden sind. In
den 24 Quadratmeter großen Zimmern sollen je vier Menschen leben. Alles
scheint perfekt in dieser Arbeiterstadt der Zukunft. Auch das
Einkaufszentrum mit 200 Geschäften steht kurz vor der Eröffnung.
Bis Ende 2017 sollen sechs weitere Wohnkomplexe errichtet werden und
insgesamt 379 000 Menschen aufnehmen. Das ist nicht viel: Hunderttausende
leben in engen und schmutzigen Baracken – und bis zur WM sollen weitere 500
000 Arbeitsmigranten nach Katar kommen.
Der philippinische Gewerkschafter Ambet Yuson, Generalsekretär der BHI,
bestätigt, es habe bei der Unterbringung der ausländischen Arbeiter
„Verbesserungen“ gegeben. Doch in Bezug auf Gesamtwirkung der Reform bleibt
er skeptisch: „Das dritte Jahr in Folge schicken wir jetzt eine Delegation
nach Katar, und im Grunde hat sich die Situation der Arbeitsmigranten kaum
verändert.“
Diese Einschätzung bestätigen auch die etwa 30 indischen Arbeiter, die zu
einem Seminar der BHI ins Hinterzimmer eines Restaurants in Doha gekommen
sind. Die Inder bilden mit 650 000 Arbeitskräften die größte Exilgemeinde
in Katar, gefolgt von den Nepalesen (500 000) und Philippinern (250 000).
Hat die Regierung ihr Versprechen gehalten, den Missbrauch des
Kafala-Systems zu beenden? Skeptisches Gemurmel bei den Zuhörern. Nur acht
der anwesenden Arbeiter sind im Besitz ihres Reisepasses. Die Pässe der
anderen wurden von ihren Arbeitgebern einbehalten.
Ein Arbeiter erhebt sich und zeigt sein Ingenieurdiplom: „Bei der Agentur
in Indien, die mich angeworben hat, habe ich einen Vertrag als Elektriker
unterschrieben. Aber als ich hier ankam, hieß es: ‚Du musst als Klempner
arbeiten‘, für einen Lohn von 900 Riyal – das ist die Hälfte dessen, was
mir zugesichert wurde.“ Der monatliche Durchschnittsverdienst der
anwesenden Arbeiter liegt bei 1115 Katar-Riyal (circa 275 Euro), inklusive
Wohngeld. Das steht in keinem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der
rund 250 000 katarischen Staatsbürger, das auf monatlich 10 800 Euro
geschätzt wird.
## Tödliche Unfälle auf Baustellen
Die gezahlten Löhne wirken noch lächerlicher, wenn man die Gefahren der
Arbeit berücksichtigt: „Gestern hat sich ein Kollege auf der Baustelle
hinter dem Hotel Mercure den Arm abgeschnitten“, berichtet ein Arbeiter aus
Sri Lanka. Ein anderer zeigt seine Wade, die vor einem halben Jahr von
einer Maschine aufgeschlitzt wurde. Stürze oder Verletzungen durch
Gegenstände oder Fahrzeuge: Nach einem offiziellen katarischen Bericht von
2012, also vor Baubeginn für die WM, sind 22,8 Prozent der Todesfälle unter
Arbeitsmigranten auf „äußere Ursachen“ zurückzuführen, vor allem auf
Unfälle auf Baustellen.
Die kämpferisch gesinnten Inder kritisieren das Kafala-System, verweisen
aber auch auf die Verantwortung ihrer Unternehmen, zumeist westliche
Konzerne, die sich oft noch unbarmherziger zeigen als das katarische
Gesetz. Einer von ihnen berichtet, dass die Baufirma Qatari Diar Vinci
Corporation (QDVC), ein Tochterunternehmen des französischen
Vinci-Konzerns, die Pässe ihrer Beschäftigten einkassiert hat und sie erst
ein halbes Jahr später auf starken Druck hin zurückgab. Dabei war die
Einbehaltung der Pässe nach katarischem Gesetz zu diesem Zeitpunkt bereits
verboten.
Im März 2015 reichte die französische Nichtregierungsorganisation Sherpa
eine Klage gegen QDVC ein; wegen „Zwangsarbeit“ und „Versklavung“. „D…
Kafala-System schränkt die Bewegungsfreiheit der Arbeiter ein, aber manche
Unternehmen halten noch nicht einmal die Mindestvorschriften ein“, erklärt
die Sherpa-Anwältin Marie-Laure Ghislain. „Vinci hätte sicherstellen
müssen, dass alle seine Beschäftigten, auch diejenigen, die bei
Subunternehmern angestellt sind, über die gleichen Rechte verfügen, die
auch im katarischen Gesetz garantiert sind.“
Seit der Klageeinreichung hat sich Vinci bereit erklärt, die
Wohnbedingungen eines Teils seiner Beschäftigten in Katar zu verbessern.
Von den 3200 Arbeitern bei QDVC sollen mittlerweile mindestens 2000 in
Zimmern mit höchstens vier Betten wohnen, wie es das katarische Gesetz
vorschreibt. Die 4500 Beschäftigten der Subunternehmen hausen nach Angaben
von Sherpa jedoch weiterhin in miserablen Unterkünften. Zudem soll künftig
keiner der 7700 Arbeitskräfte bei QDVC mehr als 60 Stunden pro Woche
arbeiten – die gesetzlich vorgeschriebene Höchststundenzahl. Allerdings
hatte dies Maßnahme eine Gehaltssenkung von 10 Prozent zur Folge.
## Privilegierte Ausländer
Das Kafala-System ist nicht für alle ausländischen Arbeitskräfte gleich
bedrohlich. Leitende Angestellte multinationaler Konzerne, Unternehmer,
Anwälte oder Verwaltungsfachleute aus anderen Ländern bilden eine kleine
privilegierte Schicht, die von ihren Arbeitgebern nichts zu befürchten hat.
Der Finanzmanager Andrew M. zum Beispiel würde seinen Posten in Katar für
nichts in der Welt eintauschen. Der joviale Brite lebt und arbeitet seit
sieben Jahren in Doha. Er empfängt uns in Bermuda-Shorts und Sandalen im
Wohnzimmer seiner Villa in West Bay Lagoon, einer Gated Community, in der
wohlhabende Ausländer und einige Katarer wohnen. An den Garten des Hauses
schließt sich ein weitläufiger Park an, ein Spielparadies für die Kinder.
Ein paar Schritte weiter erstreckt sich ein feiner Sandstrand mit Palmen
und einer herrlichen Sicht auf die Bucht von Doha.
„Das ist der beste Wohnkomplex in ganz Katar“, erläutert unser Gastgeber
lächelnd. „Diese Villa kostet 7500 Euro Miete im Monat, sie ist 500
Quadratmeter groß, dazu kommen Garten und Schwimmbad. Für die Katarer ist
das ein bisschen klein, die wohnen lieber großzügiger, auf 1000 oder 2000
Quadratmetern.“ Bei einem Monatsgehalt von 30 000 Euro hat der gewandte
50-Jährige ausgesorgt.
Wie erlebt er das Kafala-System? „Ich habe das Glück, ein Visum zur
Mehrfachausreise zu besitzen, damit kann ich das Land verlassen, wann immer
ich will, ohne meinen Arbeitgeber um Erlaubnis fragen zu müssen.“ Dieses
Privileg genießen nur ein paar tausend Ausländer, meist aus dem Westen. Sie
stehen unter Schutz der großen Konzerne, bei denen sie angestellt sind. Die
Ausstellung der Unbedenklichkeitsbescheinigung ist für sie eine reine
Formsache.
## Schutz durch Kafala
Teilweise sind aber auch wohlhabende Ausländer von der Willkür des
Kafala-Systems betroffen – vor allem wenn sie allein und ohne Unterstützung
einem allmächtigen „Paten“ gegenüberstehen: Said F. verdient als Ingenieur
beim katarischen Bauunternehmer Midmac 7400 Euro im Monat, ein gutes
Gehalt. Doch der 40-jährige Libanese lässt kein gutes Haar an dem
„unmenschlichen“ Kafala-System: „Ich erwarte keine großen Veränderungen.
Reform hin oder her, meine Bewegungsfreiheit bleibt eingeschränkt.“ Auch
wenn er nach dem neuen Gesetz keine Unbedenklichkeitsbescheinigung mehr
bräuchte, da er bereits seit über zehn Jahren in Katar arbeitet, ist der
Ingenieur sicher, dass seine Vorgesetzten ihn niemals gehen lassen würden.
Ein anderer Fall ist der ehemalige Profifußballer Zahir Belounis aus
Frankreich, der fast anderthalb Jahre in Doha festsaß, weil er einem
Transfer an einen anderen Club widersprochen hatte.
Ahmed al-Rayes, Generaldirektor eines Familienunternehmens, verteidigt das
Kafala-System mit großer Verve. Er steht an der Spitze eines Konglomerats
von 37 Firmen mit 1900 Beschäftigten im Wäscherei-, Transport- und
Logistikbereich und ist einer der wenigen katarischen Arbeitgeber, der sich
traut, seinen Standpunkt offen darzulegen: „Die Kafala abzuschaffen wäre
gefährlich. Manche ausländischen Arbeiter könnten Lust bekommen, mich zu
töten. Die Morde an Katarern und die Diebstähle würden sprunghaft
ansteigen. Vergessen Sie nicht, dass die Ausländer mehr als 90 Prozent der
Bevölkerung ausmachen. Kaum ein Katarer will das Kafala-System wirklich
abschaffen oder reformieren. Nicht weil sie sich als Sklavenhalter
verstehen, sondern weil sie vorsichtig sind.“ Kein Wunder, dass al-Rayes
die Zulassung von Gewerkschaften vehement ablehnt: „Wenn ein Angestellter
ein Problem mit seinem Arbeitgeber hat, dann kann er beim Gericht Klage
erheben.“
In einem Land, in dem man für jede Kritik am Emir im Gefängnis landen kann,
ist es schwer, die wahre Meinung der Bürger zu erfahren. Selbst einfache
Aussagen, die kein negatives Urteil enthalten und in offiziellem
Zusammenhang fallen, können den Sprecher hinter Gitter bringen. Erst im
März 2016 wurde ein katarischer Beamter verhaftet, weil er mit einer
ILO-Delegation „zu viel geredet“ hatte.
„Unser Gesetzgebungsprozess berücksichtigt alle unterschiedlichen
Standpunkte“, heißt es in einer Erklärung des Regierungssprechers. „Die
Reform des Kafala-Systems wurde im Ministerrat vorgestellt und am 28. Juni
2015 der Beratenden Versammlung (Madschlis al-Schura) zur Stellungnahme
vorgelegt.“ Der Emir trifft die Entscheidung als oberste Instanz – und muss
er berücksichtigen, dass die Arbeitgeberseite jede Reform einhellig
ablehnt. Gewichtige Unterstützung erhält sie von der Madschlis al-Schura,
die sogar vorschlug, das Kafala-System noch zu verschärfen. Nach Meinung
der Versammlung sollten Arbeitsmigranten, die ihren Arbeitgebern
„Schwierigkeiten machen“ oder versuchen, das Unternehmen vor Ablauf ihres
Vertrags zu verlassen, dazu gezwungen werden, mindestens das Doppelte der
ursprünglichen Vertragslaufzeit für ihre „Paten“ zu arbeiten, bevor sie d…
Arbeitgeber wechseln dürften.
## Gute Absichten vorgetäuscht
Im November 2015 beschloss der ILO-Verwaltungsrat, eine „hochrangige
Delegation“ nach Katar zu schicken, um den Druck auf die Regierung zu
erhöhen. Dieser Beschluss fiel, nachdem der IGB eine Klage wegen
Zwangsarbeit eingereicht hatte. Es ist das erste Mal seit 2001, dass sich
der Verwaltungsrat der ILO mehrheitlich zur Entsendung einer
Kontrollmission in ein Land entscheidet, das unter Verdacht steht,
internationale Arbeitsstandards zu missachten. „Die ILO hat sich nicht
irreführen lassen vom Manöver der katarischen Regierung, ein paar Tage vor
der Abstimmung eine Minireform zu verabschieden, um gute Absichten
vorzutäuschen und gleichzeitig die rückschrittlichsten Prinzipien des
Kafala-Systems beizubehalten“, erläutert Bernard Thibault, ehemaliger
Generalsekretär der französischen Gewerkschaft CGT und Mitglied im
ILO-Verwaltungsrat.
Vom 1. bis 5. März 2016 wurde eine „Drei-Parteien-Delegation“ der ILO mit
Vertretern der drei Gruppen im Verwaltungsrat (Staaten, Arbeitgeber und
Arbeitnehmer) von den höchsten Amtsträgern Katars empfangen, jedoch nicht
vom Emir selbst. Nur drei Tage bevor die Delegation die Baustelle der neuen
Metro in Doha besuchte, war Juanito Pardillo, ein philippinischer Arbeiter
der Firma Qatar Rail, auf einer Tunnelbaustelle gestorben.
„Der Bericht der Delegation belegte – falls es dafür noch eines Beweises
bedurft hätte –, dass die sogenannte Reform die Situation der Beschäftigten
nicht verbessert hat“, sagt Thibault. „Die Vermittlungsgebühr wird immer
noch von den Arbeitsmigranten selbst bezahlt, und die Verträge, die sie in
ihrem Heimatland unterschreiben, haben nichts mit ihren tatsächlichen Jobs
in Katar zu tun. Die Aufsichtsbehörde hat zwar mehr Mittel zur Verfügung,
aber die 365 Arbeitsinspektoren, die für 2 Millionen Arbeitnehmer zuständig
sind, verfügen lediglich über zehn Übersetzer – dabei spricht die
überwiegende Mehrheit der Ausländer kein Arabisch.“
Die Macht der ILO hat natürlich Grenzen; ihre Empfehlungen und
Stellungnahmen sind nicht bindend, und keine Regierung kann dazu gezwungen
werden, die Arbeits- und Sozialstandards der ILO umzusetzen. Es gibt jedoch
nur wenige Regierungen, denen die Meinung dieser UN-Sonderorganisation
völlig gleichgültig ist. Katar ist da keine Ausnahme: Das Emirat entsandte
20 Regierungsvertreter zur Sitzung des ILO-Verwaltungsrats am 17. März, um
möglichst viele seiner Mitglieder davon zu überzeugen, dass das Verfahren
gegen Katar einzustellen sei. Schließlich kam der Golfstaat mit einer
Fristverlängerung um ein Jahr davon, um das Gesetzesvorhaben zum Schutz der
Arbeitsmigranten endlich umzusetzen.
Am 22. April 2016 verkündete der neue Fifa-Präsident Gianni Infantino die
Einrichtung eines „Aufsichtsgremiums zur Kontrolle der Behörden vor Ort, um
ordnungsgemäße Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die WM-Stadien
sicherzustellen“. Ob dieser Vorstoß und die Androhung einer
Untersuchungskommission ausreichen werden, um die Arbeitsbedingungen in
Katar zu verbessern, ist jedoch fraglich. Denn das Emirat ist nicht nur
unermesslich reich, es besitzt auch mächtige westliche Verbündete, die auf
fossile Treibstoffe angewiesen sind und für lukrative Vertragsabschlüsse zu
vielem bereit sind.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
9 Jun 2016
## LINKS
[1] http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/qatar_de_web-2.pdf
## AUTOREN
David Garcia
## TAGS
Fußball-WM 2022
Katar
Arbeitsmigration
Fußball
Gewerkschaft
Indien
Nepal
Lesestück Meinung und Analyse
Arbeiterklasse
Fußball-WM
Indien
Lesestück Recherche und Reportage
Fahrrad
Zahir Belounis
Bahrain
Theo Zwanziger
Fußball
Fußball
## ARTIKEL ZUM THEMA
Arbeitsmigrant über Katar: „Ich werde die WM gucken“
Als Wachmann auf dem Bau hat der Kenianer Malcolm Bidali die schlimmen
Arbeitsbedingungen in Katar selbst erlebt. Heute kämpft er für
Verbesserungen.
Arbeiter über Zustände auf WM-Baustellen: „Über Menschenrechte sprechen“
Krishna Shrestha hat als Wanderarbeiter in Katar gearbeitet und das Migrant
Workers Network gegründet. Für einen Vortrag kommt er ins
Millerntorstadion.
Kolumne Über Ball und die Welt: Südasienmeister? Na und?
Die U17-Weltmeisterschaft in Indien ist nur der Anfang. Auch an eine
Fußball-WM auf dem Subkontinent wird schon gedacht.
Fußball-WM 2022 in Katar: Der Druck zeigt langsam Wirkung
Die Unterbringung von Arbeitern, die Sicherheit auf Baustellen und die
Freizügigkeit werden besser. Doch die Mängelliste in Katar bleibt lang.
Straßenrad-WM in Katar: Ganz vorn dank Heizlüfter
Bei der Straßenrad-WM in Katar leiden die Profis unter den extremen
Temperaturen. Das Event mutiert zu einer Art Kühltechnikmesse.
Ex-Fußballer konnte Katar nicht verlassen: „Sie haben mein Leben zerstört“
Fünf Jahre lang hielt ein Club den Ex-Fußballprofi Zahir Belounis in Katar
gefangen. Nun fällt es ihm schwer, wieder Fuß zu fassen.
Bahrain geht gegen schiitische Partei vor: Angebliche Gefahr fürs Königshaus
Mit zunehmender Härte gehen die Machthaber von Bahrain gegen die politische
Opposition vor. Angeblich ist die Sicherheit des Königshauses in Gefahr.
Theo Zwanziger gewinnt gegen Katar: Stammplatz vor Gericht
Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger darf Katar als Krebsgeschwür des
Weltfußballs bezeichnen. Weitere Ermittlungen und eine Klage laufen.
Bericht von Amnesty International: Ausbeutung auf Katars WM-Baustellen
Die hässliche Seite der WM-Vorbereitungen in Katar: In einem Bericht
spricht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International von
„systematischer Ausbeutung“.
Arbeiter auf WM-Baustellen in Katar: „Leider muss ich auch schlafen“
Wie hart ist der Alltag der Arbeitsmigranten? Wie leben sie? Eine Reportage
aus Katar, dem Austragungsort der Fußball-WM 2022.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.