| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Leibeigenen von Katar | |
| > Südasiatische Migranten schuften auf den Baustellen für die Fußball-WM | |
| > 2022. Sie arbeiten unter Lebensgefahr, für einen Hungerlohn und sind | |
| > rechtlos. | |
| Bild: Hoffentlich überleben sie die Arbeit auf der WM-Baustelle | |
| Unser Konvoi fährt heimlich los, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei zu | |
| erregen – sie hat ein Auge auf Neugierige, die sich zu sehr für das | |
| Schicksal der ausländischen Arbeitskräfte interessieren. An der Biegung | |
| eines staubigen Wegs tauchen aus dem Dunkel Baracken auf. Mit den | |
| unverputzten Fassaden und dem überall herumliegenden Schutt sieht das | |
| „Arbeitercamp“ eher wie ein Slum aus. Hier in ar-Rayyan, der zweitgrößten | |
| Stadt des Emirats Katar, sollen 2022 im Stadion Ahmed bin Ali mehrere | |
| Spiele der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen werden. | |
| Wir sind unterwegs mit einer Delegation der internationalen Bau- und | |
| Holzarbeiter-Gewerkschaft (BHI). Im Camp werden wir von etwa einem Dutzend | |
| indischer und nepalesischer Arbeiter empfangen, die auf dieser Baustelle | |
| beschäftigt sind. In ihrer winzigen, neun Quadratmeter großen Unterkunft | |
| stehen acht Stockbetten mit schmutzigen, durchgelegenen Matratzen. „Wir | |
| haben seit vier Monaten keinen Lohn bekommen“, berichten sie. Da sie über | |
| keine weiteren Mittel verfügen und ihre Grundbedürfnisse decken müssen, | |
| verschulden sie sich zu Wucherzinsen bei den örtlichen | |
| Lebensmittelhändlern, die ebenso skrupellos sind wie ihre Arbeitgeber. | |
| Neben diesen Schulden müssen sie auch noch die Kredite zurückzahlen, die | |
| sie aufgenommen haben, um die illegale „Vermittlungsgebühr“ zu bezahlen: | |
| Die Agentur in ihrem Heimatland hat Geld verlangt, um den Kontakt zu den | |
| Arbeitgebern am Golf vermitteln. Was an dann noch übrig bleibt, schicken | |
| die Arbeiter an ihre Familien daheim. | |
| Rajiv V. (die Vornamen wurden geändert, Anm. d. Red.) stammt aus dem | |
| indischen Bundesstaat Westbengalen und arbeitet seit 15 Monaten in Katar. | |
| Der etwa 30-jährige Zimmermann spart die Hälfte seines Monatslohns (300 | |
| Euro) für seine Ehefrau, die den gemeinsamen Sohn allein aufzieht. Nach | |
| Angaben der katarischen Regierung sollen die Arbeitsmigranten im Emirat | |
| allein im Jahr 2014 über 10,7 Milliarden Euro in ihre Heimatländer | |
| zurücküberwiesen haben. Die wenigen Freizeitangebote können sie sich | |
| ohnehin nicht leisten – oder ihnen ist der Zugang faktisch verboten: „In | |
| vielen Teilen Dohas dürfen sich Wanderarbeitskräfte nicht aufhalten, | |
| wodurch sie in ihrer Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt sind“, | |
| [1][heißt es im neuesten Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbunds | |
| (IGB)]. Diese als „Familienareale“ bezeichneten Tabuzonen seien auf den | |
| Karten, die von der katarischen Regierung verteilt werden, genau | |
| ausgewiesen. | |
| Folgerichtig werden die Arbeiter in Randgebiete abgeschoben, die weit von | |
| ihrem Arbeitsort entfernt liegen; inklusive Bustransfer sind sie 13 Stunden | |
| am Tag auf den Beinen. Ihr Gemeinschaftsleben beschränkt sich auf | |
| sporadische Treffen der jeweiligen Exilgemeinde: „Unsere Kollegen | |
| organisieren jeweils am 18. Dezember, dem internationalen Tag der | |
| Migranten, ein großes Fest der nepalesischen Gemeinde. So können wir unter | |
| dem Deckmantel eines Kulturfestes alle Beschäftigten versammeln“, sagt | |
| Binda Pandey, Leiterin des Dachverbands der nepalesischen Gewerkschaften | |
| (Gefont) und Mitglied des Verwaltungsrats der Internationalen | |
| Arbeitsorganisation (ILO). Wie in allen Golfstaaten – mit Ausnahme von | |
| Kuwait und Bahrain – sind in Katar Gewerkschaften verboten. | |
| ## Keine Rechte, kein Pass | |
| Die insgesamt 2 Millionen ausländischen Arbeitskräfte in Katar, die 90 | |
| Prozent der Bevölkerung ausmachen unterliegen dem Kafala-System, das die | |
| Arbeitnehmer unter Kuratel eines „Paten“, also ihres Arbeitgebers, stellt. | |
| Angewandt wird das Kafala-System auf der gesamten Arabischen Halbinsel, von | |
| den Vereinigten Arabischen Emiraten über Kuwait bis Saudi-Arabien. | |
| In Katar baut eine riesige Arbeiterarmee an sechs von sieben Wochentagen, | |
| winters wie sommers, bei Temperaturen von bis zu 50 Grad, die Stadien für | |
| die Fußballweltmeisterschaft 2022. Während ihres Aufenthalts in Katar sind | |
| die ausländischen Arbeiter praktisch rechtlos: Ihr Lohn wird sehr spät oder | |
| gar nicht ausgezahlt, ihre Wohnheime sind baufällig und unhygienisch, sie | |
| dürfen ohne Zustimmung des Arbeitgebers nicht den Job wechseln, und ihr | |
| Pass wird eingezogen; um das Land verlassen zu können, benötigen sie die | |
| Erlaubnis ihres Chefs. | |
| 88 Arbeitsmigranten auf der Baustelle des Khalifa-Stadions in Doha | |
| bestätigten in einer Umfrage von Amnesty International, dass sie nicht das | |
| Recht haben, Katar zu verlassen. Sogar nach den Erdbeben im April und Mai | |
| 2015 wurden sieben Nepalesen daran gehindert, in ihr Heimatland | |
| zurückzukehren, um nach ihren Angehörigen zu sehen. Das Verbot zur Ausreise | |
| kam von der Arbeitsagentur Seven Hills, die unter anderem dem malaysischen | |
| Konzern Eversendai billiges und grenzenlos einsatzfähiges Personal für die | |
| Bauarbeiten am Khalifa-Stadion vermittelt. | |
| Der IGB, ebenso wie Human Rights Watch und Amnesty International, | |
| verurteilen das herrschende Arbeitsrecht im Emirat als | |
| Quasileibeigenschaft. „Bis zum ersten Anpfiff bei der WM ist mit dem Tod | |
| von über 7000 Wanderarbeitskräften zu rechnen“, warnt die | |
| IGB-Generalsekretärin Sharam Burrow. | |
| ## Tod durch Verdursten | |
| Von solch alarmierenden Zahlen will die katarische Regierung nichts wissen: | |
| „Bis heute hat es keinen einzigen Todesfall in Zusammenhang mit den | |
| Infrastrukturvorhaben für die Weltmeisterschaft gegeben“, hieß es in einer | |
| offiziellen Stellungnahme vom Juni 2015. Das katarische | |
| WM-Organisationskomitee hat jedoch erst jüngst zwei „natürliche | |
| Todesfälle“ durch Herzversagen eingeräumt: Ein 52-jähriger Maler aus | |
| Indien, der auf der Baustelle des Khalifa International Stadiums gearbeitet | |
| hatte, sei im Oktober 2015 an einem Herzinfarkt gestorben. Anfang 2016 sei | |
| zudem ein 55-jähriger Fahrer mit Herzproblemen, ebenfalls aus Indien, trotz | |
| intensivmedizinischer Behandlung verstorben. Die Botschaften von Indien, | |
| Bangladesch und Nepal haben im Verlauf der letzten zwei Jahre aber bereits | |
| 900 Todesfälle erfasst; bei der Hälfte davon wurden ein plötzlicher | |
| Herzinfarkt oder unbekannte Gründe als Todesursache angegeben. | |
| Ramachandra Kuntia, Vizepräsident der BHI und ehemaliger Abgeordneter der | |
| indischen Kongresspartei, macht für diese Todesfälle die außergewöhnlich | |
| harten Arbeitsbedingungen verantwortlich: „Zahlreiche Arbeitskräfte sind in | |
| Privathaushalten beschäftigt, wo sie die Toilette nicht benutzen dürfen. | |
| Auch bei extremer Hitze trinken sie deshalb von morgens bis abends keinen | |
| Tropfen, und manche sterben an Dehydrierung. Der Arzt stellt dann einen | |
| natürlichen Tod fest, und die Familie der Toten erhält keinerlei | |
| Entschädigung.“ | |
| Als die Bilder aus den schmutzigen Arbeiterlagern öffentlich gemacht | |
| wurden, war die katarische Regierung um ihren Ruf besorgt und versprach im | |
| Mai 2014 erstmals, das Kafala-System zu reformieren. Am 27. Oktober 2015 | |
| erließ Emir Scheich Tamim bin Hamad al-Thani schließlich ein neues Gesetz, | |
| das jedoch erst am 1. Januar 2017 in Kraft treten soll. Der Begriff „Pate“, | |
| der inzwischen als Synonym für schlechte Behandlung steht, wurde durch den | |
| unverfänglicheren Terminus „Arbeitgeber“ ersetzt. | |
| Künftig braucht ein Arbeitnehmer keine Genehmigung des Arbeitgebers mehr, | |
| wenn er das Land verlassen will – besonders diese Regelung hatte in | |
| westlichen Medien für Aufregung gesorgt. Ein Ausreiseantrag soll künftig | |
| als angenommen gelten, wenn der Chef nicht innerhalb von drei Tagen sein | |
| Veto einlegt. „Die Einspruchsmöglichkeiten werden zwar etwas verstärkt“, | |
| meint ein in Doha ansässiger europäischer Wirtschaftsanwalt. „Bei einem | |
| derart einseitig an den Interessen der Arbeitgeber ausgerichteten | |
| Arbeitsrecht wird die Ausbeutung aber so bald nicht aufhören.“ | |
| ## Ohne Bankkonto keine Überweisung | |
| Nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate sieht die Reform auch | |
| ein System vor, das den Arbeitnehmern gewisse Garantien bietet, damit in | |
| Zukunft alle ihren Lohn auch tatsächlich erhalten. Jede im Arbeitsvertrag | |
| genannte Summe muss durch eine Überweisung belegt werden. „Dank dieser | |
| Maßnahme werden die Beschäftigten der in Katar ansässigen Unternehmen ihren | |
| Lohn per elektronischer Überweisung innerhalb von maximal sieben Tagen | |
| erhalten“, erklärte das Presseamt der Regierung. Das Problem: Nur sehr | |
| wenige Arbeitsmigranten besitzen überhaupt ein Bankkonto; nach Schätzungen | |
| von NGOs und Gewerkschaften etwa ein Fünftel. | |
| Die Zentralbank von Katar hat den Banken zwar Anweisung gegeben, Konten für | |
| die ausländischen Arbeitskräfte zu eröffnen. Aber die Banken haben es damit | |
| offenbar nicht eilig: „Sie wollen keine Horden von Arbeitern in ihren | |
| Filialen haben und stellen lieber mobile Geldautomaten auf“, sagt der | |
| Wirtschaftsanwalt. Die mittellosen „Horden“ sollen in ihren Behelfslagern | |
| bleiben, fern von den luxuriösen Bankhäusern Dohas, in denen Katarer und | |
| reiche Ausländer verkehren. | |
| Ein weiterer zarter Versuch ist die Reform der | |
| Unbedenklichkeitsbescheinigung (Non Objection Certificate, NOC), die laut | |
| Regierung eine „größere Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer“ garantieren | |
| soll. Wenn ein „Pate“ bislang die Unterschrift unter dieses Dokument | |
| verweigerte, welches dem ausländischen Arbeitnehmer „beispielhaftes“ | |
| Verhalten attestiert, dann musste der Betreffende das Land für mindestens | |
| zwei Jahre verlassen, bevor er wieder dort arbeiten durfte. Der kleine | |
| Fortschritt: Wer das Ende seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit | |
| erreicht hat, braucht diese Bescheinigung künftig nicht mehr vorzulegen, | |
| wenn er weiterhin in Katar bleiben will. | |
| Dasselbe gilt für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, die den | |
| Arbeitgeber wechseln möchten; sie müssen jedoch weiterhin nachweisen, dass | |
| sie bereits seit fünf Jahren für ein Unternehmen tätig sind. | |
| Am 1. November 2015 eröffneten Katars Premierminister Abdullah bin Nasser | |
| bin Khalifa al-Thani und Arbeitsminister Abdullah al-Khulaifi feierlich die | |
| erste „Stadt der Arbeit“: eine Wohnsiedlung, in der 70 000 Arbeitsmigranten | |
| zu angemessenen Bedingungen untergebracht werden sollen. Eine Woche nach | |
| der offiziellen Einweihung treffen wir Jassim al-Thani, den Pressesprecher | |
| der Regierung, zu einem persönlichen Besichtigungstermin. Der junge Mann | |
| aus der Königsfamilie trägt eine elegante Dischdascha und fährt seinen SUV | |
| mit weichen Ledersitzen selbst. Vor der bewachten Einfahrt zur „Stadt der | |
| Arbeit“ treffen wir Zoher D., der uns herumführen soll. Der libanesische | |
| Ingenieur war selbst am Bau der Anlage beteiligt. | |
| ## Die Arbeiterstadt der Zukunft | |
| Die Siedlung, die noch zu drei Vierteln leer steht, ist in einen | |
| Wohnbereich und einen Freizeit- und Konsumbereich unterteilt und ringsum | |
| von hohen Mauern umschlossen. Von zwei Polizeiposten aus patrouillieren | |
| regelmäßig Ordnungskräfte bis in den letzten Winkel der Siedlung. In jedem | |
| Gebäude sitzt ein Wachmann in einem Überwachungsraum mit vier Bildschirmen, | |
| die mit Kameras in den blitzblanken Gemeinschaftsräumen verbunden sind. In | |
| den 24 Quadratmeter großen Zimmern sollen je vier Menschen leben. Alles | |
| scheint perfekt in dieser Arbeiterstadt der Zukunft. Auch das | |
| Einkaufszentrum mit 200 Geschäften steht kurz vor der Eröffnung. | |
| Bis Ende 2017 sollen sechs weitere Wohnkomplexe errichtet werden und | |
| insgesamt 379 000 Menschen aufnehmen. Das ist nicht viel: Hunderttausende | |
| leben in engen und schmutzigen Baracken – und bis zur WM sollen weitere 500 | |
| 000 Arbeitsmigranten nach Katar kommen. | |
| Der philippinische Gewerkschafter Ambet Yuson, Generalsekretär der BHI, | |
| bestätigt, es habe bei der Unterbringung der ausländischen Arbeiter | |
| „Verbesserungen“ gegeben. Doch in Bezug auf Gesamtwirkung der Reform bleibt | |
| er skeptisch: „Das dritte Jahr in Folge schicken wir jetzt eine Delegation | |
| nach Katar, und im Grunde hat sich die Situation der Arbeitsmigranten kaum | |
| verändert.“ | |
| Diese Einschätzung bestätigen auch die etwa 30 indischen Arbeiter, die zu | |
| einem Seminar der BHI ins Hinterzimmer eines Restaurants in Doha gekommen | |
| sind. Die Inder bilden mit 650 000 Arbeitskräften die größte Exilgemeinde | |
| in Katar, gefolgt von den Nepalesen (500 000) und Philippinern (250 000). | |
| Hat die Regierung ihr Versprechen gehalten, den Missbrauch des | |
| Kafala-Systems zu beenden? Skeptisches Gemurmel bei den Zuhörern. Nur acht | |
| der anwesenden Arbeiter sind im Besitz ihres Reisepasses. Die Pässe der | |
| anderen wurden von ihren Arbeitgebern einbehalten. | |
| Ein Arbeiter erhebt sich und zeigt sein Ingenieurdiplom: „Bei der Agentur | |
| in Indien, die mich angeworben hat, habe ich einen Vertrag als Elektriker | |
| unterschrieben. Aber als ich hier ankam, hieß es: ‚Du musst als Klempner | |
| arbeiten‘, für einen Lohn von 900 Riyal – das ist die Hälfte dessen, was | |
| mir zugesichert wurde.“ Der monatliche Durchschnittsverdienst der | |
| anwesenden Arbeiter liegt bei 1115 Katar-Riyal (circa 275 Euro), inklusive | |
| Wohngeld. Das steht in keinem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der | |
| rund 250 000 katarischen Staatsbürger, das auf monatlich 10 800 Euro | |
| geschätzt wird. | |
| ## Tödliche Unfälle auf Baustellen | |
| Die gezahlten Löhne wirken noch lächerlicher, wenn man die Gefahren der | |
| Arbeit berücksichtigt: „Gestern hat sich ein Kollege auf der Baustelle | |
| hinter dem Hotel Mercure den Arm abgeschnitten“, berichtet ein Arbeiter aus | |
| Sri Lanka. Ein anderer zeigt seine Wade, die vor einem halben Jahr von | |
| einer Maschine aufgeschlitzt wurde. Stürze oder Verletzungen durch | |
| Gegenstände oder Fahrzeuge: Nach einem offiziellen katarischen Bericht von | |
| 2012, also vor Baubeginn für die WM, sind 22,8 Prozent der Todesfälle unter | |
| Arbeitsmigranten auf „äußere Ursachen“ zurückzuführen, vor allem auf | |
| Unfälle auf Baustellen. | |
| Die kämpferisch gesinnten Inder kritisieren das Kafala-System, verweisen | |
| aber auch auf die Verantwortung ihrer Unternehmen, zumeist westliche | |
| Konzerne, die sich oft noch unbarmherziger zeigen als das katarische | |
| Gesetz. Einer von ihnen berichtet, dass die Baufirma Qatari Diar Vinci | |
| Corporation (QDVC), ein Tochterunternehmen des französischen | |
| Vinci-Konzerns, die Pässe ihrer Beschäftigten einkassiert hat und sie erst | |
| ein halbes Jahr später auf starken Druck hin zurückgab. Dabei war die | |
| Einbehaltung der Pässe nach katarischem Gesetz zu diesem Zeitpunkt bereits | |
| verboten. | |
| Im März 2015 reichte die französische Nichtregierungsorganisation Sherpa | |
| eine Klage gegen QDVC ein; wegen „Zwangsarbeit“ und „Versklavung“. „D… | |
| Kafala-System schränkt die Bewegungsfreiheit der Arbeiter ein, aber manche | |
| Unternehmen halten noch nicht einmal die Mindestvorschriften ein“, erklärt | |
| die Sherpa-Anwältin Marie-Laure Ghislain. „Vinci hätte sicherstellen | |
| müssen, dass alle seine Beschäftigten, auch diejenigen, die bei | |
| Subunternehmern angestellt sind, über die gleichen Rechte verfügen, die | |
| auch im katarischen Gesetz garantiert sind.“ | |
| Seit der Klageeinreichung hat sich Vinci bereit erklärt, die | |
| Wohnbedingungen eines Teils seiner Beschäftigten in Katar zu verbessern. | |
| Von den 3200 Arbeitern bei QDVC sollen mittlerweile mindestens 2000 in | |
| Zimmern mit höchstens vier Betten wohnen, wie es das katarische Gesetz | |
| vorschreibt. Die 4500 Beschäftigten der Subunternehmen hausen nach Angaben | |
| von Sherpa jedoch weiterhin in miserablen Unterkünften. Zudem soll künftig | |
| keiner der 7700 Arbeitskräfte bei QDVC mehr als 60 Stunden pro Woche | |
| arbeiten – die gesetzlich vorgeschriebene Höchststundenzahl. Allerdings | |
| hatte dies Maßnahme eine Gehaltssenkung von 10 Prozent zur Folge. | |
| ## Privilegierte Ausländer | |
| Das Kafala-System ist nicht für alle ausländischen Arbeitskräfte gleich | |
| bedrohlich. Leitende Angestellte multinationaler Konzerne, Unternehmer, | |
| Anwälte oder Verwaltungsfachleute aus anderen Ländern bilden eine kleine | |
| privilegierte Schicht, die von ihren Arbeitgebern nichts zu befürchten hat. | |
| Der Finanzmanager Andrew M. zum Beispiel würde seinen Posten in Katar für | |
| nichts in der Welt eintauschen. Der joviale Brite lebt und arbeitet seit | |
| sieben Jahren in Doha. Er empfängt uns in Bermuda-Shorts und Sandalen im | |
| Wohnzimmer seiner Villa in West Bay Lagoon, einer Gated Community, in der | |
| wohlhabende Ausländer und einige Katarer wohnen. An den Garten des Hauses | |
| schließt sich ein weitläufiger Park an, ein Spielparadies für die Kinder. | |
| Ein paar Schritte weiter erstreckt sich ein feiner Sandstrand mit Palmen | |
| und einer herrlichen Sicht auf die Bucht von Doha. | |
| „Das ist der beste Wohnkomplex in ganz Katar“, erläutert unser Gastgeber | |
| lächelnd. „Diese Villa kostet 7500 Euro Miete im Monat, sie ist 500 | |
| Quadratmeter groß, dazu kommen Garten und Schwimmbad. Für die Katarer ist | |
| das ein bisschen klein, die wohnen lieber großzügiger, auf 1000 oder 2000 | |
| Quadratmetern.“ Bei einem Monatsgehalt von 30 000 Euro hat der gewandte | |
| 50-Jährige ausgesorgt. | |
| Wie erlebt er das Kafala-System? „Ich habe das Glück, ein Visum zur | |
| Mehrfachausreise zu besitzen, damit kann ich das Land verlassen, wann immer | |
| ich will, ohne meinen Arbeitgeber um Erlaubnis fragen zu müssen.“ Dieses | |
| Privileg genießen nur ein paar tausend Ausländer, meist aus dem Westen. Sie | |
| stehen unter Schutz der großen Konzerne, bei denen sie angestellt sind. Die | |
| Ausstellung der Unbedenklichkeitsbescheinigung ist für sie eine reine | |
| Formsache. | |
| ## Schutz durch Kafala | |
| Teilweise sind aber auch wohlhabende Ausländer von der Willkür des | |
| Kafala-Systems betroffen – vor allem wenn sie allein und ohne Unterstützung | |
| einem allmächtigen „Paten“ gegenüberstehen: Said F. verdient als Ingenieur | |
| beim katarischen Bauunternehmer Midmac 7400 Euro im Monat, ein gutes | |
| Gehalt. Doch der 40-jährige Libanese lässt kein gutes Haar an dem | |
| „unmenschlichen“ Kafala-System: „Ich erwarte keine großen Veränderungen. | |
| Reform hin oder her, meine Bewegungsfreiheit bleibt eingeschränkt.“ Auch | |
| wenn er nach dem neuen Gesetz keine Unbedenklichkeitsbescheinigung mehr | |
| bräuchte, da er bereits seit über zehn Jahren in Katar arbeitet, ist der | |
| Ingenieur sicher, dass seine Vorgesetzten ihn niemals gehen lassen würden. | |
| Ein anderer Fall ist der ehemalige Profifußballer Zahir Belounis aus | |
| Frankreich, der fast anderthalb Jahre in Doha festsaß, weil er einem | |
| Transfer an einen anderen Club widersprochen hatte. | |
| Ahmed al-Rayes, Generaldirektor eines Familienunternehmens, verteidigt das | |
| Kafala-System mit großer Verve. Er steht an der Spitze eines Konglomerats | |
| von 37 Firmen mit 1900 Beschäftigten im Wäscherei-, Transport- und | |
| Logistikbereich und ist einer der wenigen katarischen Arbeitgeber, der sich | |
| traut, seinen Standpunkt offen darzulegen: „Die Kafala abzuschaffen wäre | |
| gefährlich. Manche ausländischen Arbeiter könnten Lust bekommen, mich zu | |
| töten. Die Morde an Katarern und die Diebstähle würden sprunghaft | |
| ansteigen. Vergessen Sie nicht, dass die Ausländer mehr als 90 Prozent der | |
| Bevölkerung ausmachen. Kaum ein Katarer will das Kafala-System wirklich | |
| abschaffen oder reformieren. Nicht weil sie sich als Sklavenhalter | |
| verstehen, sondern weil sie vorsichtig sind.“ Kein Wunder, dass al-Rayes | |
| die Zulassung von Gewerkschaften vehement ablehnt: „Wenn ein Angestellter | |
| ein Problem mit seinem Arbeitgeber hat, dann kann er beim Gericht Klage | |
| erheben.“ | |
| In einem Land, in dem man für jede Kritik am Emir im Gefängnis landen kann, | |
| ist es schwer, die wahre Meinung der Bürger zu erfahren. Selbst einfache | |
| Aussagen, die kein negatives Urteil enthalten und in offiziellem | |
| Zusammenhang fallen, können den Sprecher hinter Gitter bringen. Erst im | |
| März 2016 wurde ein katarischer Beamter verhaftet, weil er mit einer | |
| ILO-Delegation „zu viel geredet“ hatte. | |
| „Unser Gesetzgebungsprozess berücksichtigt alle unterschiedlichen | |
| Standpunkte“, heißt es in einer Erklärung des Regierungssprechers. „Die | |
| Reform des Kafala-Systems wurde im Ministerrat vorgestellt und am 28. Juni | |
| 2015 der Beratenden Versammlung (Madschlis al-Schura) zur Stellungnahme | |
| vorgelegt.“ Der Emir trifft die Entscheidung als oberste Instanz – und muss | |
| er berücksichtigen, dass die Arbeitgeberseite jede Reform einhellig | |
| ablehnt. Gewichtige Unterstützung erhält sie von der Madschlis al-Schura, | |
| die sogar vorschlug, das Kafala-System noch zu verschärfen. Nach Meinung | |
| der Versammlung sollten Arbeitsmigranten, die ihren Arbeitgebern | |
| „Schwierigkeiten machen“ oder versuchen, das Unternehmen vor Ablauf ihres | |
| Vertrags zu verlassen, dazu gezwungen werden, mindestens das Doppelte der | |
| ursprünglichen Vertragslaufzeit für ihre „Paten“ zu arbeiten, bevor sie d… | |
| Arbeitgeber wechseln dürften. | |
| ## Gute Absichten vorgetäuscht | |
| Im November 2015 beschloss der ILO-Verwaltungsrat, eine „hochrangige | |
| Delegation“ nach Katar zu schicken, um den Druck auf die Regierung zu | |
| erhöhen. Dieser Beschluss fiel, nachdem der IGB eine Klage wegen | |
| Zwangsarbeit eingereicht hatte. Es ist das erste Mal seit 2001, dass sich | |
| der Verwaltungsrat der ILO mehrheitlich zur Entsendung einer | |
| Kontrollmission in ein Land entscheidet, das unter Verdacht steht, | |
| internationale Arbeitsstandards zu missachten. „Die ILO hat sich nicht | |
| irreführen lassen vom Manöver der katarischen Regierung, ein paar Tage vor | |
| der Abstimmung eine Minireform zu verabschieden, um gute Absichten | |
| vorzutäuschen und gleichzeitig die rückschrittlichsten Prinzipien des | |
| Kafala-Systems beizubehalten“, erläutert Bernard Thibault, ehemaliger | |
| Generalsekretär der französischen Gewerkschaft CGT und Mitglied im | |
| ILO-Verwaltungsrat. | |
| Vom 1. bis 5. März 2016 wurde eine „Drei-Parteien-Delegation“ der ILO mit | |
| Vertretern der drei Gruppen im Verwaltungsrat (Staaten, Arbeitgeber und | |
| Arbeitnehmer) von den höchsten Amtsträgern Katars empfangen, jedoch nicht | |
| vom Emir selbst. Nur drei Tage bevor die Delegation die Baustelle der neuen | |
| Metro in Doha besuchte, war Juanito Pardillo, ein philippinischer Arbeiter | |
| der Firma Qatar Rail, auf einer Tunnelbaustelle gestorben. | |
| „Der Bericht der Delegation belegte – falls es dafür noch eines Beweises | |
| bedurft hätte –, dass die sogenannte Reform die Situation der Beschäftigten | |
| nicht verbessert hat“, sagt Thibault. „Die Vermittlungsgebühr wird immer | |
| noch von den Arbeitsmigranten selbst bezahlt, und die Verträge, die sie in | |
| ihrem Heimatland unterschreiben, haben nichts mit ihren tatsächlichen Jobs | |
| in Katar zu tun. Die Aufsichtsbehörde hat zwar mehr Mittel zur Verfügung, | |
| aber die 365 Arbeitsinspektoren, die für 2 Millionen Arbeitnehmer zuständig | |
| sind, verfügen lediglich über zehn Übersetzer – dabei spricht die | |
| überwiegende Mehrheit der Ausländer kein Arabisch.“ | |
| Die Macht der ILO hat natürlich Grenzen; ihre Empfehlungen und | |
| Stellungnahmen sind nicht bindend, und keine Regierung kann dazu gezwungen | |
| werden, die Arbeits- und Sozialstandards der ILO umzusetzen. Es gibt jedoch | |
| nur wenige Regierungen, denen die Meinung dieser UN-Sonderorganisation | |
| völlig gleichgültig ist. Katar ist da keine Ausnahme: Das Emirat entsandte | |
| 20 Regierungsvertreter zur Sitzung des ILO-Verwaltungsrats am 17. März, um | |
| möglichst viele seiner Mitglieder davon zu überzeugen, dass das Verfahren | |
| gegen Katar einzustellen sei. Schließlich kam der Golfstaat mit einer | |
| Fristverlängerung um ein Jahr davon, um das Gesetzesvorhaben zum Schutz der | |
| Arbeitsmigranten endlich umzusetzen. | |
| Am 22. April 2016 verkündete der neue Fifa-Präsident Gianni Infantino die | |
| Einrichtung eines „Aufsichtsgremiums zur Kontrolle der Behörden vor Ort, um | |
| ordnungsgemäße Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die WM-Stadien | |
| sicherzustellen“. Ob dieser Vorstoß und die Androhung einer | |
| Untersuchungskommission ausreichen werden, um die Arbeitsbedingungen in | |
| Katar zu verbessern, ist jedoch fraglich. Denn das Emirat ist nicht nur | |
| unermesslich reich, es besitzt auch mächtige westliche Verbündete, die auf | |
| fossile Treibstoffe angewiesen sind und für lukrative Vertragsabschlüsse zu | |
| vielem bereit sind. | |
| Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
| 9 Jun 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/qatar_de_web-2.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| David Garcia | |
| ## TAGS | |
| Fußball-WM 2022 | |
| Katar | |
| Arbeitsmigration | |
| Fußball | |
| Gewerkschaft | |
| Indien | |
| Nepal | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Arbeiterklasse | |
| Fußball-WM | |
| Indien | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Fahrrad | |
| Zahir Belounis | |
| Bahrain | |
| Theo Zwanziger | |
| Fußball | |
| Fußball | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Arbeitsmigrant über Katar: „Ich werde die WM gucken“ | |
| Als Wachmann auf dem Bau hat der Kenianer Malcolm Bidali die schlimmen | |
| Arbeitsbedingungen in Katar selbst erlebt. Heute kämpft er für | |
| Verbesserungen. | |
| Arbeiter über Zustände auf WM-Baustellen: „Über Menschenrechte sprechen“ | |
| Krishna Shrestha hat als Wanderarbeiter in Katar gearbeitet und das Migrant | |
| Workers Network gegründet. Für einen Vortrag kommt er ins | |
| Millerntorstadion. | |
| Kolumne Über Ball und die Welt: Südasienmeister? Na und? | |
| Die U17-Weltmeisterschaft in Indien ist nur der Anfang. Auch an eine | |
| Fußball-WM auf dem Subkontinent wird schon gedacht. | |
| Fußball-WM 2022 in Katar: Der Druck zeigt langsam Wirkung | |
| Die Unterbringung von Arbeitern, die Sicherheit auf Baustellen und die | |
| Freizügigkeit werden besser. Doch die Mängelliste in Katar bleibt lang. | |
| Straßenrad-WM in Katar: Ganz vorn dank Heizlüfter | |
| Bei der Straßenrad-WM in Katar leiden die Profis unter den extremen | |
| Temperaturen. Das Event mutiert zu einer Art Kühltechnikmesse. | |
| Ex-Fußballer konnte Katar nicht verlassen: „Sie haben mein Leben zerstört“ | |
| Fünf Jahre lang hielt ein Club den Ex-Fußballprofi Zahir Belounis in Katar | |
| gefangen. Nun fällt es ihm schwer, wieder Fuß zu fassen. | |
| Bahrain geht gegen schiitische Partei vor: Angebliche Gefahr fürs Königshaus | |
| Mit zunehmender Härte gehen die Machthaber von Bahrain gegen die politische | |
| Opposition vor. Angeblich ist die Sicherheit des Königshauses in Gefahr. | |
| Theo Zwanziger gewinnt gegen Katar: Stammplatz vor Gericht | |
| Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger darf Katar als Krebsgeschwür des | |
| Weltfußballs bezeichnen. Weitere Ermittlungen und eine Klage laufen. | |
| Bericht von Amnesty International: Ausbeutung auf Katars WM-Baustellen | |
| Die hässliche Seite der WM-Vorbereitungen in Katar: In einem Bericht | |
| spricht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International von | |
| „systematischer Ausbeutung“. | |
| Arbeiter auf WM-Baustellen in Katar: „Leider muss ich auch schlafen“ | |
| Wie hart ist der Alltag der Arbeitsmigranten? Wie leben sie? Eine Reportage | |
| aus Katar, dem Austragungsort der Fußball-WM 2022. |