# taz.de -- Abzug aus Afghanistan: Feigheit vor den Freunden | |
> Die Ortskräfte mussten zusehen, wie der letzte deutsche Soldat | |
> Afghanistan verlässt. Sie selbst bleiben ihrem Schicksal und den Taliban | |
> überlassen. | |
Bild: Wir sind dann mal weg. Die letzten Bundeswehrsoldaten kurz vor dem Abflug… | |
Logistik kann die Bundeswehr. Trotz des hastigen Abzugs nach der | |
überraschenden Ankündigung der US-Regierung zum schnellen Ende der | |
Afghanistanmission gelangen Teilerfolge: Neben der Ausrüstung wurde ein 27 | |
Tonnen schwerer Gedenkstein für die 53 getöteten Bundeswehrsoldaten | |
ausgeflogen, mehr als [1][22.000 Liter alkoholische Getränke] dem Zugriff | |
der Taliban entzogen. Deutsche Soldaten hatten so schnell nicht austrinken | |
können, wie man abziehen musste. | |
Afghanen, die für die Deutschen als [2][sogenannte Ortskräfte] gearbeitet | |
haben, hätten gern von der Fürsorge profitiert, die dem deutschen Dosenbier | |
widerfahren ist. Der letzte Flieger hat vor wenigen Tagen abgehoben – ohne | |
die afghanischen Ortskräfte an Bord, die die Rache der Taliban fürchten | |
müssen. Um die Fürsorge für die Unterstützer*innen, ohne die der deutsche | |
Einsatz unmöglich gewesen wäre, ist es deutlich weniger gut bestellt als um | |
die Abzugslogistik. | |
[3][„Mission accomplished“] dröhnte wie einst George Bush Bundeswehrgeneral | |
Ansgar Meyer. Man kann sich den Gemütszustand der Zurückgelassenen | |
vorstellen. Selbst diejenigen, die in den letzten Monaten eine deutsche | |
Aufnahmezusage erhalten haben, sitzen noch in Afghanistan fest. Sie sollen | |
sich ihr Flugticket ab Kabul selbst beschaffen. Wie nur? | |
Für die Menschen, die im Norden leben, wird der Versuch, Kabul zu | |
erreichen, immer gefährlicher. Ortskräfte berichten, dass sie angesichts | |
des Vordringens der Taliban abtauchen mussten, ihre Häuser nicht mehr | |
verlassen oder sich von Angehörigen trennen, um sie nicht zusätzlich zu | |
gefährden. Erste Gerüchte, wer schon getötet wurde, machen die Runde. Das | |
Phlegma in Sachen zügiger Hilfe hat indes nicht die Bundeswehr zu | |
verantworten. Die Parlamentsarmee ist angewiesen auf Beschlüsse von | |
Regierung und Parlament. | |
Doch weder die Parlamentsmehrheit noch die zuständigen Ministerien trugen | |
dem Ernst der Lage Rechnung. Stattdessen dröselten die | |
Parlamentarier*innen in den letzten Tagen vor der Sommerpause an | |
Interpretationen des Aufnahmeprogramms herum, und von der SPD kam die | |
Forderung an den Bund, die Kosten für die Flugtickets zu übernehmen, als | |
sei das in der zugespitzten Lage die entscheidende Frage. Und ja: Es muss | |
über den Afghanistaneinsatz und seine Folgen diskutiert werden. | |
Jetzt aber gilt es, zuallererst die zu retten, die mit dem Schlimmsten zu | |
rechnen haben. Trotz der Eile wäre es möglich gewesen, den größten Teil der | |
Ortskräfte, etwa mit einem Shuttle über Georgien, wie im Falle der | |
abrückenden deutschen Soldaten, außer Landes zu bringen. Während in den USA | |
der Begriff der Evakuierung kein Tabu mehr ist, hat man sich hierzulande | |
für die postheroische Variante des „Germany First!“ entschieden. Noch | |
rechtzeitig vor den Amerikanern draußen sein hatte höchste Priorität. | |
Das Gerede des kommandierenden Generals, man könne das Camp und den | |
Flughafen noch bis zum Abzug verteidigen, galt der Beruhigung der | |
Bevölkerung. Tatsächlich ging es nur darum, dass es keine deutschen Opfer | |
mehr geben sollte. Der Rest, so die klare Erkenntnis, ist eine | |
innerafghanische Angelegenheit, für die Ortskräfte im Norden aber eine des | |
Überlebens. | |
Die Organisation des Abzugs war Feigheit vor Freunden, allerdings nicht als | |
Versagen der Armee, sondern als politisch verordnete Untätigkeit. | |
Ausschlaggebend war die Befürchtung, man müsse für den fehlgeschlagenen | |
Afghanistaneinsatz über die Ortskräfte hinaus einen Preis zahlen, wenn | |
weitere Menschen das Land verlassen und in Deutschland Schutz suchen. | |
Da tönte der Kampfbegriff der „Sogwirkung“ selbst aus dem | |
Bundesentwicklungsministerium, das sonst meist die fürsorgliche Rolle in | |
Sachen Fluchtursachenbekämpfung übernimmt. „Afghanen im Anmarsch“ – war… | |
spielt im Wahlkampfsommer keine Rolle. Die in der Sache gutwillige | |
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte sich faulen | |
Kompromissen zu beugen, die der Öffentlichkeit als pure Großzügigkeit | |
verkauft wurden. Zynisch zusammengefasst: | |
## Sorge vor „Sogwirkung“ | |
Die Zahl derer, die theoretisch in Deutschland aufgenommen werden könnten, | |
ist etwas größer geworden. Das Nähere bestimmt in der Praxis das | |
Bundesinnenministerium. Oder das weitere [4][Vordringen der Taliban]. | |
Verbündete, die infolge ihrer Tätigkeit für Deutschland bedroht sind, in | |
Lebensgefahr zurückzulassen, ist eine Schande. Die hastige Verabschiedung | |
von den Ortskräften ist Wasser auf die Mühlen der Taliban, die den | |
Deutschen gegenüber einen gönnerhaften Zynismus an den Tag legen. | |
„Da ihr sichtbar abzieht, wollen wir euch jetzt nicht länger belästigen“, | |
so der Tenor einer ihrer Verlautbarungen vor dem Abzug. Die Tricksereien | |
der letzten Wochen müssen aufhören. Ortskräfte berichten, wie übel ihnen | |
mitgespielt wurde, indem ihnen etwa dubiose Hinweise zum Aufnahmeprogramm | |
samt nicht funktionierenden E-Mail-Adressen in die Hand gedrückt wurden. | |
Dem zynischen Umgang sind vor allem die Mitarbeiter*innen ziviler | |
Firmen ausgesetzt, die für die Bundeswehr tätig waren. | |
Entgegen der öffentlich verkündeten Absicht, in Ausnahmefällen zu helfen, | |
ist bislang kein Fall bekannt, in dem Aufnahme gewährt wurde. Auch | |
diejenigen, die militärische und zivile Einrichtungen für das deutsche | |
Kontingent gebaut haben, vom Munitionsdepot bis hin zur Kirche, sind in | |
Gefahr. Der Afghanistaneinsatz war wie kaum ein anderer ein Krieg der | |
Subunternehmer. Die deutschen Endabnehmer müssen für den Schutz ihrer | |
Helfer*innen einstehen. | |
Die Taliban jedenfalls werden nicht nach dem Arbeitsvertrag fragen, wenn | |
sie die vermeintlichen Verräter*innen ins Visier nehmen. Es darf keine | |
Zeit mehr vergeudet werden. Die Ortskräfte müssen jetzt ausgeflogen werden. | |
Noch ist der Flughafen von Masar-i-Scharif offen. | |
4 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/afghanistan-bundeswehr-… | |
[2] /Afghanische-Ortskraefte-der-Bundeswehr/!5772109 | |
[3] /Bundeswehr-Abzug-aus-Afghanistan/!5779297 | |
[4] /Afghanistan-unter-der-Taliban-Herrschaft/!5767398 | |
## AUTOREN | |
Bernd Mesovic | |
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