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# taz.de -- Globale Wende in der Weltpolitik: Hybris und weiße Ruinen
> Das Scheitern des War on Terror markiert einen Schritt zur
> Dekolonisierung von Weltpolitik. Doch die Militarisierung des Denkens
> bleibt.
Bild: Soldaten der Bundeswehr nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan am 30. Juni …
So sieht das Ende einer Ära aus: Die Nato verlässt [1][Afghanistan];
Frankreich kündigt den Abzug seiner Spezialkräfte („Operation Barkhane“)
aus [2][Mali] an. Wir können die volle Bedeutung dieser Rückzüge erst
begreifen, wenn wir sie im Rahmen jenes Umbruchs betrachten, der unsere
Epoche prägt: Europa und US-Amerika haben immer weniger die Kraft, den Lauf
der Dinge auf der Welt zu bestimmen.
Das Scheitern des [3][War on Terror] markiert diese globale Wende besonders
deutlich, denn in kaum eine andere westliche Strategie wurden in diesem
Jahrhundert solche immensen Mittel investiert. Zugleich wurden wir über die
Jahre Zeugen des sukzessiven Verfalls von zwei Annahmen, die trotz ihrer
grotesken Selbstbezüglichkeit einmal weithin geteilt wurden.
Die erste Annahme lautete: Die Terroristen führen einen Krieg gegen den
Westen, weil sie dessen Lebensstil und Freiheitsliebe hassen. Vom Podest
dieser Bedrohtheit aus reklamierte der Westen ein globales
Interventionsrecht. Letzteres wurde gesalbt durch die zweite Annahme: Wir
sind die Guten, unsere Gewalt ist legitim, sie rettet, sie schafft Ordnung.
Längst wissen wir: Auf den allermeisten Schauplätzen ist Dschihadismus kein
Krieg gegen den Westen.
Die Opferzahlen sind eindeutig; wo immer Terror wütet, sterben vor allem
Muslime – anders gesagt: Nicht-Weiße. Es handelt sich vorwiegend um einen
Krieg, der innerhalb der muslimischen Welt ausgetragen wird. Dass der
politische Islam im 19. Jahrhundert einmal als eine Art Abwehr-Identität
gegenüber einem übermächtig wirkenden Europa entstand, das versteht man
heute nur in der Rückblende. So bedeutend sind wir nicht mehr.
Was nun die Legitimität der Gewalt betrifft: Dieser Tage verstarb
[4][Donald Rumsfeld], als US-Verteidigungsminister die treibende Gestalt
bei der Erfindung des War on Terror, der Kriege in Afghanistan und im Irak.
Weder für den dort inszenierten Staatszerfall noch für die Folterungen in
[5][Abu Ghraib] wurde Rumsfeld je zur Rechenschaft gezogen.
Zum Kennzeichen des War on Terror wurde eine Kultur der Straflosigkeit, die
General-Immunität einer Seite, wie sie aus kolonialen Zeiten bekannt ist.
Die Invasion im Irak hatte mindestens 150.000 zivile Tote zur Folge; so die
konservative Schätzung einer offiziellen britischen Kommission; andere
Studien kamen auf nahezu eine Million Tote. Durch den Krieg des Westens
starben zigfach mehr Menschen als durch jene, die man zu bekämpfen
gedachte.
## Die Kriegstreiber gingen straflos aus
Dennoch galt es als geradezu irre, die Verantwortlichen der Invasion,
[6][Bush] und [7][Blair], wegen Kriegsverbrechen in Den Haag anzuklagen.
Die Kultur der Straflosigkeit prägt bis heute Frankreichs Haltung in Mali.
Als die Spezialkräfte halbwüchsige Hirten bombardierten, die ihre Rinder zu
einer Wasserstelle trieben, wurde den Teenagern zum Verhängnis, dass sie
Gewehre trugen, um Vögel fürs Abendessen zu schießen.
Es bleibt das Bild des Vaters, der nach den Körperteilen seiner Söhne
sucht, um sie beerdigen zu können. „Neutralisieren“, so nennt Frankreich
das Töten tatsächlicher oder vermeintlicher Dschihadisten. Die Sprache des
totalen Kriegs: Sie hat in Mali nie überzeugt. Den Feind zu einem quasi
außerplanetarischen Wesen zu erklären, mit dem keinesfalls verhandelt
werden darf, das ist zwangsläufig auch hier gescheitert.
Und wie vernebelt sind nun überhaupt die Maßstäbe, nach denen der Westen
die Bedeutung von Toten bemisst! Die EU trainiert in Mali eine Armee, die
im vergangenen Jahr für mehr zivile Opfer verantwortlich war als der
dschihadistische Terror. 160.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen haben
einen Einsatz in Afghanistan durchlaufen: ein gewaltiges Trainingsprogramm
und ein Instrument zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Parallel hat sich das
Meinungspanaroma im politischen Raum beispiellos verengt.
Ein Nein zu Kampfeinsätzen gilt heute als verantwortungslos, obwohl eine
Mehrheit im Wahlvolk solche Einsätze weiter ablehnt. Während das Militär an
seinen Aufgaben scheiterte, gruben sich militarisierte Glaubenssätze ein,
bestens illustriert durch den Umstand, dass sich die Grünen nun für
[8][bewaffnete Drohnen] erwärmen. Welch eine Absurdität: Die Niederlage
militärischer Strategien, auf großer Bühne vor aller Augen aufgeführt,
nutzt nicht dem Anliegen der Zivilität. Warum nicht?
## China wird zum neuen Feindbild
Weil zu wenige das Offensichtliche einklagen. Zwei Jahrzehnte War on Terror
haben das intellektuelle Erbe der Friedensbewegung weitgehend vernichtet.
Wo stehen wir also nun, am Ende dieser Etappe, einem Ende, das weniger
durch Einsicht als durch Erschöpfung herbeigeführt wurde? Global betrachtet
ist die Niederlage des War on Terror ein Schritt zur Dekolonisierung der
Weltpolitik. Aber was diese 20 Jahre uns selbst angetan haben, unserer
Kultur, unserem Denken, das zieht nicht vorüber.
Die obsessive Beschäftigung mit „dem Islam“ hat ein westliches Welt- und
Selbstbild ermöglicht, in dem die Bedrohung drinnen und draußen, daheim und
in der Ferne, identisch zu sein schien. Das Böse war exterritorialen
Ursprungs, es gehörte nicht zu unserem säkularen, rationalen Raum, nicht zu
unserer Zivilisation, unserem Universalismus.
Die These, der Islam habe den Ostblock als Bedrohung abgelöst, als das
ewige Gegenüber, dessen der Westen anscheinend bedarf, mag immer etwas
schrill gewesen sein. Doch fällt das Ende des War on Terror jetzt nicht
zufällig zusammen mit dem neuen [9][Konfrontationskurs gegenüber China].
Nun verkörpert China den Totalitarismus, eine neue, frische, gewaltige
Bedrohung. Da gilt es, Sandsäcke abzuwerfen, und der War on Terror ist ein
teurer alter Sandsack.
So zieht sich der Westen nun zurück aus den Ruinenlandschaften vermessener
weißer Strategien. Nur die Hybris, die so viel zum Scheitern beitrug, sie
wird auf den letzten Panzer geladen und gerettet.
8 Jul 2021
## LINKS
[1] /Bundeswehr-Abzug-aus-Afghanistan/!5779297
[2] /Bundeswehr-in-Mali/!5778893
[3] /Was-Maechtige-mit-der-Sprache-anstellen/!5112438
[4] /Zum-Tod-von-Donald-Rumsfeld/!5783706
[5] /Irakisches-Kriegsgefaengnis-Abu-Ghraib/!5075696
[6] /Kommentar-CIA-Folterbericht/!5026602
[7] /Ex-Premier-Tony-Blair/!5244985
[8] /Wahlprogramm-der-Gruenen/!5773410
[9] https://sozialismus.ch/arbeit/2019/international-china-im-aufstieg-ein-neue…
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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