| # taz.de -- Ex-Grünen-MdB über Afghanistan-Abzug: „Man nennt das Niederlage… | |
| > Als der Bundestag 2001 den Einsatz in Afghanistan beschloss, stimmte | |
| > Winfried Nachtwei für die Grünen zu. Nun zieht er Bilanz. | |
| Bild: Die letzten Bundeswehrsoldaten steigen in Mazar-e Sharif in ein Transport… | |
| taz am wochenende: Herr Nachtwei, am Dienstagabend haben die letzten | |
| deutschen Soldaten [1][Afghanistan verlassen]. Was haben Sie empfunden, als | |
| Sie die Nachricht gehört haben? | |
| [2][Winfried Nachtwei]: Die Nachricht kam nicht überraschend. Trotzdem war | |
| es ein emotionaler Tiefpunkt, weil vieles zusammenkommt. Die Bilanz des | |
| Einsatzes: Es hat nicht gereicht. Es hat fürchterlich viel nicht | |
| hingehauen. Das war die erste Reaktion, ich habe aber noch zwei andere | |
| Gefühle parat. | |
| Welche denn? | |
| Als zweites abgrundtiefe Scham. Die meisten afghanischen Ortskräfte wurden | |
| zurückgelassen. Wir von der Initiative zur Rettung dieser Menschen hatten | |
| seit Wochen darauf gedrängt, dass gefälligst dafür gesorgt werden muss, | |
| dass die auch schnell rauskommen. Jetzt besteht die große Gefahr, dass sie | |
| ihren Verfolgern von den Taliban ausgeliefert sind. Unsere Verbündeten am | |
| Boden werden sich selbst überlassen. | |
| Und das dritte Gefühl? | |
| Zorn darüber, dass die Bundesregierung in ersten Stellungnahmen wieder die | |
| alte Schönrednerei fortsetzt. | |
| Das klingt danach, dass Sie den Einsatz für [3][gescheitert] halten. | |
| Wesentliche strategische Ziele wurden eindeutig verfehlt. Der Terror wurde | |
| nicht nachhaltig bekämpft. Al-Qaida wurde zwar zurückgedrängt und scheint | |
| zur Zeit nicht in der Lage zu so großen Anschlägen wie vor 20 Jahren. Aber | |
| 2019 entfielen 41 Prozent der weltweiten Terroropfer auf Afghanistan. Der | |
| UN-Auftrag, mit den afghanischen Sicherheitskräften für ein sicheres Umfeld | |
| zu sorgen, wurde auch krass verfehlt. Allein letztes Jahr sind 10.000 | |
| afghanische Polizisten und Soldaten gefallen. Und auch sonst ist | |
| verlässliche Staatlichkeit nur mangelhaft erreicht worden, man denke nur an | |
| die enorme Korruption in herrschenden Kreisen. | |
| Dann kommt jetzt die große Frage: Warum hat es nicht geklappt? | |
| Da kommt ein Bündel von Gründen zusammen. Erstens hatte die | |
| Staatengemeinschaft keine Strategie. Es gab keine klaren und überprüfbaren | |
| Aufträge. Zweitens gab es von Anfang an einen elementaren Dissens. Die USA | |
| unter Bush konzentrierten sich auf militärische Terror-Bekämpfung ohne | |
| Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, während die Mehrzahl der anderen | |
| Verbündeten den Wiederaufbau unterstützen wollte. Drittens wurden die | |
| Herausforderungen gigantisch unterschätzt. Viertens kam mangelnde | |
| Landeskenntnis und mangelndes Konfliktverständnis hinzu. Dann, fünftens, | |
| die Frage der Partnerwahl. Verbündete waren zu oft die alten Warlords statt | |
| reformorientierte Kräfte. Sechstens, ganz wichtig: Dass über viele Jahre | |
| die Notwendigkeit einer politischen Lösung mit den Taliban nicht gesehen | |
| wurde. Da gab es Vorstöße, auch von deutscher Seite, aber die USA haben das | |
| vor dem Hintergrund der eigenen Hybris lange abgeblockt. Siebtens … ach, | |
| egal, reicht jetzt. | |
| Fahren Sie ruhig fort. | |
| Einen Fehler nenne ich noch: Die Militärlastigkeit, befördert durch | |
| langjährige zivile Schwäche. Die deutsche Diplomatie und die | |
| Polizeiausbildung waren quantitativ zu schwach aufgestellt. Unterm Strich | |
| war es nicht so, dass die Frauen und Männer, die wir dorthin entsandt | |
| haben, Scheiße gebaut hätten. Die waren klasse. Der Knackpunkt war ein | |
| kollektives politisches Führungsversagen in sehr vielen Hauptstädten. | |
| Sie sagen, dass der Westen die Herausforderungen in Afghanistan | |
| unterschätzt hat. Woher kam diese Naivität? | |
| Es gab ein Dilemma. Man wollte vor allem aus Bündnisloyalität nach | |
| Afghanistan gehen, aber erst mal nur vorsichtig einen Zeh reinstecken. Es | |
| gab damals Berechnungen: Wenn man richtig reingehen würde, wie im Kosovo, | |
| wären viele hunderttausend Soldaten nötig. Das war aber von vornherein | |
| illusorisch und das hat dann eben auch die Wahrnehmungsbereitschaft | |
| gegenüber der Realität beeinflusst. Anfangs wurde das auch noch dadurch | |
| begünstigt, dass es wirklich aufwärts zu gehen schien. Wenn man auf einem | |
| Transportpanzer durch die Straßen fährt und die Leute winken, kann man sich | |
| vertun. | |
| War der Einsatz auch für Sie persönlich ein Lernprozess? Oder haben Sie all | |
| die Fehler von Anfang an erkannt? | |
| Zu wenig. Aber dann war es ein intensiver Lernprozess. Nach den ersten | |
| hoffnungsvollen Jahren kehrte der Krieg 2006 vor allem im Süden zurück. | |
| ISAF drohte, immer mehr zu einer Besatzungstruppe zu werden. Es gab | |
| Warnungen von Bundeswehrgenerälen. Jürgen Trittin und ich haben damals | |
| einen Brief an Außenminister Steinmeier und Kollegen geschrieben und eine | |
| kritische Bilanzierung gefordert: Wo steht das Engagement, wo muss | |
| umgesteuert werden? Solche Warnungen wurden über Jahre nicht wahrgenommen. | |
| Gründlich evaluiert wurde der Einsatz bis heute nicht. Nach dem Abzug zeigt | |
| jetzt aber auch die Regierung vorsichtige Bereitschaft dazu. Wie müsste die | |
| Auswertung Ihrer Meinung nach aussehen? | |
| Es muss unbedingt eine unabhängige Evaluierung mit externen Fachleuten | |
| sein. So wie in Norwegen, die haben als erstes Nato-Land eine seriöse | |
| Evaluierung auf den Tisch gelegt. | |
| Was glauben Sie: Warum steigt die Bereitschaft zur Evaluierung ausgerechnet | |
| jetzt? | |
| Wegen des Drängens derjenigen, die entsandt wurden, die zum Teil Kameraden | |
| verloren und selbst geblutet haben. Die fragen sich: Wofür das alles? Wenn | |
| man feststellt, dass man die Ziele verfehlt hat – gemeinhin nennt man das | |
| eine Niederlage – will man wenigstens bestmöglich daraus lernen. | |
| Bei allen verfehlten Zielen: Was ist heute gut in Afghanistan? | |
| Die Gesellschaft hat sich in Teilen erheblich geändert. Das gilt vor allem | |
| für die Städte und für die jüngere Generation. Das hat auch einen | |
| Niederschlag gefunden in einer vitalen Zivilgesellschaft, die man nicht | |
| mehr reduzieren kann auf aus dem Ausland finanzierte NGOs. Nach harten | |
| Anschlägen gab es in den vergangenen Jahren Massendemonstrationen mit | |
| aberzehntausenden Teilnehmern – gegen den Terror, aber auch gegen das | |
| Versagen der Regierung. Die Medienvielfalt ist für die Region ebenfalls | |
| ungewöhnlich. Und Studien zeigen, dass Entwicklungsprojekte, die in der | |
| Bevölkerung gut verankert sind, auch ziemlich erfolgreich waren. Ich | |
| spreche bei solchen Projekten von Hoffnungsinseln, die es trotz alledem in | |
| Afghanistan noch gibt. | |
| Aber wie viel Hoffnung bleibt für diese Projekte, wenn die Taliban jetzt in | |
| vielen Regionen zurückkehren? | |
| Ich kenne ein Berufsbildungszentrum, in dem auch etliche Frauen lernen und | |
| das seit Jahren in einer von Taliban kontrollierten Umgebung arbeitet. Dort | |
| hat man weder Probleme noch Befürchtungen. Offensichtlich hat man es da mit | |
| pragmatischen Taliban zu tun, die ein Ohr dafür haben, wie das Denken in | |
| der breiteren Bevölkerung ist. Wie das in anderen Landesteilen aussieht, | |
| weiß ich nicht. Aber solche Hoffnungsinseln müssen identifiziert und nach | |
| Kräften unterstützt werden. | |
| Was kann die Bundesregierung sonst noch tun, um Afghanistan auch nach dem | |
| Abzug zu unterstützen? | |
| Zentral ist die weitere Unterstützung des Verhandlungsprozesses zwischen | |
| der afghanischen Regierung und den Taliban. Bei den Sicherheitskräften muss | |
| man sehen, ob es nicht vielleicht auch von außerhalb des Landes weiterhin | |
| Ausbildungsunterstützung und Beratung geben kann. Und: Die politische | |
| UN-Mission und die UN-Unterorganisationen im Land werden an Bedeutung | |
| zunehmen. Die Bundesrepublik ist schon zuverlässiger Geldgeber, sollte sich | |
| hier aber auch stärker mit Personal beteiligen. | |
| Besteht aber nicht eher die Gefahr, dass für Afghanistan gilt: Aus den | |
| Augen, aus dem Sinn? In den Bundestagswahlprogrammen der Parteien taucht | |
| Afghanistan jedenfalls kaum noch auf. | |
| Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Dranbleiben, ja nicht die | |
| Aufmerksamkeit abwenden, wie es nach solchen Kriseneinsätzen der übliche | |
| Trend ist. Dem zu widerstehen, ist wirklich elementar. Die Einstellung, | |
| Afghanistan ließe sich wie Ballast abwerfen, ist illusorisch und zynisch. | |
| Gilt das auch für Sie persönlich? Bleiben Sie Afghanistan-Beobachter oder | |
| ist es nach zwanzig Jahren auch mal gut? | |
| Ich bleibe weiter dran. Inzwischen sind so viele persönliche Verbindungen | |
| gewachsen. Zu Afghanen, zu Exil-Afghanen, zu Einsatzrückkehrern, zu | |
| Einsatzgeschädigten. Das treibt mich seit Jahren am meisten an, nicht nur | |
| die Kopfentscheidung, dass Afghanistan aus außen- und | |
| sicherheitspolitischen Erwägungen wichtig ist. Die Verbundenheit zu diesem | |
| Land und seinen Menschen hört auch jetzt bei dieser Zäsur nicht auf, bei | |
| der ja die akute Gefahr besteht, dass es noch mal in schlimmere | |
| Verhältnisse abdriftet, nämlich in einen entfesselten Bürgerkrieg. | |
| 3 Jul 2021 | |
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| Tobias Schulze | |
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