# taz.de -- ADFC-Chef Masurat über Forderungen: „Verkehrstote nicht akzeptie… | |
> Der ADFC hat einen verkehrspolitischen Maßnahmenkatalog für den künftigen | |
> Senat vorgelegt. Landeschef Frank Masurat erläutert die Forderungen. | |
Bild: Das Bild ist von 2018, die Forderung immer noch die gleiche | |
taz: Herr Masurat, Verkehrssenatorin Regine Günther hat am Donnerstag | |
verkündet, dass sie [1][für das Amt nicht mehr zur Verfügung] steht. Haben | |
Sie sich gefreut? | |
Frank Masurat: Ich habe ihr auf Twitter alles Gute gewünscht. Frau Günther | |
hat sich sehr für die Verkehrswende eingesetzt. Sie ist für ihre Politik | |
allerdings auch persönlich stark angefeindet worden, und ich kann | |
verstehen, dass sie daraus die Konsequenz zieht. | |
Anfeindungen sind immer schlecht. Aber mit [2][Kritik] hat ja auch der ADFC | |
nie gespart. | |
Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass in Sachen Radverkehr viel mehr | |
umgesetzt worden wäre, oder um es anders auszudrücken: dass das | |
Mobilitätsgesetz eingehalten wird. Das wird es aber nach wie vor nicht. | |
Insofern sollte auch aus der künftigen Koalitionsvereinbarung klar | |
erkennbar werden, wie es jetzt schneller gehen soll. | |
Ist Ihnen wichtig, dass ein Mensch mit fachlicher Erfahrung das | |
Verkehrsressort übernimmt? | |
Wichtig ist vor allem, dass es jemand ist, der die schwierige Konstellation | |
der zweistufigen Berliner Verwaltung in den Griff bekommt. Das ist die | |
echte Herausforderung. Wir sind über Frau Giffeys Vorstellungen von der | |
autogerechten Stadt natürlich überhaupt nicht glücklich, aber absolut Recht | |
hat sie mit der Forderung, dass die Landesebene ein größeres | |
Durchgriffsrecht auf die Bezirke erhält. Viele Maßnahmen müssen landesweit | |
gesteuert werden, das fängt schon an mit Radinfrastruktur an | |
Hauptverkehrsstraßen, die ja nicht an der Bezirksgrenze aufhören soll. Am | |
besten ginge das mit einer landeseigenen Gesellschaft. | |
Der ADFC skizziert in seinem gerade vorgelegten Forderungskatalog an eine | |
künftige Regierung die Vision, dass in fünf Jahren die 1.600 Kilometer | |
Hauptverkehrsstraßen mit sicherer Radinfrastruktur ausgestattet sind. Und | |
räumt gleichzeitig ein, dass bis jetzt gerade mal die Hälfte überhaupt eine | |
Radinfrastruktur hat. Ist das dann nicht völlig utopisch mit den aktuellen | |
planerischen Kapazitäten? | |
Es hat ja schon ein Aufbau des Personals stattgefunden, das muss aber noch | |
deutlich mehr werden. Dass es grundsätzlich an den Menschen hapert, kann | |
nicht sein – es gibt ja genügend Personal für die Planung von Autobahnen | |
und andere Kfz-Infrastruktur. Und schon im Sondierungspapier von | |
Rot-Grün-Rot steht klipp und klar, dass die Umsetzung des | |
Mobilitätsgesetzes und des Radverkehrsplans finanziell gesichert ist. | |
Einerseits soll der Umbau der Stadt nach den Vorgaben des | |
Mobilitätsgesetzes massiv beschleunigt werden, andererseits werden ja auch | |
für den Umbau zur klimaneutralen Stadt enorme planerische Kapazitäten | |
benötigt. Kann das funktionieren? | |
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Wenn wir bis 2030 klimaneutral werden | |
müssen, heißt das ja auch, dass wir Rad-, Fuß- und Nahverkehr stärken | |
müssen. Was uns Mut macht, ist ein Beispiel wie Friedrichshain-Kreuzberg, | |
der Bezirk, in dem es tatsächlich vorangeht mit der Mobilitätswende. Da | |
mangelt es auch nicht an Personal, und das liegt nicht daran, dass das | |
Bezirksamt bessere Gehälter zahlen würde als andere. Sondern es herrscht | |
dort ein anderes Miteinander, eine andere Führungskultur, ein klares | |
Bekenntnis zur Verkehrswende, das die Menschen, die dort arbeiten, auch | |
begeistert. | |
Sollte der nächste Senat überhaupt noch personelle Kapazitäten für | |
Großprojekte wie den Bau neuer U-Bahn-Strecken einsetzen? | |
Es ist ja nicht so, dass es auf dem Arbeitsmarkt gar keine Planerinnen und | |
Planer mehr gibt, die für die Beschleunigung der Verkehrswende eingestellt | |
werden können. Wenn sich das allerdings ergeben sollte, wird man | |
priorisieren müssen. Mir fallen da als erstes Projekte wie der Weiterbau | |
der A100 ein, die wegfallen können. | |
Das ADFC-Papier fordert, das Pop-up-Prinzip quasi flächendeckend | |
einzusetzen. Warum? | |
Es ist eine agile, innovative Vorgehensweise, wie sie auch viele private | |
Konzerne längst einsetzen. Wir finden gut, dass mit Pop-up-Infrastruktur | |
komplizierte Verwaltungsprozesse beschleunigt werden können. Man kann eine | |
Maßnahme relativ schnell testen, gegebenenfalls korrigieren und erst am | |
Ende die Bagger kommen lassen. | |
Ist das nicht auch eine riskante Strategie? Pop-up-Infrastruktur ist ja | |
letztlich prekär und nicht wirklich sicher. | |
Die Infrastruktur, wie sie jetzt ist, ist doch alles andere als sicher! | |
Zurzeit akzeptieren wir, dass einmal pro Woche ein Mensch im Berliner | |
Straßenverkehr getötet wird. Und das muss sich ändern. | |
Auch der ADFC bekennt sich zur „Vision Zero“, also zu dem Ziel, dass es | |
künftig weder Tote noch Schwerverletzte im Straßenverkehr gibt. So richtig | |
das ist – wird es nicht in einer so großen Stadt, in der immer mehr | |
Menschen Rad fahren, immer zu fatalen Unfällen kommen? Berlin ist nicht | |
Oslo. | |
Das stimmt, und trotzdem finde ich es richtig, dieses Ziel gesetzlich zu | |
verankern und alles zu tun, damit diese Vision erreicht wird. Ich will | |
keinen einzigen Verkehrstoten akzeptieren. Und sobald wir weniger Autos in | |
der Stadt haben, wird es auch weniger Tote und Schwerverletzte geben. | |
Frustrierend ist doch, dass alle nötigen Maßnahmen seit Jahrzehnten bekannt | |
sind, aber nicht umgesetzt werden. Ob es stadtweit Tempo 30 ist oder der | |
sofortige Umbau von gefährlichen Kreuzungen. | |
Bei generellem Tempo 30 ist Berlin auf den Bund angewiesen. | |
Richtig, das könnte der Senat im Moment auch dann nicht anordnen, wenn er | |
es wollte. Deshalb muss er im Bundesrat eine Reform der | |
Straßenverkehrsordnung vorantreiben und solange die Möglichkeiten nutzen, | |
die es jetzt schon gibt, um die Geschwindigkeit auf Hauptverkehrsstraßen | |
stärker zu begrenzen. Beim Umbau gefährlicher Kreuzungen kann das Land sein | |
Vorgehen dagegen sofort ändern. Jetzt ist es so, dass die Straße ein paar | |
Stunden nach einem schweren Unfall wieder freigegeben wird. Wir sagen: Wenn | |
offensichtlich ist, dass die Infrastruktur für den Unfall mitverantwortlich | |
war, darf die Kreuzung erst freigegeben werden, wenn dort auch etwas | |
geändert wurde – wie am Alexanderplatz. | |
Sie meinen die Kreuzung Otto-Braun-Straße/Karl-Marx-Allee, wo 2019 eine | |
Radfahrerin von einem abbiegenden Lkw getötet wurde. | |
Dort haben wir nach langen Diskussionen mit dem Verkehrsstaatsekretär | |
erreicht, dass die Kreuzung tatsächlich umgebaut wurde und bis dahin ein | |
Rechtssabbiegeverbot erteilt wurde. An das sich leider auch nicht alle | |
gehalten haben – da gilt leider oft die Regel „Navi schlägt | |
Verkehrszeichen“. In solchen Fällen wird es künftig nötig sein, ein Verbot | |
auch mit permanenten Kontrollen durchzusetzen. | |
Zu Ihren Forderungen gehört auch, den Autoverkehr in den kommenden zehn | |
Jahren zu halbieren. Dass das möglich sein soll, da fehlt mir leider der | |
Glaube. | |
Wir haben heute trotz aller Lippenbekenntnisse immer noch einen wachsenden | |
Autoverkehr, jedes Jahr kommen 20.000 bis 30.000 Kfz dazu. Davon müssen wir | |
unbedingt wegkommen. Richtig ist, dass die Möglichkeiten des Landes auch | |
bei diesem Thema eingeschränkt sind. Alle Verkehrswissenschaftler sagen, | |
dass es für eine grundlegende Verhaltensänderung Push- und Pull-Faktoren | |
braucht. Sprich, wir müssen alles erleichtern, was die Stadt für die | |
Menschen und das Klima besser macht – und das, was dem entgegensteht, | |
unangenehmer und schwieriger machen. Dazu gehört, die Zahl der Parkplätze | |
massiv zu reduzieren und die verbleibenden nicht mehr kostenlos zur | |
Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite muss auch der ÖPNV deutlich | |
attraktiver werden. | |
Mehr U-Bahnen, wie es Frau Giffey will? | |
U-Bahnen haben eine lange Vorlaufzeit, deren Klimaeffekt braucht | |
Jahrzehnte. Wir brauchen aber Maßnahmen, die viel schneller wirken. Da | |
bieten sich andere Verkehrsmittel an, gerade auch Fuß- und Radverkehr. Das | |
Sondierungspapier fordert übrigens, dass alle Menschen mobil sein können. | |
Das sehen wir genauso. Es ist aber heute nicht der Fall, weil wir dem | |
Kfz-Verkehr viel zu viel Platz einräumen und damit andere Menschen | |
einschränken. | |
Was die bessere Verzahnung von ÖPNV- und Radverkehr angeht – die fordern | |
Sie auch. Zum Beispiel wollen Sie, dass die BVG die Radmitnahme in Bussen | |
in Randbezirken ausprobiert. Wäre es nicht auch sehr sinnvoll, dass | |
AbokundInnen von BVG und S-Bahn ein Fahrrad mitnehmen können, ohne dafür zu | |
bezahlen? | |
Es ist eben eine Extraleistung, die die Verkehrsbetriebe da erbringen, da | |
können wir schon nachvollziehen, dass das einen Preis hat. Andererseits | |
spricht sicher viel dafür, das etwa für Leute mit Abo attraktiver zu | |
machen. Diese Möglichkeit gab es ja früher schon einmal, sie wurde dann im | |
Rahmen einer Tarifänderung abgeschafft. | |
Ein großes Problem für viele Radfahrende sind die vielen Diebstähle. Was | |
kann man aus Ihrer Sicht dagegen unternehmen? | |
Das ist in der Tat ein Riesenthema. Jeden Tag werden im Schnitt um die 80 | |
Räder gestohlen, bei einer Aufklärungsquote im homöopathischen Bereich. | |
Gleichzeitig geben die Leute heute deutlich mehr Geld für ein Rad aus. Ein | |
Mittel ist hier der Bau sicherer Radabstellanlagen, vor allem an | |
ÖPNV-Haltestellen, auch von Fahrradparkhäusern. Aber das Thema muss auch | |
von der Polizei viel ernster genommen werden nehmen, sie muss | |
Ermittlungsgruppen einsetzen, um gegen den oft organisierten Diebstahl | |
vorzugehen. | |
Zu guter Letzt fordern Sie, an einer Berlin Uni eine Fahrradprofessur | |
einzurichten. Klingt schick, aber was wären denn da die Inhalte? | |
So etwas gibt es schon an mehreren deutschen Unis! Wir sähen darin eine | |
große Chance, dass die Wissenschaft zur Verkehrspolitik aus Radperspektive | |
Stellung nimmt. Zwischen Politik und Wissenschaft gibt es auch bei diesem | |
Thema heute noch eine große Diskrepanz. | |
21 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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