# taz.de -- 100 Tage Präsidentschaft Joe Biden: Alter Mann macht Tempo | |
> Der US-Präsident Joe Biden startet in den ersten 100 Tagen mit Vollgas | |
> ins Amt. Er sagt dem Neoliberalismus ab und setzt auf Vielfalt. | |
Joe Biden ist in seinen ersten hundert Tagen, die am 29. April enden, eine | |
ziemliche Überraschung gelungen. Er agiert ganz anders, als man es noch vor | |
der Wahl erwartet hätte. Beim [1][Klimaschutz will Biden die USA zum | |
Vorreiter] machen. Seine beiden großen Programme gegen die Folgen der | |
Covid-19-Pandemie und für den Wiederaufbau der maroden Infrastruktur | |
definieren eine neue Rolle des Staats in den USA. | |
Seit Präsident Reagan und in der folgenden Ära des Neoliberalismus galt | |
dort das Mantra, dass Steuern niedrig und der Staat schwach sein muss, | |
damit der allgemeine Wohlstand wächst. Obwohl längst überdeutlich geworden | |
ist, dass das nicht stimmt, hielt sich der Glaube auch bei der | |
Demokratischen Partei bis in die [2][Trump-Präsidentschaft]. Die Pandemie | |
hat nun erzwungen, dass der Staat mit Macht eingreift. | |
Biden und [3][Vizepräsidentin Kamala Harris] ist hoch anzurechnen, dass sie | |
das erkannt und umgesetzt haben. Sie haben unübersehbar gezeigt, dass sie | |
die Gefahr durch das Virus nicht länger ignorieren oder leugnen wie Trump, | |
sondern den Kampf gegen die Pandemie als politische Priorität setzen. | |
Allein schon das [4][Tragen der Maske] bei öffentlichen Auftritten machte | |
die Wende für jeden sichtbar. Der rasante Fortschritt der Impfkampagne | |
bringt spürbare Verbesserung für die Bevölkerung. | |
135 Millionen US-Bürger:innen haben ihre erste Dosis erhalten. Das | |
staatliche Hilfsprogramm gegen Covid-19 wird 2 Billionen Dollar kosten. Das | |
entspricht etwa einem Zehntel des Bruttoinlandsprodukts der USA. Es bringt | |
unmittelbare Finanzhilfen für die Menschen und gibt der Wirtschaft einen | |
Anschub. Weitere 2 Billionen Dollar sollen die marode Infrastruktur des | |
Landes wieder instand setzen. | |
## Massive staatliche Investitionen | |
Um das zu finanzieren, sollen Großverdiener und vor allem große Unternehmen | |
ihren fairen Anteil an Steuern entrichten. Weltweit agierende Firmen, die | |
sich wie [5][Apple, Facebook oder Amazon] in Steueroasen flüchten, sollen | |
eine globale Mindeststeuer zahlen. Schon macht das Buzzword „Bidenomics“ | |
die Runde. Noch unter Obama hätten solche Ankündigungen wütende Proteste | |
von allen Seiten entfesselt. Bei Biden ist das anders, auch seine Partei im | |
Kongress trägt den Politikwandel mit. | |
Sie wissen, dass das Corona-Hilfspaket und höhere Steuern für die Reichsten | |
von zwei Dritteln der Bevölkerung befürwortet werden. Ob die Demokraten | |
auch beim Kampf gegen rassistische Gewalt, für die Polizeireform und bei | |
der Frage der Immigration mutig sein werden, muss sich noch zeigen. Biden | |
und Harris haben nach dem [6][Urteil gegen den Polizisten Derek Chauvin] | |
klare Worte gefunden. Dabei waren die Erwartungen an Biden im Vorwahlkampf | |
nicht hoch. | |
Er würde mit 78 Jahren der älteste US-Präsident aller Zeiten werden, wenn | |
er sein Amt antritt. Er war weder ein begeisternder Redner noch ein | |
sonderlich mutiger und fortschrittlicher Politiker in den fast vier | |
Jahrzehnten im Senat und danach an Obamas Seite. Noch in den 80er-Jahren | |
hatte er sich dagegen gestellt, dass Schwarze Kinder mit Bussen in Schulen | |
in weiße Viertel gebracht werden. Er hatte 2003 für den Einmarsch in den | |
Irak gestimmt – das hatte ihm der progressive Flügel der Partei nicht | |
verziehen. | |
Es gab durchaus Gründe, in dem linken [7][Senator Bernie Sanders] eine | |
fortschrittliche Alternative zu Biden zu sehen. Der Lockdown sorgte dann | |
dafür, dass Bidens Erfolge bei den Vorwahlen und seine Kür beim virtuellen | |
Parteikonvent nur gedämpft gefeiert wurden. Danach lief es für ihn wie | |
geschmiert. Trump machte sich in der ersten Debatte mit seinem rüpelhaften | |
Gepolter unmöglich und lag fortan in Umfragen konstant 6 bis 8 Punkte | |
hinter Biden. Die Pandemie leugnete Trump hartnäckig. | |
## Globale Steuer für Großunternehmen | |
Biden erhielt landesweit 7 Millionen Stimmen mehr als Trump, doch | |
entscheidend für den Sieg waren die gerade mal 100.000 Stimmen, die ihn in | |
Arizona, Georgia und Pennsylvania zum Gewinner machten. Über diese | |
Schieflage wird noch zu reden sein. Bei der Wahl seines Personals hat Biden | |
Zeichen gesetzt, die dem konservativen Amerika wie Leuchtfeuer | |
signalisieren: Ich will eine andere Politik als ihr. Mit Merrick Garland | |
berief Biden jemand zum Justizminister, der eigentlich am Supreme Court | |
sitzen sollte. | |
[8][Obama hatte Garland in seinem letzten Amtsjahr nominiert], aber die | |
Republikaner im Senat verhinderten, dass der Jurist dort auch nur angehört | |
wurde. Garland obliegt nun eine Untersuchung der von Polizisten in | |
Minneapolis verübten Gewalt, der George Floyd zum Opfer fiel, aber auch die | |
juristische Aufarbeitung des Sturms militanter Trump-Anhänger auf das | |
Kapitol im Januar. Biden signalisierte auch: | |
Ich will, dass meine Administration so vielfältig wird wie unsere | |
Bevölkerung. Kamala Harris als erste Frau und erste Schwarze zur | |
Vizepräsidentin zu machen, war ein deutliches Ausrufezeichen. Mit Lloyd | |
Austin führt erstmals ein Schwarzer das Pentagon. Mit [9][Pete Buttigieg] | |
wurde der erste offen Schwule Minister. Mit Michael Regan wird ein | |
Schwarzer und engagierter Klimaschützer Chef der Umweltbehörde EPA. Alle | |
eint, dass sie tatsächlich Fachleute für ihr Gebiet sind. | |
Aber Biden beließ es nicht dabei: [10][Deb Haaland] hatte sich schon als | |
Kongressabgeordnete aus New Mexico mit ihrem Eintreten für die Native | |
Americans einen Namen gemacht. Sie ist die erste Native American in der | |
US-Geschichte, die einem Kabinett angehört. Die Tochter einer Angehörigen | |
des Volks der Laguna wurde von Biden zur Innenministerin erwählt und im | |
März vom Senat bestätigt. | |
Als Innenministerin ist sie für die Belange der Native Americans zuständig, | |
aber vor allem für das Fünftel des US-Territoriums, das in Bundesbesitz | |
ist, darunter riesige Gebiete westlich des Mississippi, auf die sich immer | |
wieder die Begehrlichkeiten der Öl-, Bergbau und Holzindustrie richten. | |
Haalands Kleiderwahl bei der Vereidigung zeigt, dass sie sich wie Biden auf | |
Symbolpolitik versteht: Sie trug ein farbenprächtiges traditionelles Gewand | |
ihres Volkes. | |
## Diversity im Kabinett | |
Sie zeigte aber auch, dass sie weiß, was wirklich wichtig ist, und kündigte | |
an, nicht nur für einen fairen Anteil von Impfstoffen für die etwa 5 | |
Millionen Native Americans zu sorgen, sondern auch in ihrem Ministerium die | |
vielen ungeklärten Fälle ermordeter und verschwundener Native Americans zu | |
untersuchen. Dabei wissen Biden und Harris, wie rasiermesserdünn ihre | |
Mehrheiten im Kongress sind und wie verbissen die Republikaner sich | |
bemühen, ihre Agenda zu torpedieren. | |
Im Repräsentantenhaus ist der demokratische Vorsprung auf drei Abgeordnete | |
geschmolzen, und im Senat herrscht ein Patt von 50 zu 50, das nur durch das | |
Votum von Kamala Harris aufgelöst werden kann. Zwei der 50 demokratischen | |
Senatsmitglieder, Joe Manchin aus West Virginia und Kyrsten Sinema aus | |
Arizona, sperren sich gegen viele Vorhaben des Weißen Hauses. Manchin | |
verhinderte ein Verbot des Frackings ebenso wie die Erhöhung des | |
Mindestlohns auf 15 Dollar. | |
Hartnäckig hält sich in republikanischen Kreisen der Vorwurf, es habe | |
Wahlbetrug in großem Stil gegeben. Dieser Verdacht hat seine Grundlage in | |
der Reihenfolge, in der die Stimmen ausgezählt wurden. Als Erstes kamen die | |
Stimmen aus den Wahllokalen in ländlichen Gegenden – traditionell | |
republikanisch –, später erst die aus den Großstädten, bei denen es | |
regelmäßig deutliche Mehrheiten für die Demokraten gibt, und die | |
Briefwahlstimmen. Zunächst sah es in der Wahlnacht deshalb nach einem | |
klaren Sieg Trumps aus. | |
Es dauerte noch vier Tage, in denen weiter ausgezählt wurde, bis die | |
Nachrichtenagentur AP Biden zum Wahlsieger erklärte. Der – wie nicht | |
weniger als 60 Gerichtsurteile belegen – [11][fälschlich behauptete | |
Wahlbetrug] hat die Republikaner in vielen Bundesstaaten veranlasst, die | |
Wahlgesetze zu ändern. Mit allen möglichen Tricks sollen Minderheiten und | |
ärmere Schichten daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben. | |
Man kann dafür die Wählerlisten zusammenstreichen, die Registrierung | |
erschweren oder hohe Hürden für Briefwähler errichten. Trump und andere | |
führende Republikaner sagten ganz offen, dass sie bei höherer | |
Wahlbeteiligung – etwa durch erleichterte Briefwahl – Wahlen eher verlieren | |
würden. Vorgeprescht bei der Wahlrechtsänderung war der Bundesstaat | |
Georgia, den Trump im November ganz knapp verloren hatte. | |
## Wahlrechtsreform könnte die Demokratie retten | |
Doch für die Regierung in Georgia wurde die Wahlrechtsänderung zum | |
PR-Desaster. Die Major League Baseball verlegte aus Protest ihr All Star | |
Game von Atlanta nach Denver, und die Chefs großer Unternehmen wie | |
Coca-Cola oder der Fluglinie Delta, die beide ihren Sitz in Atlanta haben, | |
nannten das neue Gesetz inakzeptabel. Auch Apple und Goldman Sachs stimmten | |
in den Protest ein. Plötzlich zeigte die Allianz von Big Business und | |
republikanischer Partei Risse. | |
Donald Trump wollte nie mehr Coca-Cola trinken und rief zum Boykott | |
weiterer Firmen auf, die er missbilligend als „woke companies“ bezeichnete. | |
Gegen diese Aushebelung der demokratischen Spielregeln richtet sich der | |
Gesetzentwurf [12][„For the People Act“], der eine umfassende, für die | |
gesamten USA bindende Reform der Wahlprozeduren und eine Begrenzung für | |
Wahlspenden vorsieht – ein politischer Kraftakt, der nur mit dem | |
wegweisenden „Voting Rights Act“ von 1965 vergleichbar ist. | |
Das Repräsentantenhaus hat dieses Gesetz im März gebilligt, nun liegt sein | |
Schicksal beim Senat. Sollte der „For the People Act“ scheitern, könnten | |
die Republikaner die ungleichen Voraussetzungen weiter ausbauen, die ihnen | |
bei Wahlen jetzt schon einen unfairen Vorteil verschaffen. Wir erinnern | |
uns: 2016 gewann Hillary Clinton 2,8 Millionen mehr Stimmen als Trump – und | |
verlor trotzdem im Wahlkollegium. | |
Auch beim anstehenden Neuzuschnitt der Wahlbezirke für den Kongress werden | |
die Republikaner ihre Möglichkeiten nutzen, sich Distrikte maßzuschneidern. | |
Im „For the People Act“ ist dagegen festgelegt, dass unabhängige | |
Kommissionen die Grenzen der Kongressbezirke bestimmen. Ihn zu | |
verabschieden könnte die Demokratie retten. | |
25 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Joe-Biden/!t5019807 | |
[2] /Donald-Trump-und-die-Wirtschaft/!5726227 | |
[3] /Erste-US-Vizepraesidentin-Harris/!5723651 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=vOBt5NEARq0 | |
[5] /Steuer-Vorstoss-von-US-Finanzministerin/!5759062 | |
[6] /Urteil-im-Fall-George-Floyd/!5768113 | |
[7] /Vorwahlen-bei-den-US-Demokraten/!5677819 | |
[8] /Vorschlag-fuer-US-Supreme-Court/!5287601 | |
[9] /Uebergang-der-US-Praesidentschaft/!5739512 | |
[10] /US-Regierung-unter-Joe-Biden/!5739823 | |
[11] /US-Wahlen-und-Trumps-Betrugsverdacht/!5724030 | |
[12] https://www.congress.gov/bill/117th-congress/house-bill/1/text | |
## AUTOREN | |
Stefan Schaaf | |
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