| # taz.de -- Ukraine auf der Frankfurter Buchmessse: Mit der Geige an die Front | |
| > Am Stand der Ukraine wird die Klassik entdeckt und Frauen erzählen über | |
| > den Krieg. Klebezettel auf der Buchmesse erinnern an die Toten. | |
| Bild: Der Krieg sind die Namen. Messestand der Ukraine auf der Frankfurter Buch… | |
| Eine Zahl, ein Zitat, viele Namen. Sie prangen an einer gelb-blauen Wand in | |
| Halle 4, dort, wo die vielen ukrainischen Buchverlage ihren gemeinsamen | |
| Auftritt haben. „Wenn sie mich fragen, was Krieg ist, antworte ich ohne zu | |
| zögern: Namen“, lautet der Satz, der dort großgeschrieben steht. Er stammt | |
| von Maksym „Dali“ Kryvtsov, ukrainischer Lyriker und Soldat, getötet im | |
| Alter von 33 Jahren am 7. Januar 2024 an der Front in der Region Charkiw. | |
| Die Namen der getöteten Autor:innen, Schriftsteller:innen, | |
| Drehbuchschreiber:innen, [1][Künstler:innen] sind hier auf Klebezetteln | |
| angepinnt: Victoria Amelina (1986 – 2023), Volodymyr Vakulenko (1972 – | |
| 2022), Yuliia Shevchenko (1999 – 2023), mehr Namen, noch mehr Namen. | |
| Darüber steht die Zahl 263. So viele Kulturschaffende zählt die Ukraine | |
| bislang, die dem russischen Angriffskrieg zum Opfer gefallen sind. Das | |
| Projekt „Nedopysani“ („disrupted writings“) erinnert an die Toten und i… | |
| Texte. | |
| [2][Die Ukraine] ist, zum Glück, auch dieses Jahr wieder sehr präsent bei | |
| der Frankfurter Buchmesse, der Slogan „Stand with Ukraine“ wird hier | |
| doppeldeutig. Um Gedenken geht es dabei einerseits, ist doch die gezielte | |
| Auslöschung der Intellektuellen durch Russland vergleichbar mit der | |
| „Erschossenen Wiedergeburt“ unter Stalin in den 1930er Jahren. Zugleich | |
| zeigt sich hier die enorme Produktivität der ukrainischen Kultur zu | |
| Kriegszeiten. | |
| ## Weibliche Stimmen in Zeiten des Krieges | |
| „[3][Die Ukraine ist mehr als nur der Krieg]“, sagt etwa Slava Svitova bei | |
| einer Veranstaltung zu weiblichen Stimmen im Krieg („The Role as Witnesses | |
| To History“). „Es ist wichtig zu zeigen, was wir anzubieten haben, eine | |
| vitale feministische Szene, Kultur, Film, Musik, Start-Ups, die ständig | |
| Neues entwickeln.“ Svitova hat in Kyjiw den Creative Women Space und den | |
| Verlag Creative Women Publishing gegründet. | |
| Die Schriftstellerin Yulia Iliukha aus Charkiw, die ebenfalls auf dem | |
| Podium sitzt, sagt, weibliche Stimmen seien in der Geschichte oft | |
| unsichtbar und unerhört gewesen zu Kriegszeiten, dies zu ändern sei ihre | |
| Agenda. Iliukha hat für ihren Band „Meine Frauen“ vierzig Frauen im Krieg | |
| porträtiert – es ist ein naher, intimer, brutaler, ungeschönter Blick auf | |
| das Frausein im Krieg. | |
| Was der Krieg auch hervorgebracht hat: eine eigene militärische Einheit, | |
| die für Kultur zuständig ist. Die Cultural Forces bringen Musik und | |
| Literatur an die Front, vergleichbar etwa mit der Wolf Pack Band der | |
| US-Armee im Zweiten Weltkrieg. In Frankfurt sitzt Vladyslav Holovin in | |
| Soldatenuniform am Messestand, er ist für die Kommunikation der rund 100 | |
| Mann und Frau starken Einheit zuständig. | |
| Die Truppe bestünde vor allem aus Künstler:innen, die als Soldat:innen | |
| gedient haben und im Kampf versehrt und verletzt wurden. „Wir sagen ihnen: | |
| du kannst unsere Streitkräfte weiter unterstützen, mit deiner Gitarre, | |
| deiner Geige oder deiner Stimme“, erzählt Holovin. „So stärkst du die Mor… | |
| unserer Leute.“ Holovin zeigt ein Insta-Video des ukrainischen Opernsängers | |
| Yurii Ivaskevych. Er verlor ein Bein, trägt nun eine Prothese und singt | |
| unter anderem vor seinen Kamerad:innen an der Front. | |
| ## Zwischendurch gibt es Gedenkmomente | |
| Rund 200 Veranstaltungen monatlich organisiere die Einheit, so Holovin, | |
| meistens fänden die Lesungen und Konzerte vor einer kleinen Gruppe von | |
| Soldat:innen statt. Seit dreieinhalb Jahren gibt es die Cultural Forces, | |
| ein prominenter Unterstützer ist Schauspieler Sean Penn. Großes Thema sei | |
| derzeit, wie sie die psychologische Unterstützung durch ihre Einheit | |
| verbessern könnten, so versuchten sie Psycholog:innen für die Einheit | |
| zu gewinnen, die selbst über Kampferfahrung verfügen und so den | |
| Frontsoldat:innen besser helfen könnten. | |
| Zwischendurch wieder Gedenken, in der St. Katherinenkirche liest Juri | |
| Andruchowytsch am Donnerstagabend den Text „Debora Vogel evakuieren“ von | |
| der getöteten ukrainischen Schriftstellerin Victoria Amelina. Sie erzählt | |
| in der Geschichte, wie sie zu Beginn des russischen Angriffskriegs Bücher | |
| aus ihrer Wohnung in Sicherheit bringt. Von verfolgten Ukrainer:innen, der | |
| ermordeten jüdischen Schriftstellerin Debora Vogel. Von ihr ist mehr | |
| geblieben als nur ihr Name. | |
| Was bringt die Messe noch? Die Entdeckung der klassischen ukrainischen | |
| Literatur im deutschsprachigen Raum ist in vollem Gange. So veröffentlicht | |
| der Wallstein Verlag eine Ukrainische Bibliothek mit bedeutenden Werken des | |
| 19. und 20. Jahrhunderts, herausgegeben wird die Reihe von der Übersetzerin | |
| Claudia Dathe und der ukrainischen Schriftstellerin und Essayistin Tanja | |
| Maljartschuk. | |
| Werke von Lesja Ukrajinka („Am Meer“) und Taras Schewtschenko („Flieg mein | |
| Lied, meine wilde Qual“) sind bereits erschienen. Ebenfalls überfällig war | |
| das im Frühjahr erschienene Kompendium „Ukrainische Literaturgeschichte“ | |
| von Ulrich Schmid in der Metzler Bibliothek. Nachgezeichnet wird darin die | |
| Kulturgeschichte der Ukraine von der Kyjiver Rus bis heute. Man hat den | |
| Eindruck: [4][Nun wird nachgeholt], was seit 1991 (und davor) versäumt | |
| wurde. Gut so. | |
| 19 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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