# taz.de -- Kultur als Widerstand in der Ukraine: Wörter wie ausgebrannte Panz… | |
> In Zeiten des Krieges ist Kultur in der Ukraine ein Medium der | |
> Selbstbehauptung. Ein Besuch beim Czernowitzer Literaturfestival und | |
> einem Punkkonzert. | |
Bild: Die Stadtgesellschaft von Czernowitz versucht, an ihre multikulturelle Ge… | |
„Im Sommer 2014 flohen wir mit Säugling auf dem Arm aus Donezk. Danach | |
hatte ich große Angst, schwanger zu werden. Ich hatte den Eindruck: Wenn | |
ich schwanger werde, geht es los. Ich war im zweiten Monat, als wir aus dem | |
Umland von Kyjiw flohen. In Tscherniwzi verlor ich das Baby. Der Arzt | |
sagte, dass es seit Kriegsbeginn jeder dritten seiner Patientinnen so | |
ergehe: Die Kleinen beschließen, uns zu früh zu verlassen. In seinen | |
dreißig Jahren als Arzt hat er so etwas noch nicht erlebt.“ | |
Das hat eine Frau namens Tanja dem ukrainischen Schriftsteller Ostap | |
Slywynskyj berichtet. Slywynskyj hat sich von Menschen erzählen lassen, wie | |
sich die Bedeutung von einzelnen Wörtern im Krieg für sie verändert hat. | |
Tanjas Bericht ist dem Wort Schwangerschaft gewidmet. Zweimal ist sie vor | |
dem russischen Angriffskrieg seit Februar 2022, den Raketen, Panzern und | |
Folterkellern geflohen. | |
Erst floh Tanja aus Donezk, einer der beiden von Moskau gesteuerten | |
„Volksrepubliken“, nach Wyschhorod, eine Kleinstadt nördlich von Kyjiw. Von | |
dort nach Tscherniwzi, wie Czernowitz auf Ukrainisch heißt. Hier, in | |
Czernowitz stellt Ostap Slywynskyj nun auf der Bühne des | |
Literaturfestivals Meridian Czernowitz „Wörter im Krieg“ vor. So heißt se… | |
schmaler Band auf Deutsch. Die ukrainische Fassung ist im Verlag Meridian | |
Czernowitz erschienen, der aus dem seit 15 Jahren existierenden Festival | |
entstanden ist. | |
## Traurige Gesichter | |
Erst nachher, auf den Fotos, die das Publikum zeigen, sieht man, wie | |
traurig die Gesichter der Frauen sind. Sie sind in der Mehrzahl, in diesem | |
Raum, draußen auf den gepflasterten Straßen der Stadt, in den Geschäften | |
und beim Baden im Pruth. Dazwischen wenige, entweder ältere oder jüngere | |
Männer. Die Ukraine zieht die Jungen erst ab 25 zur Armee ein. Der Horror | |
der Front soll ihnen erspart werden, bis sie erwachsen sind. „Das ist unser | |
Krieg“, sagen viele Väter, wenn sich die Söhne vorher freiwillig melden | |
wollen. | |
Das berichtet einer der jungen Männer unter 25, die ich bei einem Konzert | |
der Band Medovyi Polyn in einem Pub treffe. Auch sein Vater hat ihm | |
verboten, sich freiwillig zu melden. Es sei ein Problem, erzählt er, dass | |
sich viele Männer im wehrfähigen Alter versteckten. „Sie beharren darauf, | |
dass es ihr Recht ist, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Aber als Bürger | |
hast du nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.“ | |
In Czernowitz ist der Krieg stets präsent, obwohl die Stadt von russischen | |
Raketenangriffen bisher verschont geblieben ist. Auch hier gilt zwischen | |
Mitternacht und fünf Uhr morgens die Sperrstunde. Ab Mitternacht wird in | |
unserem Viertel der Strom abgeschaltet. Energie ist knapp, weil die Russen | |
ständig die Infrastruktur der Ukraine angreifen. Die Ukrainer sollen im | |
Winter frieren, bis sie aufgeben und zu einem Vasallenstaat Moskaus werden, | |
in dem es keine Demokratie mehr gibt. [1][Denn die Russinnen und Russen | |
könnten angesichts der Tatsache, dass es ein slawisches Nachbarland gibt, | |
in dem sich eine pluralistische Gesellschaft entwickelt, auf dumme Ideen | |
kommen.] | |
## „Können wir das Wort ‚Bruderschaft‘ wiederaufbauen?“ | |
Wenn man sich in diesem Keller eines Pubs in der Innenstadt von Czernowitz | |
die Musik von Medovyi Polyn anhört, wenn man mit den jungen Männern und | |
Frauen spricht, die zum Konzert gekommen sind, bekommt man den Eindruck, | |
dass Putins Rechnung nicht aufgehen wird. In einem ihrer Lieder singen | |
Medovyi Polyn über die Figur des Separatisten, die eine Metapher für all | |
jene ist, die der russischen Propaganda zum Opfer gefallen oder als Agenten | |
Moskaus tätig sind. | |
Das Lied ist fröhlich, die Botschaft einfach: „Ljocha, du bist Separatist, | |
dein Vater ist ein Kommunist. Ljocha, deine Mutter ist ein Kommunist, deine | |
Schwester ein Russist.“ Russist, im Original „Raschist“, ist ein | |
Neologismus. Er bezeichnet einen russischen Faschisten, der die | |
Eigenständigkeit der Ukraine und ihrer Sprache nicht anerkennt. Das Lied | |
endet rabiat: „Es ist an der Zeit, die Moskoviter zu erschießen und keinen | |
nach Hause zu lassen.“ | |
Der Schriftsteller Ostap Slywynskyj gibt sich versöhnlicher, indem er | |
fragt: „Können wir das Wort ‚Bruderschaft‘ wiederaufbauen, dass es uns | |
nicht mehr die Kehle verschnürt? Und selbst wenn diese Wörter im Feld | |
zurückbleiben, unnütz und stumpf wie ausgebrannte, feindliche Panzer, lohnt | |
es sich dann ihnen nachzutrauern? Werden wir nicht auch so genug zu | |
betrauern haben?“ | |
## Jiddisch und deutsch | |
In Czernowitz gab es auch vor diesem Krieg viel zu betrauern. Bis 1918 war | |
es Hauptstadt des Bukowiner Kronlands, das zum Habsburger Reich gehörte. | |
Zeugnis davon geben viele Häuser und die prächtige Residenz des | |
Metropoliten der Bukowina und Dalmatiens, die heute das Hauptgebäude der | |
Universität ist. Danach fiel die Stadt Großrumänien zu, bis im Jahr 1940 | |
die Rote Armee die Nordbukowina besetzte. 1941 marschierten wieder die | |
Rumänen ein, und mit ihnen das Einsatzkommando 10b der Einsatzgruppe D von | |
Otto von Ohlendorf, das die Führer der jüdischen Gemeinde ermordete und | |
mithilfe der Truppen des faschistischen rumänischen Regimes den Großteil | |
der jüdischen Bevölkerung deportierte. | |
In Czernowitz lebten einst Ukrainer, Rumänen, Polen, Deutsche und Juden. | |
Wenn letztere moderne Juden waren, sprachen sie meist Deutsch. Es versprach | |
ihnen gesellschaftliche Teilhabe. Wer eine Tonaufnahme von Paul Celan | |
gehört hat, weiß, wie das Czernowitzer Deutsch klang. Ob Juden Deutsch | |
sprachen, war auch eine Klassenfrage, die ärmeren sprachen häufig weiter | |
Jiddisch. 1908 fand in „Jerusalem am Pruth“, wie die Stadt auch genannt | |
wurde, die Internationale Konferenz für die jiddische Sprache statt. Für | |
Jiddisch als Nationalsprache plädierte dort vor allem der sozialistische | |
Jüdische Arbeiter Bund. 55.000 Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in | |
Czernowitz. Am Schabbat kommen heute 20 bis 30 Menschen in die Synagoge. | |
## Acht Kilometer vor der Stadt | |
Die Stadtgesellschaft versucht an ihre multikulturelle Geschichte | |
anzuknüpfen. Die Organisator*innen von Meridian Czernowitz, das sich | |
angesichts des Kriegs nicht mehr „Festival“ nennt, betreiben das | |
Paul-Celan-Literaturzentrum in der ehemaligen Herrengasse, der Flaniermeile | |
der Stadt. Sie haben auch einige deutschsprachige Schriftstellerinnen und | |
Lyriker eingeladen. Unter den ukrainischen Vortragenden ist [2][Juri | |
Andruchowytsch], der mit Czernowitz seine eigene Geschichte hat. | |
Acht Kilometer von Czernowitz entfernt lag einst der Gegenpol zum | |
assimilierten Judentum der Stadt. Im Dorf Sadagora gründete Israel | |
Friedmann eine chassidische Gemeinde. Das Grab Friedmanns ist eine | |
Pilgerstätte. In eine Box aus Metall stecken die Pilger Zettel mit ihren | |
Wünschen. In Sadagora leistete Juri Andruchowytsch seinen Wehrdienst. | |
Später wurden unter dem Boden der Schlafsäle seiner Kaserne Trümmer der | |
Grabsteine des jüdischen Friedhofs gefunden. Die faschistischen Invasoren | |
hatten sie als Baumaterial benutzt. Hier scheint alles mit allem | |
zusammenzuhängen, durch die Zeiten hindurch. | |
## Ein Akt der Selbstbehauptung | |
Medovyi Polyn nennen ihre Musik „Narodnii Pank“, Volkspunk. Sind das | |
Rechte, gar die Nazis, die laut russischer Propaganda überall im Land am | |
Werk sind? Um die Texte in Liedern wie „Separatist“ von Medovyi Polyn | |
einordnen zu können, muss man mit den Leuten reden, die ihre Lieder | |
fröhlich mitsingen und dazu tanzen. Volkspunk ist für diese gebildeten | |
junger Ukrainer*innen offenkundig ein Ausdruck ihrer Resilienz. Mitten | |
im Krieg gemeinsam zu singen, ist ein Akt der Selbstbehauptung gegen den | |
russischen Terror. | |
Ein junger Mann, vielleicht 30, mit dunklen Haaren und strahlenden Augen, | |
nennen wir ihn Sascha, sagt: „Europa ist impotent. Wenn du angegriffen | |
wirst, musst du dich verteidigen.“ Sascha ist Soldat bei einer | |
Spezialeinheit, sagt er. Auch bei der Operation in Kursk sei er dabei | |
gewesen. Morgen müsse er wieder zum Dienst. „Ich war so wie ihr“, sagt er. | |
„Ich war Lehrer, ich war vegan. Was ich jetzt bin, das haben sie aus mir | |
gemacht. Wie ein Diamant, der über Jahre hinweg jeden Tag geschliffen | |
wird.“ | |
Er sei in russische Gefangenschaft geraten. Was er dort erlebt, was er an | |
der Front gesehen hat, frage ich ihn nicht. Sascha ist sich sicher, dass | |
sie in einem halben Jahr Russland besiegt haben werden. Er und seine | |
Freundinnen und Freunde sind in einer Hinsicht immer noch wie wir. Sie sind | |
aufgeklärt, emanzipiert, antirassistisch, gegen Homophobie. | |
## „Können wir das Wort ‚Frieden‘ noch heilen?“ | |
Ostap Slywynskyj fragt in einem Gedicht: „Können wir das Wort ‚Frieden‘ | |
noch heilen, dass aus ihm keine bis auf die Zähne bewaffneten Besatzer mehr | |
platzen?“ Ich wünschte mir, dass deutsche Friedensfreunde, die am liebsten | |
sofort die europäische Unterstützung der Ukraine eingestellt sähen, diese | |
Zeilen Ostap Slywynskyjs nicht nur lesen, sondern auch verstehen würden. | |
Die Leute in Czernowitz machen uns immer wieder deutlich, dass sie unseren | |
Besuch als Ausdruck dafür sehen, dass sie von Europa nicht vergessen sind. | |
Mir ist das peinlich. Denn ich weiß ja wie sie, dass es bei uns genügend | |
Leute gibt, die denken, man müsse nur genügend „Diplomatie“ betreiben, die | |
„berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“ achten, und der Krieg käme | |
an ein Ende. | |
Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. Nur Putin kann den Krieg | |
beenden, und das wird er nur tun, wenn der Preis für ihn zu hoch zu werden | |
droht. Die Ukraine braucht nicht den Ratschlag, doch endlich zu verhandeln. | |
Sie braucht Waffen, um jene russischen Flughäfen anzugreifen, von denen aus | |
russische Flugzeuge starten, die Tag um Tag, Nacht um Nacht Gleitbomben und | |
Raketen auf ukrainische Elektrizitätswerke, Wohnhäuser und Menschen | |
abfeuern. | |
23 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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