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# taz.de -- Russischer Anarchist verteidigt Ukraine: „Wir kämpfen gegen Puti…
> Er und seine Genossen wollen die freie Gesellschaft an der Front
> verteidigen: Gespräch mit einem russischen Anarchisten, der auf
> ukrainischer Seite kämpft.
Bild: Ein Militärfahrzeug auf einer schlammigen Straße im Donbass, in der Nä…
taz: Herr Leschin, warum beteiligen sich Anarchisten in der Ukraine am
Krieg?
Ilya Leschin: Dafür gibt es viele Gründe. Die Anarchisten in der Ukraine
sind keine homogene Gruppe. Das liegt unter anderem daran, dass es neben
lokalen Aktivisten auch ziemlich viele Menschen gibt, die in den
vergangenen Jahren [1][wegen politischer Repression aus Belarus] und
Russland in die Ukraine gekommen sind. Das bedeutet nicht notwendigerweise,
dass es große politische Unterschiede zwischen ihnen gibt, aber ich denke,
dass sich daraus ein Unterschied in den Perspektiven ergibt. Es gibt
verschiedene Motive und Gründe, an dem aktuellen Konflikt teilzunehmen.
Ja, aber aus ideologischer Sicht ist es doch ziemlich absurd, [2][dass
Anarchisten] so etwas wie die staatliche Souveränität in einem Krieg
verteidigen, meinen Sie nicht?
Ich glaube wirklich nicht, dass wir das tun. Uns geht es nicht darum, die
Souveränität des Staates zu verteidigen. Wir wollen die Existenz der
Gesellschaft verteidigen. Die Invasion der russischen Diktatur droht, die
gesamte Gesellschaft, den gesamten Lebensstil und alle Freiheiten zu
zerstören. Am Beispiel der Städte, die bereits von russischen Kräften
erobert wurden, können wir sehen, wie Millionen Menschen vertrieben wurden.
Tausende von Menschen werden verhaftet, gefoltert. Wie das politische
Regime in diesen, wie sie es nennen, „befreiten Gebieten“ handelt, kann man
nicht anders als totalitäre Diktatur beschreiben. Für uns ist das ein
natürlicher Grund, uns zu wehren. Für die Regime von Wladimir Putin und
Alexander Lukaschenko steht in diesem Kampf ihr Schicksal auf dem Spiel.
Wenn sie verlieren, werden sie besiegt. Dann gibt es für uns viele
Möglichkeiten, dass sich in unseren Ländern etwas wesentlich ändert. Und
wenn wir etwas Freieres sehen wollen, etwas, das unseren libertären, linken
oder wie auch immer gearteten sozialistischen Idealen näher kommt, dann
müssen wir zuallererst diesen Regimen entgegentreten. Im Kampf gegen diese
Regime kann unsere politische Alternative dazu geboren werden, in Form von
sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstverwaltung und so weiter.
Wie viele Menschen sind in der Ukraine denn aktuell in anarchistischen
Gruppen aufgestellt?
Viele haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen. Sie sind damit
Teil jener ukrainischen Streitkräfte, die weniger als professionelle Armee
aufgestellt sind, sondern eher im Stil einer Miliz. Auch die
Territorialverteidigung wird vom Staat organisiert, das möchte ich klar
sagen. Manchmal kursieren Mythen über selbst organisierten
Guerilla-Widerstand oder so etwas. Wie viele Anarchisten kämpfen, weiß ich
wirklich nicht. Ich erinnere mich an mehrere Dutzend. Es gab auch eine
antiautoritäre Einheit in der Territorialverteidigung, die aber nicht nur
wegen bürokratischer Hürden nur für vier oder fünf Monate zusammenhielt.
Ist [3][die Zwangsrekrutierung für Männer] noch ein Thema für Sie?
Innerhalb von anarchistischen oder insgesamt bei jungen Menschen wird es
doch daran Kritik gegeben haben, oder?
Ja, sicher. Und ich persönlich bin auch kritisch gegen die
Zwangsrekrutierung, aber ich würde sagen, ich habe eine Kompromissposition,
weil ich die Notwendigkeit sehe, das Übel mit den Werkzeugen, die wir
haben, zu konfrontieren. Es gibt viele Menschen, die gegen diese
Verpflichtung sind, und ich habe viele männliche Genossen, die sich
stattdessen in zivilen Strukturen engagieren und die nicht gezwungen
werden, zur Armee gehen. Ich weiß nicht, wie genau dieser Prozess
organisiert wird, ich bin selbst an der Front etwas isoliert davon.
In Deutschland gibt es eine andauernde Debatte über die Lieferung von
Waffen in die Ukraine. Nach längeren Diskussionen hatte die Bundesregierung
zuletzt entschieden, Leopard-2-Panzer in die Ukraine zu liefern. Macht Sie
das glücklich?
Glück ist ein großes Wort. Meine Genossen und ich sind sehr kritisch
gegenüber dem westlichen Imperialismus, den westlichen Interventionen in
unserem Leben und in verschiedenen Teilen der Welt. Aber unter den
derzeitigen besonderen Bedingungen halte ich diesen Schritt für sinnvoll
und fortschrittlich.
Was meinen Sie mit den westlichen imperialistischen Mächten? Warum sehen
Sie diese im ukrainischen Kontext kritisch?
Nein, im ukrainischen Kontext ist es meiner Meinung nach viel richtiger,
von russischem Imperialismus zu sprechen. Die westliche Intervention ist
hier in Form der internationalen Währungsinstitutionen zwar
offensichtlich, die eine neoliberale Politik im ukrainischen Staat
vorantreiben. Aber wenn wir die Zerstörung und den ultimativen
Autoritarismus sehen, der im Moment von den putinistischen Invasoren
betrieben wird, dann scheint es sehr schräg, den westlichen Imperialismus
zu kritisieren. Wenn einige Leute dich mit irgendwelchen Geldreformen
ausbeuten wollen und die anderen gekommen sind, um dich zu töten und zu
versklaven, dann musst du natürlich die Waffen von allen Leuten nehmen, die
sie dir anbieten. Ich denke, dass es für das westliche progressive und
linke Publikum wichtig ist zu erkennen, dass es mehr als eine
imperialistische Kraft in dieser Welt gibt. Nicht nur die USA oder der
sogenannte kollektive Westen, sondern auch der russische Staat, der
türkische Staat oder was auch immer sind Imperialisten und sollten für
eine korrekte Analyse als solche anerkannt werden.
Linke Menschen in Deutschland sagen auch, dass die territoriale Integrität
Russlands und seine Grenzen durch die Aktivitäten der EU und der Nato in
der Ukraine bedroht waren. Glauben Sie, dass die EU und die Nato den
Einmarsch Russlands vor einem Jahr in die Ukraine provoziert haben?
Nein, nein. Für mich klingt das nach einer absoluten Verschwörungstheorie.
Zunächst einmal glaube ich nicht, dass territoriale Integrität ein
relevanter Wert für progressive Linke sein sollte, aber lassen wir diese
Frage mal beiseite. Die Antwort ist Nein. Seit 2014 ist es der russische
Staat, der die ukrainische territoriale Integrität angreift. Das ist
ziemlich klar. Sie haben seit 2014 viele Gebiete annektiert, und jetzt
haben sie versucht, das ganze Land zu erobern. Das ist Goebbels-Mentalität,
wenn man einen aggressiven Krieg führt und sich selbst als Opfer
stilisiert. Das ist wirklich lächerlich.
Manche Deutsche halten sich auch wegen der deutschen Geschichte zurück, im
Krieg politisch Stellung zu beziehen. Sowjetische Streitkräfte spielten
eine zentrale Rolle darin, Nazideutschland zu besiegen. Heute sagen vor
allem ältere Linke, dass Deutschland vorsichtig sein sollte, sich in der
Ukraine zu engagieren, weil Deutschland für viele Gräueltaten in der Region
verantwortlich ist. Was halten Sie von dieser Position?
Auch das finde ich nicht richtig. Das ist einfach nicht die Geschichte von
vor mehr als 80 Jahren, die sich hier gerade abspielt. Und wenn wir uns die
Geschichte des Zweiten Weltkriegs anschauen, dann hat die Ukraine einen
hohen Blutzoll gezahlt und wurde von den Nazis sehr, sehr stark zerstört.
Es war die Sowjetunion, die sich Nazideutschland entgegenstellte. Und die
Ukrainer spielten dabei keine geringere Rolle als die Russen. Das ist auch
eine imperialistische, kolonialistische Logik, wenn wir sagen, oh, es gab
eine Sowjetunion, und das ist ein Synonym für Russland. Aber ich bin kein
Fan davon, mit dieser Geschichte zu spielen, denn der Sowjetstaat war auch
sehr problematisch in Bezug auf die Freiheiten des Volkes und die soziale
Gerechtigkeit und so weiter. Es ist also ein völlig falsches Argument, dass
die Geschichte die deutsche Gesellschaft davon abhalten sollte, der
ukrainischen Gesellschaft zu helfen, sich auf ihrem Gebiet gegen die
aggressive Invasion der Imperialisten zu verteidigen. Vielmehr würde ich
sagen, das ist eine Verpflichtung. Wenn die deutsche Gesellschaft sich für
diesen Teil der Welt verantwortlich fühlt, dann sollte sie natürlich den
Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen diese Invasion zu schützen.
Sie sind selbst Russe, leben in der Ukraine und kämpfen mit den
ukrainischen Streitkräften. Warum?
Ich musste mein eigenes Land verlassen wegen politischer Repression, wegen
der direkten Bedrohung durch Folter und Inhaftierung, wegen meiner
revolutionären Aktivitäten. Und für mich, sowohl persönlich als auch
politisch, war es einfacher, eine neue Basis in der Ukraine zu finden, wo
meine Sprache verstanden wird, wo viele meiner Genossen bereits leben. Und
wo ich nicht so von meiner Heimat abgeschnitten bin. Mit dem Krieg finde
ich mich wieder an der Spitze des Kampfes gegen Putins Regime, den ich auch
viele Jahre in Russland geführt habe.
Sie sind sicherlich noch in Kontakt mit aktivistischen Gruppen in Russland.
Zu Beginn des Krieges konnten wir Bilder von Demonstrationen dort sehen.
Heute scheinen diese Proteste zum Erliegen gekommen zu sein. Sehen Sie
Chancen, dass die russische Zivilgesellschaft dem Krieg von innen heraus
entgegenwirken kann?
Ja, ich sehe solche Chancen. Der friedliche Protest wurde wirklich
gebrochen. Aber wir sehen einige, ich würde sagen: Guerilla-Aktionen,
Sabotage. Und wir sehen auch, dass Anarchisten und Revolutionäre daran
beteiligt sind. Anarchokommunistische Kampforganisationen verüben zivile
Sabotageaktionen gegen militärische Objekte in Russland. Es ist sehr gut,
dass unter dieser Masse anonymer Guerillas Anarchisten eine entscheidende
Rolle spielen. Auch wenn Druck von den staatlichen Parteien sehr, sehr hart
ist.
Sollten nicht Anarchisten aktiv Friedensgespräche mit Russland
vorantreiben?
Ich denke, dass die russische Invasion zurückgeschlagen werden sollte. Es
ist absolut legitim, wenn sich Menschen auch mit Waffengewalt verteidigen.
Ich glaube auch, dass dies eine Perspektive für soziale Veränderungen
innerhalb Russlands eröffnen wird. Nachdem die Besatzer besiegt sind, denke
ich, dass Friedensgespräche oder was auch immer möglich sein können. Im
Moment glaube ich nicht, dass ein Kompromissabkommen mit einem autoritären
Regime wirklich fruchtbar sein kann. Die Diktatur sollte hier besiegt
werden. Das ist der fortschrittliche Schritt.
12 Mar 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Cem-Odos Güler
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