# taz.de -- Ukrainische Freiwillige an der Front: Nur Idioten haben keine Angst | |
> In der Ukraine kämpfen auch Polizeieinheiten gegen die Invasoren. Eine | |
> Gruppe der Kyjiwer Polizei kümmert sich in der Ostukraine um befreite | |
> Dörfer. | |
Bild: Zerstörte Gebäude in Pisky-Radkiwski im Gebiet Charkiw zeugen von der… | |
Dichter Schneefall hängt über dem Dorfplatz. Ein grauer Tag, Mitte Februar, | |
Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt. Eine junge Frau füttert einen | |
Straßenhund. Ein Mann nähert sich ihr stotternd: „Oh, sie füttern Hündche… | |
Darf ich auch mal?“ Er bekommt einen Hunde-Snack. | |
Und beißt herzhaft hinein. | |
Ein Uniformierter springt herbei: „Das müssen Sie nicht essen, gehen Sie | |
ins Kulturhaus, dort bekommen Sie Lebensmittel.“ Der Mann dreht sich um, | |
entdeckt in einiger Entfernung die Warteschlange. Er spuckt das Tierfutter | |
aus und stellt sich an. Der Hund lässt das ausgeworfene Stück liegen. | |
Der Uniformierte ist Oleksandr, sein Kampfname „Prapor“, ukrainisch für | |
Flagge. Von aktiv Kämpfenden sollen nur Vor- und Kampfnamen veröffentlicht | |
werden, um Familienangehörige zu schützen, falls diese in russische | |
Besatzung geraten sollten. Oleksandrs Polizeieinheit begleitet heute einen | |
Spendentransport in ein befreites Dorf. | |
Pisky-Radkiwski liegt im Süden der Region Charkiw, direkt an der Grenze zur | |
Oblast Donezk. In der Ferne donnern Schüsse, die Kampflinie ist in | |
Artillerie-Entfernung, keine 40 Kilometer östlich von hier. Von April bis | |
September herrschte in dem 1.500-Seelen-Dorf das russische Militär. Die | |
Gemeindeverwaltung kollaborierte, sie floh später nach Russland. | |
## Bootsmann, Opa und Bär | |
Entsetzt über den Hunger des Mannes, steht Oleksandr mit von Kälte | |
gerötetem Gesicht neben seinen Kollegen der Polizeieinheit: Neben dem | |
jungen Jaroslaw, Kampfname „Bootsmann“, der tiefe Ringe unter den großen | |
hellen Augen hat, neben dem russischsprachigen Sergej, „Did“ (Opa), bei dem | |
besorgte und ironische Mimik kaum zu unterscheiden sind, und neben dem | |
kriegserfahrenen Kommandeur Oleh, „Medwed“ (Bär), ein großer Mann mit ein… | |
gutmütigen Lächeln. | |
Alle tragen Militärkleidung, erdfarbene Mützen, kürzere und längere Bärte. | |
Sie wirken gleichberechtigt, respektieren einander, veralbern sich auch | |
gegenseitig. Gibt es eine Aufgabe, packen alle mit an. Dass Oleh der Chef | |
ist, wird erst in Gesprächen deutlich: Er hat die Übersicht über die | |
Truppe, er kennt alle Aufgaben und Zuständigkeiten. Wenn er spricht, | |
unterbricht ihn niemand. Er übt auch mehr Kritik an den Umständen, am | |
ständigen Munitionsmangel beispielsweise. | |
Olehs Einheit hat im Laufe dieses Kriegsjahres schon dutzende Orte wie | |
Pisky-Radkiwsi von russischer Besatzung befreit. Dabei sind sie keine | |
Soldaten, sondern eine Freiwilligeneinheit der Kyjiwer Streifenpolizei. | |
Seit März 2022 werden sie eingesetzt im Kampfgebiet. Etwa einmal im Monat | |
begleiten sie wie heute Spendentransporte von Freiwilligen aus Deutschland | |
und Kyjiw in frontnahe Orte, die kaum von großen NGOs beliefert werden. „Es | |
ist wichtig für uns zu sehen, dass wir nicht vergessen werden“, hören sie | |
dann oft. | |
## Ihre Unterkunft liegt im Hinterland | |
Während der Autofahrt berichten sie von ihren Erlebnissen, zeigen Bilder | |
und Videos. Sie erfreuen sich an funktionierendem Mobilfunkempfang, | |
geöffneten Läden und Tankstellen. Ihre Aufgabe hat etwas Befriedigendes, | |
Leben kehrt zurück in die Orte, die die Ukraine zurückerobert hat. | |
In Pisky-Radkiwski machen sie eine Schneeballschlacht. Eine Abwechslung zum | |
täglichen Verteidigungskampf. Denn die Hauptaufgabe aller ukrainischen | |
Streitkräfte an der Front − auch der Polizisten − besteht darin, die | |
russische Invasion abzuwehren. „Auch unser Ziel ist es, dass möglichst | |
wenig russische Soldaten übrig bleiben“, sagt der Kommandeur ernst. | |
Im Unterschied zu den Sturmeinheiten der Armee ist die Polizistentruppe nur | |
zeitweise an der Nulllinie. Einsatzbefehle bekommen sie vom Stab, aktuell | |
aus Isjum, oder direkt von Kommandeuren benachbarter Einheiten. Ihre | |
Unterkunft liegt im Hinterland. Sie sitzen nicht wochenlang in | |
Schützengräben unter russischem Dauerbeschuss wie die Frontsoldaten. | |
## Man hält sie für den Geheimdienst | |
Vielmehr sind es Leute wie Oleksandr, „Flagge“, die Soldaten manchmal auch | |
aus ausweglos erscheinenden Situationen retten: wenn beispielsweise deren | |
Fahrzeuge zerstört wurden, sie selbst aber versteckt überleben konnten. | |
Manchmal bringen sie auch spezialisierte Soldaten wie etwa Scharfschützen | |
zur Zieleinheit an die Front. „Wenn wir Soldaten evakuieren, glauben die | |
uns nie, dass wir Polizei sind“, sagt Oleksandr, „meistens hält man uns f�… | |
Geheimdienst.“ | |
Seit die Polizeieinheit Drohnen hat, gehört auch Luftaufklärung zu ihren | |
Aufgaben. Damit erkunden sie Stellungen der russischen Armee und deren | |
Kriegstechnik, geben Koordinaten weiter an den Stab. | |
Kommandeur Oleh erklärt beim Autofahren die Arbeit seiner Einheit. Der Jeep | |
hüpft über die verschneite Dorfstraße, die aus Isjum hinaus nach Süden | |
führt. Neben einem Fabrikgebäude steht noch ein Güterzug der russischen | |
Eisenbahn. „Haben sie nicht geschafft mitzunehmen, als sie fortgejagt | |
wurden“, sagt Oleh und die vier Polizisten lachen. | |
## Manchmal sind sie als Erste in befreiten Orten | |
Bei Befreiungsoffensiven verstärkt ihre Einheit die Armee, bekämpft die | |
Besatzer, nimmt gegnerische Soldaten gefangen. „Meist läuft es so: Wir | |
gehen rein, nehmen einen Gefangenen und bekommen von ihm Informationen“, | |
sagt Oleksandr. Später folgten Erstbefragungen von Bewohnern, auch Handys | |
dürften sie kontrollieren. Bei dem Verdacht auf Kollaboration übergebe man | |
an den Geheimdienst. | |
Wenn die russische Armee vertrieben ist, nehmen Oleh und seine Männer auf, | |
wer sich überhaupt noch in den Orten aufhält, wie viele Kinder, Verletzte, | |
Bedürftige. | |
Sind die Polizisten als Erste in befreiten Orten, entschärfen sie auch | |
Minen. Sie zeigen ein Handyvideo, auf dem sie mit Reifen Straßenminen | |
überrollen und sie so sprengen. | |
„Bei manchen Ortsbefreiungen waren wir schon vor den Soldaten direkt in der | |
Offensive“, sagt Oleh. „Wir haben auch mehr Waffen als normale Polizisten: | |
Jeder hat eine Pistole, ein Sturmgewehr und einen Granatwerfer. Dazu kommt | |
leichte Artillerie für die Einheit, Panzerfahrzeug und | |
Mehrfachraketenwerfer.“ Insgesamt habe seine Einheit schon mehr als 1.000 | |
Gegner getötet, sagt Oleh. Tote in der eigenen Truppe habe es angeblich | |
noch nicht gegeben, Verwundete schon. | |
Viele Berichte über russische Rekruten hält Kommandeur Oleh aber für | |
falsch: „Es gibt bei den Russen auch sehr gut ausgerüstete und geschulte | |
Einheiten. Der Großteil sind einfache Leute. Aber Quantität wandelt sich | |
mit der Zeit in Qualität.“ Wer überleben wolle, lerne zu kämpfen, sagt er. | |
„Nur wofür die eigentlich kämpfen, das weiß ich noch immer nicht.“ | |
## Jeder konnte sich bewerben | |
Die Patrouillenpolizei als Abteilung entstand in der Ukraine 2015. Nach dem | |
Euromaidan wurden Formationen wie „Berkut“, das unter dem damaligen | |
Präsidenten Janukowitsch Demonstrierende beschoss und tötete, aufgelöst. | |
Die Polizeistrukturen wurden jahrelang reformiert. | |
Die Nationale Polizei kümmert sich nun um Verbrechensaufklärung, die | |
Streifenpolizei um Straßenverkehr und Ordnung im öffentlichen Raum. In | |
Großstädten wie Kyjiw sind das zwei getrennte Abteilungen mit je eigener | |
Leitung, beide dem Innenministerium unterstellt. | |
Als Russland am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel, | |
organisierte auch der Chef der Kyjiwer Patrouillenpolizei eine eigene | |
Freiwilligeneinheit, offizielle Bezeichnung: „kombinierte Abteilung der | |
Streifenpolizei“. Jeder konnte sich bewerben. | |
Auf einer Dienstreise in Tschechien sei der Kyjiwer Chef dafür von Kollegen | |
kritisiert worden, erzählt Oleksandr, weil Polizisten im Krieg nicht zu | |
kämpfen hätten. Das gehöre einfach nicht zu ihren Aufgaben. Er habe | |
erwidert: „Wenn die Russen zu euch kämen, würdet ihr auch alle kämpfen.“ | |
## Zuletzt arbeitete er als Pyrotechniker | |
Kommandeur der Polizeieinheit wurde Oleh, der „Bär“. Er ist Freiwilliger | |
wie alle anderen in der Einheit. Er ist groß, um die 50, spricht und bewegt | |
sich ruhig. Er war schon in Afghanistan und im Irak als Vertragssoldat für | |
die U.S. Army. Im zivilen Leben arbeitete er zuletzt als Pyrotechniker für | |
Kino- und Netflixfilme wie „The last Mercenary“ mit Jean-Claude van Damme. | |
Im März 2022 wählte er bei Trainingswochen in Kyjiw die Bewerber für die | |
Fronteinheit aus. Die meisten von der Polizei, aber auch Anwälte, Ärzte, | |
Unternehmer. „Wir sind alle schon etwas älter, mit stabilem Charakter und | |
Einkommen.“ Bei den Übungen habe er gesehen, wer sich wie verhält. „Wer | |
nicht geeignet schien, den haben wir nach Hause geschickt.“ | |
Ihr erster Einsatz war Ende März 2022 bei der Befreiung der Kyjiwer Vororte | |
Butscha und Irpin. Über den Sommer waren sie im Gebiet Mikolajiw | |
stationiert, seit Herbst bei Lyman im Gebiet Donezk. In ihr Lager dürfen | |
keine Zivilisten oder Journalisten. Seit Anfang Februar ein amerikanischer | |
Helfer in der Nähe getötet wurde, gelten strengere Sicherheitsvorkehrungen. | |
Von Lyman aus waren sie bei der Befreiung der Gegend um Isjum beteiligt, | |
starteten zu Einsätzen bei Bachmut. „Im Süden wurden wir oft herzlich und | |
mit Flaggen begrüßt“, erinnert sich Kommandeur Oleh. „Hier im Donbass gibt | |
es mehr prorussische Leute, wir nennen sie ‚Schduny‘, die ‚Wartenden‘ �… | |
Leute, die sogar unter Dauerbeschuss auf den ‚russischen Frieden‘ warten.“ | |
In Isjum sei das noch eine Minderheit gewesen, in Lyman schon etwa die | |
Hälfte. | |
## Hier war ein Panzer im Fluss abgesoffen | |
Es rumpelt. „Mist, bei dem Schnee sieht man die Schlaglöcher nicht“, sagt | |
Oleh. Und Löcher haben die Straßen hier mehr als Asphalt. Dann bremst Oleh | |
vor einer Brücke ab. Der Fluss heißt wie das Dorf: Oskil. Oleh erinnert | |
sich an den Befreiungseinsatz im Herbst: „Hier neben der Brücke war ein | |
russischer Panzer im Fluss abgesoffen.“ | |
Entlang der Straße und im Wald liegen noch immer Panzerskelette. „Neben | |
einem lag damals ein blutender Soldat. Der hatte seine Tourniquets, die | |
Aderpressen zum Stoppen von Blutungen, so fest an die Schutzweste | |
geschnürt, dass wir sie nicht abbekamen und ihn damit nicht retten | |
konnten.“ | |
Wenige Meter weiter sagt Oleh: „Hier war ein russisches Munitionslager, da | |
konnten wir uns mal gut bedienen.“ | |
## Sie könnten jeden Tag kündigen | |
Aktuell gehören 32 Männer, keine Frauen, der Polizei-Fronteinheit an, | |
Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Als Freiwillige könnten | |
sie praktisch jeden Tag kündigen und heimfahren. Diese Freiwilligkeit sei | |
„ein wichtiger Teil der Motivation“, sagt Oleh. | |
Da schaltet sich Jaroslaw, der „Bootsmann“, vom Rücksitz ein: „Während … | |
Militär auch Jungs kämpfen, die ihre Einberufung als Strafe bekommen haben, | |
weil sie beispielsweise die Sperrstunde verletzt haben, sind wir hier | |
freiwillig. Für uns wäre es eine Strafe, nicht an die Front gelassen zu | |
werden.“ | |
Jaroslaw ist 28, der Jüngste der Truppe, er spricht wenig und wenn, dann | |
nur leise. „Unser Minderjähriger“, lacht Oleh. „Dafür war ich bei der A… | |
sagt Jaroslaw trotzig. Er kommt ursprünglich von der Krim, lebt jetzt in | |
Kyjiw. Direkt nach dem Maidan und dem Ende seines Grundwehrdienstes ging er | |
als 19-Jähriger 2014 zur ukrainischen Armee in den Donbass. Dieser Einsatz | |
gegen die von Russland unterstützten sogenannten Separatisten in den | |
Gebieten Donezk und Luhansk heißt in der Ukraine Antiterroroperation (ATO). | |
„Aus heutiger Sicht war das echt nur eine Übung“, sagt Jaroslaw. | |
2019 kehrte er ins zivile Leben zu Frau und Sohn zurück. Bis die russische | |
Invasion 2022 ihn wieder in den Krieg zog. Neun Mal schon verbrachte er | |
seinen Geburtstag an der Front. | |
## An der Front gibt es klare Aufgaben | |
Oleksandr, die „Flagge“, war vom Militär für untauglich eingestuft worden. | |
„ ‚Solche wie dich nehmen wir nicht‘, sagten sie mir. Aber ich will vor d… | |
Russen nicht wegrennen.“ In Olehs Polizeieinheit hat er das Training | |
bestanden. „Im Einsatz hält Oleksandr die ganze Truppe zusammen“, lobt der | |
Kommandeur, „er macht alles.“ Oleksandr erzählt gern, wie er in den ersten | |
Monaten im Kampf das Autofahren mit Gangschaltung lernen musste. Wie er | |
später unter Beschuss geratene Soldaten über Minenfelder evakuierte. | |
Oleksandr ist Mitte 30, hat Musik studiert, Saxofon und Schlagzeug. Er | |
liebt Jazz, arbeitete später aber im Gleis- und Brückenbau. Während er sich | |
im zivilen Leben irgendwie durchschlagen musste, hat er nun an der Front | |
klare Aufgaben. „Ich habe über 20 Kilo zugenommen“, sagt Oleksandr und | |
lacht. „Ich verliere normalerweise Gewicht, wenn ich nervös bin. Aber hier | |
bin ich ganz ruhig.“ Er wundert sich selbst, dass er gerade im Krieg zu | |
sich findet. | |
## Die Armee hielt ihn für zu alt zum Kämpfen | |
Seinen Kollegen Sergej, Kampfname „Opa“, hielt die Armee für zu alt zum | |
Kämpfen. Mit Anfang 50. Sergej kommt aus dem Gebiet Donezk, viele aus | |
seinem Umfeld sind noch immer prorussisch eingestellt. „Einen Maidan gab es | |
bei uns im Donbass nicht“, erinnert er sich. „Als ich damals im Livestream | |
aus Kyjiw sah, wie das Berkut Molotowcocktails in die Proteste warf, hat | |
sich meine ganze Weltsicht umgedreht.“ Er stellte sich auf die Seite der | |
Maidan-Protestierenden. Und er ging 2014 mit seiner Frau in die | |
Zentralukraine, über Tscherkassy nach Kyjiw. | |
Seine Eltern sind seit Herbst im westukrainischen Exil, aber sie seien | |
„nicht sehr für die Ukraine“. „Mama ist neutral, Papa Separatist“, sag… | |
kühl. „Mama kommt aus Rjasan, Papa aus Kursk, sie lernten sich hier beim | |
Studium kennen. Bis heute können sie in ihren Köpfen nicht zurechtrücken, | |
dass Putin und Russland nicht dasselbe sind.“ | |
Die Familie bleibt in Kontakt. „Vorm Krieg sagten sie: ‚Wenn du kämpfen | |
gehst, sagen wir uns von dir los.‘ Jetzt kämpfe ich, aber sie haben das | |
nicht gemacht.“ | |
Ein Cousin von ihm kämpfe auf russischer Seite. „Wir haben beide einen | |
eigenen Kopf“, sagt Sergej. [1][„Aber diese Leute denken nur mit dem | |
Fernseher, sie glauben der Propaganda mehr als der Realität, die sie | |
kennen.“] | |
Was passiert, wenn die Cousins einander im Kampf begegnen sollten? „Wenn er | |
sich ergibt, kann er überleben“, sagt Sergej trocken. „Wir ziehen ja nicht | |
in sein Gebiet, um Rjasan zu erobern, sondern die kommen zu uns gekrochen.“ | |
## „Tiere sind die besseren Menschen“ | |
Ein Stopp in Jazkiwka, Donezker Gebiet. Das Ortszentrum ist eine | |
Trümmerlandschaft. Die Reste der Markthalle, der Behördengebäude und | |
Geschäfte liegen unter Schnee – dazwischen Fahrzeugteile, Metallplatten, | |
Hausruinen. Eine russische Kanone ist zum Abtransport aufgebockt: „Die | |
werden unsere Soldaten bald abholen“, sagt Oleh, „können wir noch | |
benutzen.“ Eine orthodoxe Holzkirche ist zerstört, daneben ein | |
Geburtshilfehaus. | |
Auf der Strecke von Isjum nach Lyman zum Lager der Polizisten sehen viele | |
Dörfer so aus, darunter die Orte Kamjanka und Dolyna. „Die Leute hier | |
wollten sich nicht besetzen lassen“, sagt Sergej. „Darum wurden viele | |
getötet.“ | |
Die Gegend ist nun ein menschenleeres Tal der Ruinen, mit verminten Wegen | |
und Feldern. Raketenreste und ausgebrannte Militärtechnik stecken am | |
Straßenrand und im Acker, schwarz sind Bäume und Boden. In Kamjanka nahmen | |
sie eine Straßenkatze mit. Leise sagte damals Oleksandr zu ihr: „Manchmal | |
denke ich, Tiere sind die besseren Menschen.“ | |
## Für normale Menschen sicher zu viel | |
Im Auto zurück nach Isjum sagt Oleh: „Vieles, was wir hier an der Front | |
sehen, ist für normale Menschen sicher zu viel.“ Posttraumatische | |
Belastungsstörungen erwischten irgendwann jeden. „Darum ist es gut, dass | |
wir hier stabile Männer haben, die nicht mit Saufen oder Drogen anfangen.“ | |
Über Angst sprechen die vier aber ungern. „Wovor soll ich noch Angst | |
haben?“, fragt Oleh, der nicht im Krieg, sondern bei einem Hausbrand 2019 | |
die schlimmste Verwundung seines Lebens davontrug: 93 Prozent seiner Haut | |
verbrannt, über 14 Monate Heilungsprozess. Er zeigt Bilder aus dem | |
Krankenhaus damals, jetzt sind nur noch kleine Narben zu sehen. „Ich habe | |
am meisten Angst, dass meine Angehörigen getötet werden könnten.“ | |
Sergej dagegen sagt: „Wenn wir zum Einsatz fahren, gibt es schon Angst. Am | |
meisten davor, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Aber im | |
Einsatz ist keine Zeit dafür. Da musst du fokussiert sein, alles hören, | |
sehen und abschätzen.“ | |
„Im Krieg gibt es eine einfache Regel“, sagt Oleh: „Was du vermasselst, | |
tötet dich!“ Verliere man nur wenige Sekunden die Konzentration, sei das | |
die Garantie dafür, dass man umkomme. „In diesem Krieg hat zum ersten Mal | |
ein Panzer direkt auf mich geschossen: Du hörst ihn starten, dann knallt | |
und fliegt es schon. Sofort hinwerfen, da bleiben keine drei Sekunden Zeit. | |
Und hoffen, dass es gutgeht.“ | |
## „Gut und viel schlafen. Das hilft“ | |
Gar keine Angst hätten nur Idioten, und auch das nur, bis sie selbst in | |
lebensgefährliche Situationen kämen. „Wir haben in Irpin gesehen, wie eine | |
Rakete direkt in ein ziviles Auto einschlug“, erinnert sich Oleh, selbst | |
aus Irpin. „Übrig blieben nur vereinzelte Teilchen von Auto und Körpern.“ | |
Man müsse irgendwie balancieren zwischen Angst und gesunder | |
Leichtsinnigkeit. „Und dabei nicht verrückt werden.“ Wie? „Gut und viel | |
schlafen. Das hilft.“ | |
Urlaub sei auch wichtig. Drei Wochen hatten die Polizisten gerade ab Mitte | |
Januar frei. „Es dauert dann schon einige Tage, bis man versteht, dass man | |
relativ sicher ist“, sagt der Kommandeur. Sie hätten Papierkram nachgeholt | |
und Familien besucht, berichten auch seine Männer. Waren mal draußen, weg | |
von der Front. | |
Zurück im Krieg steht nun der nächste Umzug bevor. Wohin, ist ungewiss. Die | |
Lage im Osten ist angespannt. Was passiert mit und um Bachmut? „Die Russen | |
wollen jetzt möglichst weit vorrücken, bevor der Boden taut und schwere | |
Technik stecken bleibt“, sagt Oleh. „Damit wir sie dann schwerer | |
zurückdrängen können.“ Gerade entsteht eine neue sogenannte | |
„Angriffsgarde“, acht Brigaden mit tausenden Freiwilligen. Sie sollen die | |
angestrebten ukrainischen Offensiven im Süden und Osten stärken. | |
Zum Abend gibt es dann ein improvisiertes Abschiedsgrillen in Isjum: | |
Zwischen niedrigen Ladenkiosken, von denen einzelne noch Beschussschäden | |
zeigen, wird Schaschlik vom Grill verkauft. Es schneit und dämmert. Ein | |
gutmütiger Straßenhund leistet den Polizisten und Helfern Gesellschaft, | |
lässt sich streicheln und wartet geduldig, bis er die letzten Fleischstücke | |
verschlingen darf. | |
## Sie glauben, dass die Ukraine gewinnen wird | |
Kommandeur Oleh vertraut darauf, dass die Ukraine gewinnen werde. Er | |
verweist auf strukturelle Unterschiede: „Wir sind horizontal organisiert, | |
es gibt kaum strenge vertikale Befehlswege: Wir brauchen nur die Zustimmung | |
vom Stab hier.“ | |
Einmal habe er ein Briefing einberufen und den Stab direkt gefragt: „Wir | |
haben Russen entdeckt, hier sind die Koordinaten. Dürfen wir sie ficken?“ − | |
„Fickt sie!“ Und es ging los. Seine Einheit sei immer in wenigen Minuten | |
startklar. „So sind wir schneller, die Russen reagieren oft zu langsam.“ | |
Mindestens noch einen Kriegswinter erwartet Oleh, also noch ein Jahr Krieg. | |
„Ich habe in komplizierten Situationen schon mal überlegt, nach Hause zu | |
fahren“, räumt er ein. „Aber was soll ich da sitzen, während …“ Er | |
unterbricht sich: „Nein.“ | |
Seine Jungs pflichten ihm bei: „Wenn wir aufhören zu kämpfen, gibt es uns | |
und unser Land nicht mehr.“ | |
21 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Peggy Lohse | |
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