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# taz.de -- 100. Todestag von Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes
> Der Vordenker des Anarchismus ist fast vergessen – obwohl er unter
> anderem Mahatma Gandhi, Ludwig Erhard und die Occupy-Bewegung beeinflusst
> hat.
Bild: Peter Kropotkin, Vordenker des Anarchismus in einem Gerichtssaal 1883
Was haben Mahatma Gandhi, Ludwig Erhard und die Occupy-Bewegung gemeinsam?
Sie alle wurden – direkt oder indirekt – von einem russischen
Naturforscher, Abenteurer und politischen Theoretiker inspiriert. Die Rede
ist von Peter Kropotkin. Als seinen „Lieblings-Anarchisten“ bezeichnete ihn
David Graeber, der im vergangenen Jahr verstorbene US-Anthropologe und wohl
bekannteste Kopf der Occupy-Bewegung.
Kropotkin habe beschrieben, „dass jene Spezies erfolgreich sind, die
miteinander kooperieren, und dass die sozialdarwinistische Lehre vom
Überleben des Stärkeren falsch ist“, sagte [1][Graeber] 2016 dem
Tagesspiegel. „Und was noch besser war bei Kropotkin: Er zeigte, dass Tiere
auch kooperieren, weil sie schlicht Spaß daran haben.“
Bevor Kropotkin jedoch der Darwin’schen Evolutionstheorie einige neue
Aspekte hinzufügte und später für Selbstorganisation und gegen Lohnarbeit
kämpfte, musste er zunächst seine ganz persönliche Evolution durchleben.
Geboren wird Pjotr Alexejewitsch Kropotkin am 9. Dezember 1842 als Kind
einer Moskauer Fürstenfamilie, die zahlreiche Ländereien mit mehr als
tausend Leibeigenen besitzt. Mit 15 Jahren schickt ihn sein Vater in den
Petersburger [2][Pagenkorps] – die Eliteschule der russischen Armee. Schon
damals hadert der junge Peter mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und
der starren Hierarchie im Zarenreich. Inspiration fand er in
gesellschaftskritischer russischer Literatur – besonders die Werke des
Schriftstellers Nikolaj Gogol prägen ihn – etwa dessen Werk „Die toten
Seelen“, in denen Gogol die Leibeigenschaft und Arroganz des Adels auf
satirische Weise anprangert.
## Gegenseitige Hilfe statt Daseinskampf
Um der geistigen Enge des Zarenhofs zu entkommen, lässt sich Kropotkin nach
der Militärausbildung in ein Kosakenregiment am Amur versetzen. Er nutzt
die Zeit vor allem, um zu forschen. Seit seiner Schulzeit fasziniert ihn
die Evolutionstheorie Darwins. Was dieser in den Tropen beobachtet hatte,
will er in der Taiga nachweisen. Stattdessen entdeckt er jedoch das
Gegenteil. Nicht der „Daseinskampf“ steht im Zentrum, sondern die
gegenseitige Hilfe. Bei Seeadlern und Falken etwa sieht er, dass sie neben
der Jungenaufzucht auch gemeinsam in Gruppen jagen und sich gegenseitig
beschützen. Und er sieht, dass sie spielen. Nur zum Vergnügen in Schwärmen
zu fliegen sei bei allen Arten von Vögeln weit verbreitet, schreibt er.
Kropotkins Beobachtungen beschränkten sich jedoch nicht auf die Tierwelt.
„Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Bauern, ihre Lebensweise und
Gewohnheiten, im täglichen Leben zu beobachten, und noch mehr Gelegenheiten
zu erkennen, wie wenig die staatliche Verwaltung, auch wenn sie von den
besten Absichten beseelt war, ihnen zu bieten vermochte“, schreibt er
später in seinen Memoiren. Der Staat sei keine Voraussetzung für eine
funktionierende Gesellschaft, sondern vielmehr ein Hemmnis. Hegte er schon
zuvor erhebliche Zweifel am herrschenden System, so verliert er in Sibirien
endgültig jeden „Glauben an die Staatsdisziplin“, wie er schreibt. „Ich …
nun bestens vorbereitet, Anarchist zu werden.“
Die Anarchisten bilden damals neben den Marxisten die bedeutendste Strömung
unter den Sozialisten. Und beide sind sich nicht gerade wohlgesinnt. Denn
während die Marxisten eine Umkehrung der Machtverhältnisse und eine
Diktatur des Proletariats anstreben, setzen die Anarchisten auf eine
Gesellschaft, in der niemand einen anderen Menschen beherrscht. Von den
„feindlichen Brüdern“ ist fortan die Rede. Doch auch unter den Anarchisten
gibt es widerstrebende Meinungen, sagt der Münchener Politikwissenschaftler
Peter [3][Seyferth]. „Anders als sein Vorgänger Michail Bakunin, der
Zerstörung und Gewalt als probate Mittel ansah, war Kropotkin kein solcher
Feuerkopf“, sagt Seyferth. „Im Zweifel sah er Gewalt als legitim an. Aber
er wollte keine terroristische Avantgarde schaffen.“
Vom Militär ernüchtert, quittiert Kropotkin nach seiner Rückkehr aus
Sibirien den Dienst und beginnt, in Sankt Petersburg Mathematik und Physik
zu studieren. Er tritt der Russischen Geographischen Gesellschaft bei, die
ihm zahlreiche Forschungsreisen ermöglicht. Den ihm angebotenen
Sekretärsposten lehnt er jedoch ab. Er hat längst andere Ziele.
Im Jahr 1872 erfüllt er sich seinen Traum von einer Europareise. In der
Schweiz kommt er mit der „Jura-Föderation“ in Kontakt, einer libertären,
antiautoritären Bewegung aus Uhrmachern, die ihre Arbeitsmittel selbst
organisieren. Dort begegnet er auch dem französischen Anarchisten und
Geografen [4][Élisée Reclus], der ihn so stark beeindruckt, dass sich
Kropotkin endgültig entschließt, Anarchist zu werden.
Zurück in Russland tritt er einem sozialistischen Geheimbund bei, wird aber
bald darauf verraten und verhaftet. Im Gefängnis erkrankt er an Skorbut und
kommt daraufhin ins Militärhospital, das nur unzureichend bewacht wird.
Mithilfe zahlreicher Helfer, die eine Kutsche organisieren, kann er im
Sommer 1876 fliehen. Über Finnland, England und die Schweiz gelangt er nach
Frankreich. Dort wird er allerdings mit einer Anschlagsserie von
streikenden Bergarbeitern in Verbindung gebracht und erneut verhaftet.
Wieder erkrankt er an Skorbut, wieder einmal retten ihn Verbündete. Der
britische Evolutionsforscher Alfred Russel Wallace und der französische
Schriftsteller Victor Hugo setzten sich öffentlich dafür ein, dass er
vorzeitig freikommt.
Nach der Entlassung im Januar 1886 zieht Kropotkin nach London, wo er seine
größte Schaffenszeit erlebt. Im Jahr 1892 erscheint „Die Eroberung des
Brotes“, in dem er die Abschaffung des Staates und der Lohnarbeit fordert.
Darin versucht er, die anarchistische Theorie nicht wirtschaftlich, sondern
naturwissenschaftlich zu begründen. Die Grundlagen liefern ihm seine
Beobachtungen unter den Einheimischen Sibiriens und deren
Selbstorganisation. Seine zentrale Forderung lautet: „Wohlstand für alle!“
Im Jahr 1902 vollendet er sein wohl bedeutendstes Buch: „Gegenseitige Hilfe
in der Tier- und Menschenwelt“, seine Antwort auf den Sozialdarwinismus.
Den damals weit verbreiteten Glauben an einen natürlich bedingten „Kampf
ums Dasein“ sieht er als eine Drohung gegen Schwächere an. „Für die
fortschrittliche Entwicklung der Art“, schreibt Kropotkin, sei die
„gegenseitige Hilfe“ hingegen „weit wichtiger“. Nach der Februarrevolut…
1917 und dem Zusammenbruch des Zarenreiches kehrt er in seine Heimat
zurück. Bei seiner Ankunft in Moskau empfangen ihn Zehntausende.
„Er konnte mit allen umgehen, mit Adeligen wie mit Bettlern“, sagt
Seyferth. „Und er wusste, wovon er sprach, schließlich hatte er für seine
Überzeugungen im Knast gesessen. Er hatte, was man heute als Street
Credibility bezeichnen würde.“
Die russische Übergangsregierung will diese Popularität nutzen und bietet
ihm den Posten des Bildungsministers an. Doch Kropotkin lehnt ab, weil er
kein Staatsdiener sein will. Stattdessen macht er sich unter den
aufstrebenden Bolschewiken unbeliebt. Er beklagt die Entwicklung des
Kommunismus unter Lenin, prangert die Zentralisierung des Staates und das
brutale Vorgehen gegen Dissidenten an.
Während zahlreiche seiner Mitstreiter in dieser Zeit politischen
Säuberungen zum Opfer fallen, bleibt Kropotkin trotz seiner öffentlichen
Kritik unbehelligt. Wahrscheinlich rettet ihm seine Beliebtheit in der
Bevölkerung das Leben. So ist ihm ein natürlicher Tod vergönnt. Er stirbt
am 8. Februar 1921 in Dmitrow bei Moskau im Alter von 78 Jahren. Anlässlich
seiner Beisetzung gewährt die Regierung zahlreichen inhaftierten
Anarchisten für einen Tag Freigang. Wie schon bei seiner Ankunft vier Jahre
zuvor kommen erneut Zehntausende zusammen. Der Trauerzug, der schließlich
seinem Sarg folgt, gilt heute als die größte Versammlung in der Geschichte
des russischen Anarchismus.
Obwohl er heute weitgehend vergessen ist, hat er doch Spuren hinterlassen;
die Liste seiner Anhänger ist lang: Chinas kommunistischer Führer Mao
Zedong zählte anfangs dazu; Mahatma Gandhi bezog sich in seinen Plänen für
ein postkoloniales Indien auf Kropotkin. Und auch die israelischen
Kollektive der Kibbuze nahmen Anleihen bei ihm. „Realpolitisch hat er den
US-Sozialisten [5][Murray Bookchin] beeinflusst, vor allem was die Aspekte
der Selbstverwaltung und -organisation angeht“, sagt Seyferth. Auf
Bookchins „libertären Kommunalismus“ wiederum stütze sich das Modell des
Demokratischen Konföderalismus des Kurdenführers Abdullah Öcalan.
Weniger gefallen hätte Peter Kropotkin wohl die Evolution des Begriffs
„Wohlstand für alle“. Kropotkin hatte ihn einst von dem französischen
Utopisten Étienne Cabet übernommen und zum zentralen Leitsatz seines Buches
„Die Eroberung des Brotes“ gemacht. Im Jahr 1957 griff ihn der damalige
Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard auf und warb damit für seine
Vorstellung von der sozialen Marktwirtschaft. Welche Ironie.
8 Feb 2021
## LINKS
[1] https://m.tagesspiegel.de/gesellschaft/david-graeber-im-tagesspiegel-interv…
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Pagenkorps_(Russland)
[3] https://www.facebook.com/watch/?v=301559873643543
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89lis%C3%A9e_Reclus
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Murray_Bookchin
## AUTOREN
Jan Mohnhaupt
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