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# taz.de -- Vor 75 Jahren ermordet: Der ernsthafte Bohemien
> Erich Mühsam war Dichter und Zeitschriftenherausgeber, Anarchist und ein
> engagierter Gegner der Nationalsozialisten. Die ermordeten den in Lübeck
> Aufgewachsenen.
Bild: Steckte jede noch so große Enttäuschung weg: Erich Mühsam um 1922.
Erich Mühsam verkörpert den Idealtypus jener Künstlergeneration, die Anfang
des 20. Jahrhunderts aufbrach, um gegen den Autoritätskult, die Bigotterie
und Verlogenheit der wilhelminischen Gesellschaft zu rebellieren. Die
Parole hatte der schwedische Dichter August Strindberg ausgegeben:
"Verwildern / und eine neue Welt erschaffen." Mühsam hat in dieser Hinsicht
wenig ausgelassen und es damit vom Kaffeehausliteraten zur moralischen
Instanz der Weimarer Republik gebracht. In der Nacht vom 9. zum 10. Juli
1934 - heute vor 75 Jahren - wurde er im KZ Oranienburg ermordet.
Stets umwittert von einer filouhaften Unbehaustheit fand Mühsam seine
geistige Heimat in der Boheme. Assoziationen an das pittoreske
Kreativenbiotop der gleichnamigen Puccini-Oper sind allerdings Fehl am
Platz: Nüchtern definierte Mühsam selbst das Milieu als "gesellschaftliche
Absonderung künstlerischer Naturen, denen die Bindung an Konventionen und
die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und öffentlichen Ordnung nicht
entspricht".
Für ihn war der Boheme-Begriff mithin eine ernste Sache, befeuert und
gedüngt von einem Gefühlsanarchismus, der ein bis heute einmaliges
Kabinettstück darstellt: die Anarchisten Bakunin, Kropotkin und Landauer,
verschmolzen mit dem Radikalindividualismus Stirners - und einer guten
Portion Outlaw-Romantik.
Erste Hilfe beim Versuch, sich dem kleinbürgerlichen Patronat des jüdischen
Apothekerhaushaltes zu entziehen, leisten Kleist, Goethe und Jean Paul, die
der junge Mühsam heimlich aus dem Bücherschrank klaubt. Mit elf beginnt er
Tierfabeln und Gedichte zu schreiben, mit 16 ist er Profi und poliert die
Couplets eines lokalen Varieté-Komikers (Wochenlohn: drei Mark).
Seine nächste Veröffentlichung macht mehr Furore: Als der Gymnasiast
Berichte über schulinterne Vorgänge im sozialdemokratischen Lübecker
Volksboten lanciert, relegiert man ihn "wegen sozialistischer Umtriebe" von
der Schule. Nach dem Abitur, das er im mecklenburgischen Parchim ablegt,
geht Mühsam nach Berlin, das gerade seine "imperial-byzanthinische
Spätblüte" (Walter Delabar) erlebt. Ein typisches Produkt dieser Zeit ist
die Künstlerkolonie "Neue Gemeinschaft": Man liest Nietzsche und Stirner,
schwebt durch den Tag und hasst die spießige SPD. Die Kluft zwischen
Künstler und Proletariat soll überwunden werden durch
"Lebensgemeinschaften, die eine allbeglückende Kultur in sozialer,
ethischer und ästhetischer Beziehung ermöglichen". Hier erfährt Mühsam, so
beglückt wie benebelt von der "gonghaft schallenden Prosa" seine
künstlerische Sozialisation.
Aber die Wirkung hält nicht lange an. Als ihm aufgeht, dass die Kommunarden
abends vom "kosmischen ,Welt-Ich' faseln", während der Zirkel "der
Auserwählten" tagsüber in einen florierenden Pensionsbetrieb verwandelt
wird, packt er die Koffer. Denn, so schreibt er: "Weihe in Permanenz
schafft Narren, Zeloten und Spekulanten." Was er mitnimmt, ist das Programm
einer naturalistischen, sozial engagierten Literatur und den Kontakt zu
Autoren wie Max Reinhardt, Bruno Wille, Else Lasker-Schüler, Paul
Scheerbart, Peter Hille und dem Pazifisten und anarchistischen Theoretiker
Gustav Landauer, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbindet.
Landauers programmatische Schrift "Durch Absonderung zur Gemeinschaft" die
den Siedlungsgedanken der Neuen Gemeinschaft aufnimmt, liest Mühsam "fünf-,
sechsmal hintereinander" und ist "überwältigt und mit Klarheit erfüllt". So
gerüstet reist er 1904 erstmals an den Lago Maggiore, wo eine
lebensreformerische Kolonie den Monte Verità besetzt hält. Mühsam "spielt
den Naturmensch", stelzt "barfüßig herum" und lebt nur von Salat, weil er
glaubt, hier "sei der geeignete Ort, um eine kommunistische
Siedlungsgenossenschaft in großem Maßstab zu versuchen", schreibt er in der
Broschüre "Ascona".
Dann aber hat er ein Déjà-vu: Damen, die die geistigen Höhenflüge "im
Kochtopf und Waschfass" ersäuften, "ethische Wegelagerer mit ihren
spiritistischen, theosophischen, okkultistischen und potenziert
vegetarischen Sparren" und pure Geschäftemacherei - diesmal ein Sanatorium
für bessere Kreise. "Zuletzt wurde der Vegetarismus zu einer
menschheitsbefreienden Idee aufgepustet, und als die Beteiligten aus dieser
recht irrelevanten Weltanschauung heraus ihre sozialen Träume nicht
verwirklichen konnten, versuchte man es mit der ganz unmöglichen
Verquickung eines ethischen Prinzips mit einem kapitalistischen
Spekulationsunternehmen. Wie in solchen Fällen immer, mußte die Ethik den
kürzeren ziehen."
Wem das bekannt vorkommt, der darf die prophetischen Gaben Mühsams rühmen
und sich wundern über den "grenzenlosen Enthusiasmus", der ihn jede noch so
große Enttäuschung wegstecken lässt. Nach dem Schweizer Reinfall schreibt
er den "Gesang der Vegetarier" - Refrain: "Wir hassen das Fleisch, ja, wir
hassen das Fleisch / und die Milch und Eier und lieben keusch" -, dann
bestellt er ein Kotelett und geht zurück nach München, um den mythischen
Rebellen Kain zu reanimieren. Er gründet die Zeitschrift gleichen Namens
und versucht mit der Aura des alttestamentarischen Outlaws das
Lumpenproletariat zu missionieren. Es wird genauso ein Desaster wie sein
Engagement in der Räterepublik, als er vergeblich versucht, die
selbstzerstörerischen Lagerkämpfe der Revolutionäre zu beenden. Auch die
projektierte Karriere als ernsthafter Lyriker bleibt auf halbem Wege
stecken. Es nietzscht und trakelt eher epigonal, wenn dem "Pilger", gern
auch dem "einsamen Wanderer", das "Grauen aus blutigen Seen" entgegensteigt
oder "ein alter kalter Leichnam (…) an einem Telegrafenmast / Nach seinen
Schlenkerbeinen fasst". Seine Agitationsgedichte hat Mühsam selbst "
gereimte Leitartikel" genannt.
Aber er kann auch anders. Zum Beispiel schöne Knittelverse ("Mit einem
starken Schweden ringen / Ist nicht so leicht wie Reden schwingen"),
maliziöse Abhandlungen ("Zur Naturgeschichte des Wählers") und funkelnde
Couplets, ein "alkoholisches Trinklied gewidmet den Sozialdemokraten". Oder
erstklassige Balladen wie den "Kleinen Roman": "Sie lernte Stenographin. /
Er war Engros-Kommis. / Im Speisewagen traf ihn / ein Blick. Er liebte sie.
/ Auf einer Haltestelle / brach man die Reise ab, / wo selbst er im Hotelle
/ sie als sein Weib ausgab. / Nicht viel, das man sich fragte. / Doch
küßten sie genug. / Und als der Morgen tagte, / ging schon der nächste Zug.
/ Nach einer kurzen Stunde fand ihre Fahrt den Schluß. Er nahm von ihrem
Munde noch einen heißen Kuß. / Er sah sie schnupftuchwinkend / noch stehn
zum letztenmal, / und in sein Auge blinkend/ sich eine Träne stahl. / Er
soll sie heut noch lieben. / Sie war so drall und jung. / Ihr ist ein Kind
geblieben / und die Erinnerung."
Einlagen dieser Art machen ihn in Etablissements wie dem Münchner
"Simplizissimus" neben Ringelnatz, Wedekind und Ludwig Scharf zum
Brettl-Star. Ausdruck der kollegialen Wertschätzung ist der Spott: "Was ist
der Unterschied zwischen Mühsam und Scharf?" - "Scharf dichtet mühsam und
Mühsam dichtet scharf". Dem ist nichts hinzuzufügen.
9 Jul 2009
## AUTOREN
Michael Quasthoff
## TAGS
Anarchismus
Novemberrevolution 1918
Rosa Luxemburg
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